Böser Wolf (eBook)
480 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0308-6 (ISBN)
Nele Neuhaus, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, heute ist sie die erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands. Außerdem schreibt die Pferdeliebhaberin Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 30 Ländern. Vom Polizeipräsidenten Westhessens wurde Nele Neuhaus zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt.
Nele Neuhaus, geboren 1967 in Münster/Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman "Schneewittchen muss sterben" brachte ihr den großen Durchbruch, seitdem gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen Deutschlands. Ihre Romane wurden bisher in 20 Länder verkauft. neleneuhaus.de ullstein.de/neuhaus
Freitag, 11. Juni 2010
Hanna Herzmann hatte schlecht geschlafen. Ein Alptraum hatte den nächsten gejagt, einmal hatte Vinzenz als Gast in ihrer Sendung gesessen und sie vor laufender Kamera bis auf die Knochen blamiert, dann hatte Norman sie bedroht und sich im Traum plötzlich in jenen Mann verwandelt, der sie über Monate hinweg gestalkt hatte, bis er von der Polizei aus dem Verkehr gezogen worden und als Wiederholungstäter für zwei Jahre im Gefängnis gelandet war.
Um halb sechs war sie schließlich aufgestanden, hatte sich unter der Dusche den klebrigen Angstschweiß von der Haut gespült und saß nun mit einer Tasse Kaffee am Computer. Wie befürchtet war das Internet voll mit der blöden Geschichte.
Verdammt! Hanna massierte mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenwurzel. Falls es für eine Schadensbegrenzung nicht längst zu spät war, so musste sie schnell geschehen, bevor sich weitere unzufriedene Gäste ihrer Sendung anspornen ließen, dasselbe zu tun wie Armin V. und Bettina B. Nicht auszudenken, was das für Kreise ziehen konnte! Auch wenn ihre Sendung im Augenblick noch nicht akut bedroht war, so würde die Geschäftsleitung des Senders nicht ewig hinter ihr stehen. Es war zu früh, um bei Wolfgang anzurufen, deshalb beschloss sie, sich bei einer Joggingrunde auf andere Gedanken zu bringen. Beim Laufen konnte sie am besten nachdenken. Sie zog ihre Sportkleidung an, band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz und schlüpfte in die Laufschuhe. Früher war sie jeden Tag gelaufen, doch seit ihre Fußprobleme schlimmer geworden waren, hatte sie damit aufgehört.
Die Luft war noch frisch und klar. Hanna atmete tief ein und aus und machte ein paar Dehnübungen auf den Treppenstufen vor der Haustür, dann stöpselte sie ihren iPod ein und suchte nach der Musik, auf die sie jetzt Lust hatte. Sie ging die Straße hinunter bis zur Ecke, an der sich der Parkplatz befand, bog in den Wald ein und begann zu laufen. Jedes Abrollen tat höllisch weh, aber sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, weiterzulaufen. Schon nach ein paar hundert Metern hatte sie Seitenstechen, lief trotzdem weiter. Sie würde nicht aufgeben. Hanna Herzmann gab niemals auf! Gegenwind und Probleme betrachtete sie schon ihr ganzes Leben lang als Herausforderung und Ansporn, nicht als Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Und Schmerzen waren eine rein mentale Angelegenheit, von der man sich nicht beeindrucken lassen durfte. Wäre sie anders gewesen, so hätte sie niemals eine solche Karriere gemacht, wäre nie und nimmer so erfolgreich geworden. Ehrgeiz, Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen – diese Charaktereigenschaften ließen sie auch in harten Zeiten nie verzagen.
