Lasset die Kinder zu mir kommen (eBook)
368 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60075-9 (ISBN)
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Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
[7] 1
»…und dann hat meine Schwiegertochter mich bekniet, damit ich in die Questura komme und es Ihnen melde. Ich wollte eigentlich nicht, und mein Mann sagte, ich wär schön blöd, wenn ich mich mit Ihnen einließe, weil das nur Scherereien brächte, und davon hätte er im Moment weiß Gott genug. Es würde genauso enden wie damals, hat er mir prophezeit, als der Nachbar von seinem Onkel dem die ENEL-Leitung angezapft und ihm den Strom geklaut hatte. Der Onkel hat die Polizei alarmiert, aber als die dann kam, haben sie ihm gesagt, er muß –«
»Verzeihen Sie, Signora, aber könnten wir wieder auf das zurückkommen, was letzten Monat passiert ist?«
»Ja doch, natürlich, es ist nur so, daß er, also der Onkel, am Ende um dreihunderttausend Lire ärmer war.«
»Signora!«
»Also meine Schwiegertochter hat gesagt, wenn ich’s nicht mache, dann würde sie selber anrufen. Und da schließlich ich diejenige war, die’s gesehen hat, ist es wohl besser, Sie hören’s von mir, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»Ja, und als das Radio heute morgen Regen ansagte, da habe ich Schirm und Stiefel an der Tür bereitgestellt, für alle Fälle. Aber dann hat’s doch nicht geregnet, stimmt’s?«
»Nein, Signora. Aber wollten Sie mir nicht von ungewöhnlichen Vorkommnissen berichten, die Sie in der Wohnung gegenüber beobachtet haben?«
[8] »Ja, dieses Mädchen.«
»Was für ein Mädchen, Signora?«
»Na, das junge Ding, die Schwangere.«
»Wie jung war sie Ihrer Meinung nach, Signora?«
»Ach, siebzehn vielleicht, oder etwas älter, kann aber auch jünger gewesen sein. Ich habe zwei Söhne, wissen Sie. Also wenn’s ein Junge gewesen wäre, hätte ich mich ausgekannt, aber es war nun mal ein Mädchen.«
»Und Sie sagten, daß die junge Frau schwanger war, Signora?«
»Ja, und stand kurz vor der Geburt. Darum habe ich’s ja meiner Schwiegertochter erzählt, und die meinte, ich müsse kommen und es Ihnen melden.«
»Daß sie schwanger war?«
»Daß sie entbunden hat.«
»Aber wo denn, Signora?«
»Na, gleich bei mir gegenüber, in unserer calle. Also natürlich nicht draußen auf der Gasse, sondern in der Wohnung auf der anderen Straßenseite. Von mir aus liegt die ein wenig versetzt, eigentlich schon auf der Höhe vom Nebenhaus, aber weil das Gebäude ein bißchen vorsteht, kann ich in die Fenster schauen, und da habe ich sie gesehen.«
»Wo ist das genau, Signora?«
»Calle dei Stagneri. Kennen Sie bestimmt. In der Nähe von San Bortolo, die calle, die zum Campo della Fava führt. Ich wohne auf der rechten Seite, und das Mädchen war links, auf derselben Seite wie die Pizzeria, nur, genau wie ich, weiter unten, schon fast an der Brücke. Früher gehörte die Wohnung einer alten Frau – ihren Namen weiß ich nicht mehr –, aber als die gestorben war, erbte ihr Sohn, [9] und der vermietet die Räume unter der Hand, wochen- oder monatsweise: an Ausländer, wie das heute so üblich ist, Sie wissen ja.
