Wie durch ein dunkles Glas (eBook)
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60071-1 (ISBN)
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
[7] 1
Brunetti stand am Fenster und flirtete mit dem Frühling. Er war da! Gleich drüben, am anderen Ufer des Kanals, zeigte er sich in den frischen, jungen Trieben, die dort aus der Erde spitzten. In all den Jahren hatte Brunetti nie jemanden in dem Garten arbeiten sehen, und doch mußte während der letzten Tage irgendwer den Boden aufgelockert haben, auch wenn ihm das erst jetzt auffiel. Zwischen den Grashalmen schimmerten zartweiße Blümchen, und die unerschrockenen kleinen, die sich so dicht an den Boden schmiegten und deren Namen er sich nie merken konnte – die mit den gelben und rosafarbenen Blüten –,brachen aus dem frisch gewendeten Erdreich hervor.
Er stieß die Fensterflügel auf und ließ frische Luft in sein überheiztes Büro strömen. Sie duftete nach neuem Wachstum oder steigenden Säften oder was immer es war, das die sprichwörtlichen Frühlingsgefühle wachrief und jenes Urverlangen nach Glück. Und weil dieses Etwas auch die Würmer hervorgelockt hatte, waren anscheinend sogar die Vögel, die so eifrig drüben im Garten pickten, in Hochstimmung. Zwei von ihnen zankten sich um einen Leckerbissen, dann flog einer davon, und Brunetti sah ihm nach, bis er links hinter der Kirche verschwand.
»Verzeihung«, hörte er jemanden hinter sich sagen und setzte eine ernste Miene auf, bevor er sich umdrehte. Vor ihm stand Vianello in Uniform, er blinzelte nervös und wirkte viel zu streng für einen so schönen Tag. Angesichts [8] seiner dienstlich-steifen Haltung war Brunetti versucht, ihn mit Rang und Namen anzusprechen, obwohl sie sich seit Vianellos Beförderung zum Inspektor doch immer häufiger duzten. Unschlüssig vermied er die Anrede fürs erste und fragte höflich: »Ja, was gibt’s denn?«
»Hättest du wohl einen Moment Zeit?«
Wenn Vianello so umstandslos das vertrauliche tu benutzte und Brunetti auch nicht mit »Commissario« ansprach, war er wohl doch nicht dienstlich hier.
Um die Situation zu entspannen, sagte Brunetti: »Ich habe mir gerade die Blumen dort drüben angesehen« – er wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Garten – »und mich gefragt, was wir an einem Tag wie heute im Büro verloren haben.«
Da lächelte Vianello endlich. »Der erste Tag, an dem man den Frühling spürt. Da habe ich früher immer die Schule geschwänzt.«
»Ich auch«, schwindelte Brunetti. »Und womit hast du dir die Zeit vertrieben?«
Vianello setzte sich auf den rechten der beiden Besucherstühle, seinen angestammten Platz. »Mein älterer Bruder hat damals den Rialto beliefert, und statt in die Schule bin ich zu ihm auf den Markt, und wir haben den ganzen Vormittag Obst- und Gemüsekisten geschleppt. Um die Zeit, wenn normalerweise Unterrichtsschluß war, bin ich dann heim zum Mittagessen.« Er schmunzelte und lachte schließlich laut heraus. »Meine Mutter ist mir immer auf die Schliche gekommen. Wie, weiß ich nicht, aber sie fragte mich jedesmal, was am Rialto los gewesen sei und warum ich ihr keine Artischocken mitgebracht hätte.« [9] Kopfschüttelnd hing Vianello seinen Erinnerungen nach. »Und den Kindern ergeht es heute mit Nadia nicht anders: als ob sie ihre Gedanken lesen könnte und einfach weiß, wann sie den Unterricht geschwänzt oder etwas ausgefressen haben.« Er sah Brunetti an. »Kannst du dir erklären, wie sie das machen?«
»Wer? Mütter?«
»Ja.«
»Du hast es eben selbst gesagt, Lorenzo. Indem sie Gedanken lesen.« Und da die Atmosphäre nun hinreichend entspannt schien, fragte Brunetti ganz direkt: »Also, was führt dich zu mir?«
Schlagartig kehrte Vianellos anfängliche Nervosität zurück. Er stellte die übereinandergeschlagenen Beine nebeneinander, preßte die Knie zusammen und setzte sich kerzengerade hin. »Es handelt sich um einen Freund«, sagte er. »Er hat Probleme.«
»Womit?«
»Mit uns.«
»Der Polizei?«
Vianello nickte.
»Hier? In Venedig?«
Vianello schüttelte den Kopf. »Nein, in Mestre. Das heißt, eigentlich in Mogliano, aber sie wurden nach Mestre gebracht.«
»Wer, sie?«
»Na, die Leute, die man festgenommen hat.«
»Was denn für Leute?«
»Die vor der Fabrik.«
»Meinst du das Farbenwerk?« fragte Brunetti, der sich [10] an einen Artikel in der heutigen Morgenzeitung erinnerte.