Mit ihrem Reportagemagazin Auf Herz und Nieren hatte Hanna vor vierzehn Jahren ein völlig neues, revolutionäres Format entwickelt, das in der deutschen Fernsehlandschaft für Furore und Traumquoten gesorgt hatte. Das Konzept war so einfach wie genial: Eine breitgefächerte Mischung von brisanten und aktuellen Ereignissen, die die Menschen im Land bewegten, dazu persönliche Schicksale, menschliche Dramatik, garniert mit prominenten Gästen, und das alles in neunzig Minuten zur besten Sendezeit, etwas Vergleichbares hatte es bis dato nicht gegeben. Mit dem Erfolg kamen die Nachahmer, aber keine ähnlich konzipierte Sendung war so populär wie ihre. Ihre Medienpräsenz hatte einige durchaus lukrative Nebeneffekte: Sie gehörte zu den bekanntesten Fernsehgesichtern, war überall gefragt. Wenn das Honorar stimmte, moderierte sie Galas und Preisverleihungen, entwickelte Ideen und Konzepte für andere Sendeformate und ließ sich das gut bezahlen. Vor zehn Jahren hatte sie die Herzmann production gegründet und produzierte ihre Sendung mittlerweile selbst.
Die Schattenseite des beruflichen Erfolgs war ihr verkorkstes Privatleben. Offenbar gab es keinen Mann, der es an ihrer Seite aushielt. Meikes Worte von gestern Abend schossen Hanna durch den Kopf. Stimmte das? War sie ein Panzer, der alle anderen Menschen niederwalzte?
»Und wenn schon«, murmelte sie mit einem Anflug von Trotz. So war sie eben. Sie brauchte keinen Mann in ihrem Leben.
An der ersten Kreuzung im Wald entschied sie sich für den längeren Weg und bog nach rechts ab. Ihre Atmung normalisierte sich, ihre Schritte wurden elastischer. Sie hatte ihren Laufrhythmus gefunden und spürte die Schmerzen kaum noch. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie gleich ganz verschwunden sein würden, noch ein paar Minuten, bis ihr Körper die Endorphine ausschüttete, die Schmerz und Erschöpfung ausschalteten. Nun konnte sie ihre Gedanken um ihr Problem kreisen lassen und die Natur genießen. Den würzigen Geruch, den der Wald nur in den frühen Morgenstunden ausströmte, den federnden Boden, der so viel angenehmer zu laufen war als Asphalt. Es war kurz nach sieben, als sie den Waldrand erreichte und die weiße Kuppel des Baha’i-Tempels in der bereits hoch am Himmel stehenden Sonne leuchten sah. Obwohl sie lange nicht gelaufen war, keuchte sie noch nicht. Ihre Kondition war nicht völlig verschwunden. Zwanzig Minuten benötigte sie für den Rückweg wieder quer durch den Wald bis zur Wochenendhaussiedlung, wie der Teil von Langenhain genannt wurde, in dem ihr Haus stand. Sie war schweißgebadet, als sie in Schritt fiel, doch diesmal war es angenehmer, ehrlicher Sportschweiß, kein Angstschweiß wie letzte Nacht. Und sie hatte auch eine Strategie entwickelt, die sie beim Mittagessen später mit Wolfgang besprechen würde. Hanna zog die Ohrstöpsel aus den Ohren und kramte in der Tasche ihrer Laufjacke nach dem Haustürschlüssel. Im Vorbeigehen streifte sie mit einem flüchtigen Blick ihr Auto, das sie gestern Abend nicht mehr in die Garage gestellt, sondern neben Meikes Mini stehen gelassen hatte.
Was war das denn?
Hanna traute ihren Augen nicht. Alle vier Reifen ihres schwarzen Panamera waren platt! Sie wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und ging näher heran. Ein platter Reifen konnte noch ein Zufall sein, nicht aber alle vier. Doch erst als sie das Auto genauer betrachtete, sah sie das Schlimmste. Sie erstarrte. Ihr Herz begann zu rasen, ihre Knie wurden weich und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, Tränen des hilflosen Zorns. Jemand hatte in den glänzend schwarzen Lack der Kühlerhaube ein Wort geritzt. Ein einziges Wort, brutal und unmissverständlich, in großen ungelenken Buchstaben. FOTZE.
*
Bodenstein stellte eine Tasse unter den Auslauf des Kaffeeautomaten und drückte auf den Knopf. Das Mahlwerk rasselte, Sekunden später zog köstlicher Kaffeeduft durch die winzige Küche.