Als das Mädchen drüben auftauchte und ich sah, daß sie schwanger war, dachte ich, er würde jetzt vielleicht offiziell vermieten, also mit Vertrag und allem Drum und Dran. Und wenn die Kleine ein Kind bekam, dann war sie doch wohl eine von uns und keine Touristin, oder? Kurzfristig zu vermieten rentiert sich allerdings bestimmt mehr, besonders an Ausländer. Und dann spart man sich ja auch die…
Oh, tut mir leid. Das gehört wohl nicht hierher, wie? Also wie ich schon sagte, sie war schwanger: Deshalb dachte ich zuerst, er hat vielleicht an ein junges Paar vermietet, bis ich feststellte, daß nie ein Mann bei ihr war.«
»Und die junge Frau, wie lange hat sie denn dort gewohnt, Signora?«
»Oh, höchstens eine Woche. Aber lange genug, daß ich ihre Gewohnheiten kennenlernen konnte.«
»Und könnten Sie mir die schildern?«
»Ihre Gewohnheiten?«
»Ganz recht.«
»Nun ja, allzuoft habe ich sie nicht gesehen. Nur wenn sie am Fenster vorbei in die Küche ging. Nicht, daß sie je was gekocht hätte, zumindest habe ich nichts davon mitbekommen. Aber ich kenne ja die übrige Wohnung nicht; keine Ahnung, was sie dort gemacht hat. Ich vermute mal, sie hat einfach gewartet.«
»Gewartet?«
»Ja, auf das Baby. Kinder entscheiden selbst, wann sie zur Welt kommen.«
[10] »Ich verstehe. Hat die junge Frau Sie denn je bemerkt, Signora?«
»Nein. Ich habe Vorhänge, wissen Sie, aber da drüben gibt’s keine. Die calle ist ja auch so dunkel, daß man sich eigentlich nicht gegenseitig in die Fenster schauen kann. Doch vor etwa zwei Jahren oder wann immer es war, haben sie eine dieser neumodischen Straßenlaternen genau bei uns gegenüber aufgestellt, und seitdem ist es dort nachts immer ganz hell. Ich weiß nicht, wie die Leute das ertragen. Wir schlafen bei geschlossenen Fensterläden, aber wenn man keine hat, kann ich mir nicht vorstellen, wie man so seine Nachtruhe findet, Sie vielleicht?«
»Keine Ahnung, Signora. Sie sagten, Sie hätten den mutmaßlichen Ehemann nie gesehen. Aber waren vielleicht irgendwann andere Personen bei der jungen Frau drüben?«
»Manchmal. Allerdings immer nur nachts. Na ja, so nach dem Abendessen, auch wenn ich sie, wie gesagt, nie habe kochen sehen. Aber irgendwas muß sie sich wohl gemacht haben, oder? Es sei denn, sie bekam die Mahlzeiten geliefert. Schwangere müssen schließlich essen. Also ich habe geschlungen wie ein Wolf, als meine Jungs unterwegs waren. Deshalb bin ich sicher, daß auch sie gegessen hat, bloß habe ich sie eben nie kochen sehen. Aber man kann eine schwangere Frau nicht einfach in irgendeiner Wohnung abstellen, ohne sie zu verköstigen, oder?«
»Gewiß nicht, Signora. Und wen haben Sie nun bei der jungen Frau in der Wohnung beobachtet?«
»Manchmal kamen abends Männer, setzten sich um den Küchentisch und redeten. Bei offenem Fenster, weil sie geraucht haben.«
[11] »Wie viele Männer, Signora?«
»Drei. Sie saßen in der Küche am Tisch, unter der Lampe, und unterhielten sich.«
»Auf italienisch, Signora?«
»Lassen Sie mich nachdenken. Ja, sie haben italienisch gesprochen, aber es waren keine von uns. Keine Venezianer, meine ich. Den Dialekt habe ich zwar nicht erkannt, aber Veneziano war es auf keinen Fall.«
»Und diese Männer haben einfach nur dagesessen und geredet?«
»Ja.«
»Und die junge Frau?«