Inka hatte ihn um kurz nach Mitternacht nach Hause gefahren. Er hatte beim Pizzaessen das Gespräch fast alleine bestritten, aber das war ihm erst aufgefallen, als sie ihn auf dem Parkplatz vor dem Kutscherhaus abgesetzt hatte. Seitdem sie das Haus besichtigt hatten, war Inka so wortkarg gewesen wie selten, und Bodenstein fragte sich, ob er irgendetwas gesagt oder getan hatte, was sie verärgert haben könnte. Hatte er sich nicht angemessen bei ihr bedankt, dafür, dass sie ihn am Flughafen abgeholt und sich um die Schlüssel für das Haus gekümmert hatte? In seiner Euphorie über das befreite Gefühl, mit dem er aus Potsdam zurückgekehrt war, hatte er tatsächlich den ganzen Abend nur über und von sich und seinen Befindlichkeiten gesprochen. Das war eigentlich gar nicht seine Art. Bodenstein beschloss, Inka später anzurufen und sich dafür zu entschuldigen.
Er trank den Kaffee aus und zwängte sich in das winzige fensterlose Badezimmer, das er nach dem beinahe luxuriösen Bad in dem Potsdamer Hotel als noch dunkler und enger empfand als sonst.
Es war wirklich höchste Zeit, endlich wieder ein richtiges Zuhause zu haben – eigene Möbel, ein anständiges Badezimmer, eine Küche mit mehr als nur zwei Kochplatten. Die zwei Zimmer im Kutscherhaus mit den niedrigen Decken, den Fensterchen, die kaum größer waren als Schießscharten und den Türrahmen in Zwergenhöhe, an denen er sich ständig den Kopf stieß, hatte er satt. Genauso, wie er es satthatte, als Gast bei seinen Eltern und seinem Bruder zu wohnen, zumal er wusste, dass seiner Schwägerin ein zahlender Mieter für das Kutscherhaus sehr viel lieber wäre als ein Verwandter, der nur für die Umlagen aufkam. Immer wieder fragte sie ganz unverblümt, wann er denn endlich ausziehen würde, und neuerdings tauchte sie sogar regelmäßig mit potentiellen Mietern auf.
Im kümmerlichen Lichtschein der 40-Watt-Birne über dem Spiegel rasierte Bodenstein sich mehr schlecht als recht. Tatsächlich war das Haus, das er gestern mit Inka besichtigt hatte, die ganze Nacht in seinen Träumen herum gespukt. Heute Morgen, im Halbschlaf, hatte er es im Geiste eingerichtet. Sophia würde ihr eigenes Zimmer haben und ganz in seiner Nähe wohnen, und er konnte endlich wieder einmal Besuch empfangen. Das Haus in Kelkheim war so gut wie verkauft, nächste Woche war der Notartermin mit den Käufern. Mit der Hälfte des Geldes konnte er sich die Doppelhaushälfte in Ruppertshain sicherlich leisten.
Draußen polterte es, er hörte Stimmen. Ein zweiter Kaffee brachte seine Lebensgeister in Schwung. Er stellte die Tasse in die Spüle, ergriff sein Jackett und nahm die Autoschlüssel vom Schlüsselbrett neben der Haustür. Auf dem Parkplatz luden Arbeiter der Stadt Kelkheim Absperrgitter von ihren orangefarbenen Lkw und ihm fiel ein, dass heute Abend ein Jazzkonzert im Hof stattfinden sollte. Regelmäßig mietete die Stadt den historischen Gutshof für kulturelle Veranstaltungen, und Bodensteins Eltern kam das Geld nicht ungelegen. Bodenstein schloss die Haustür ab und nickte auf dem Weg zu seinem Auto den...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2012 |
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Reihe/Serie | Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi | Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bodenstein • Dorf • Dorfkrimi • Ermittler • Ermittlung • Felicitas Woll • Fernsehserie • Frankfurt • Gegenwart • Hessen • Horror • Kirchhoff • Krimi • Kriminalroman • Krimiserie • Leiche • Mord • Polizei • Polizeiarbeit • Provinzkrimi • Regionalkrimi • spiegel bestseller • spiegel bestsellerliste • spiegelliste • Taunus • Thriller • Tim Bergmann • verfilmt • ZDF |
ISBN-10 | 3-8437-0308-6 / 3843703086 |
ISBN-13 | 978-3-8437-0308-6 / 9783843703086 |
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