»Die habe ich nie gesehen, wenn die Männer da waren. Manchmal kam sie hinterher – nachdem die drei gegangen waren – in die Küche, vielleicht um sich ein Glas Wasser zu holen. Zumindest sah ich sie dann am Fenster.«
»Aber Sie haben nicht mit ihr gesprochen?«
»Nein. Ich hatte, wie gesagt, nie mit ihr oder diesen Männern zu tun. Ich habe die Kleine nur beobachtet und gehofft, sie würde tüchtig essen. Als ich mit Luca und Pietro schwanger war, da habe ich andauernd gegessen; ständig hatte ich so einen Heißhunger. Zum Glück habe ich aber nie übermäßig zugenommen, so daß –«
»Haben die Männer drüben gegessen, Signora?«
»Wie bitte? Nein, also ich kann mich nicht erinnern. Komisch nicht, jetzt, wo Sie mich drauf bringen? Getrunken haben sie auch nichts. Saßen bloß da und redeten, als ob sie auf ein Vaporetto warten würden oder so. Wenn sie weg waren, ging das Mädchen manchmal in die Küche, doch sie hat nie Licht gemacht. Das war schon merkwürdig: Sie hat [12] nachts nie Licht gemacht, in der ganzen Wohnung nicht, soweit ich es mitbekam. Die Männer sah ich abends am Küchentisch sitzen, aber das Mädchen habe ich nur bei Tag gesehen und nachts höchstens dann, wenn sie mal an einem Fenster vorbeiging.«
»Und was geschah dann weiter?«
»Eines Nachts hörte ich sie ganz laut rufen, aber ich habe nichts verstanden. Eins der Wörter war vielleicht mamma, doch sicher bin ich mir nicht. Und dann hörteich ein Baby schreien. Sie wissen, wie ein Neugeborenes klingt? Das ist mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Ich weiß noch genau, als Luca zur Welt kam…«
»War sonst noch jemand dort?«
»Was? Wann?«
»Bei der Geburt.«
»Also gesehen habe ich niemanden, wenn Sie das meinen, aber irgend jemand muß dagewesen sein. Man kann so ein junges Ding schließlich nicht mutterseelenallein entbinden lassen, nicht wahr?«
»Haben Sie sich seinerzeit mal gefragt, Signora, warum das Mädchen allein dort wohnte?«
»Oh, ich weiß nicht. Ich dachte wohl, ihr Mann würde irgendwo auf dem Festland arbeiten oder sie hätte vielleicht gar keinen. Ja, und dann kam das Kind vermutlich so schnell, daß sie es nicht mehr ins Krankenhaus geschafft hat.«
»Aber die Klinik ist doch nur ein paar Minuten von dort entfernt, nicht wahr, Signora?«
»Ich weiß, ich weiß. Doch es kommt schon mal vor, daß es einschlägt wie der Blitz. Meine beiden Söhne haben sich [13] ja viel Zeit gelassen, aber ich weiß von Frauen, bei denen hat’s nur eine halbe oder höchstens eine Stunde gedauert. Also dachte ich, bei ihr sei’s auch so schnell gegangen. Jedenfalls hörte ich erst sie, gleich darauf das Baby, und danach war alles still.«
»Und was geschah dann, Signora?«
»Am Tag darauf oder vielleicht auch erst am übernächsten – ich erinnere mich nicht mehr – sah ich eine andere Frau am offenen Fenster stehen und in ein telefonino sprechen.«
»Auf italienisch, Signora?«
»Auf italienisch? Warten Sie –...
Erscheint lt. Verlag | 21.2.2012 |
---|---|
Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Christa E. Seibicke |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Suffer the Little Children |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Adoption • Babyhandel • Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Guido • illegale Adoption • Italien • Kinderarzt • Kinderwunsch • Krimi • Privatklinik • Venedig |
ISBN-10 | 3-257-60075-5 / 3257600755 |
ISBN-13 | 978-3-257-60075-9 / 9783257600759 |
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