»Ja.«
Der Gazzettino hatte auf der ersten Seite seines Innenteils groß über die Festnahme von sechs Personen berichtet, die am Vortag an einer Anti-Globalisierungsdemo vor einem Farbenwerk in Mogliano Veneto teilgenommen hatten. Die Fabrik war mehrmals wegen Mißachtung der Auflagen zur Giftmüllentsorgung gebührenpflichtig verwarnt worden, ohne daß dies etwas gefruchtet hätte, denn die Firma zahlte lieber die lächerlichen Bußgelder, als in neue Filtersysteme zu investieren. Die Demonstranten verlangten die Schließung des Werks und hatten versucht, die Arbeiter am Betreten des Geländes zu hindern. Dabei war es zu einem Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Werktätigen gekommen, der die Polizei auf den Plan rief und mit sechs Festnahmen endete.
»Gehört dieser Freund zur Belegschaft oder zu den No- Global-Aktivisten?« fragte Brunetti.
»Weder noch«, entgegnete Vianello und setzte dann hinzu: »Also er ist kein organisierter No-Global. Genausowenig wie ich.« Da ihm diese Erklärung offenbar selbst unzulänglich schien, atmete Vianello tief durch und begann noch einmal von vorn. »Marco und ich, wir sind zusammen zur Schule gegangen, aber danach hat er studiert und wurde Ingenieur. Er hat sich schon immer für die Umwelt interessiert, und bei Öko-Versammlungen und dergleichen sind wir uns dann auch wieder über den Weg gelaufen. Manchmal gehen wir im Anschluß an ein Treffen noch zusammen in die Bar.«
[11] Brunetti unterließ es, sich näher nach diesen Zusammenkünften zu erkundigen. Und der Inspektor fuhr fort: »Marco macht sich große Sorgen wegen der unsauberen Praktiken in diesem Werk. Und natürlich in Marghera. Ich weiß, daß er auch dort an Demos teilgenommen hat, aber mit so was wie gestern hatte er noch nie zu tun.«
»Was meinst du?«
»Na, die tätlichen Ausschreitungen.«
»Davon wußte ich gar nichts«, sagte Brunetti. Die Zeitung hatte nur über die Festnahmen berichtet, von Handgreiflichkeiten oder gar Prügeleien war nicht die Rede gewesen. »Was ist denn passiert?« erkundigte er sich. »Und wer hat angefangen?« Er wußte, was die Befragten darauf unweigerlich antworteten, egal, ob sie für sich selbst sprachen oder für ihre Freunde: Schuld war immer die gegnerische Partei.
Vianello lehnte sich zurück und schlug die Beine wieder übereinander. »Das weiß ich nicht. Ich habe nur mit seiner Frau gesprochen. Das heißt, sie hat heute früh angerufen und gefragt, ob ich ihm nicht irgendwie helfen könne.«
»Was denn, erst heute?« fragte Brunetti.
Vianello nickte. »Marco hat gestern abend aus dem Gefängnis in Mestre mit ihr telefoniert und sie gebeten, mich zu verständigen; aber nicht vor heute morgen. Sie hat mich gerade noch erreicht, bevor ich aus dem Haus mußte.« Und auf Brunettis Frage zurückkommend, fuhr Vianello fort: »Ich weiß also nicht, wer angefangen hat. Es könnten die Arbeiter gewesen sein oder vielleicht auch ein paar von den No-Globals.«
Daß Vianello diese Möglichkeit einräumte, verblüffte Brunetti.
[12] »Aber Marco war’s bestimmt nicht«, beteuerte jener. »Der ist absolut friedlich und würde sich mit niemandem anlegen. Es gibt allerdings auch Leute, die zu solchen Demos gehen, um – na ja, die wollen da ihren Spaß haben.«
»Eine merkwürdige Auffassung von ›Spaß‹.«
Vianello hob die Hand und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß, aber manche von denen sehen es eben so. Marco hat solche Typen erwähnt. Sagt, er mag sie nicht und hat sie auch nicht gern bei einer Demo dabei, weil mit ihnen das Risiko, daß es zu Ausschreitungen kommen könnte, natürlich steigt.«
»Kennt er diese Randalierer persönlich?« fragte Brunetti.
»Weiß ich nicht, gesagt hat er nur, daß sie ihn nervös machen.«
Brunetti beschloß, das Gespräch zum Ausgangspunkt zurückzulenken. »Aber was wolltest du jetzt eigentlich von mir?«
»Du kennst doch die Kollegen in Mestre. Besser als ich jedenfalls. Und auch die Richter, wobei ich nicht weiß, wem der Fall zugeteilt wurde. Könntest du nicht mal anrufen und sehen, was du in Erfahrung bringst?«
»Und kannst du mir erklären, warum du das nicht machst?« Die Frage klang so, wie sie gemeint war: eine Bitte um Information und nicht etwa als Empfehlung, Vianello möge die Sache selbst in die Hand nehmen.
»Weil ich glaube, es macht sich besser, wenn die Anfrage von einem Commissario kommt.«
Nach kurzem Überlegen stimmte Brunetti zu. »Ja, mag sein. Weißt du, wie die Anklage lautet?« fragte er.
[13] »Nein. Ich tippe auf Ruhestörung oder Behinderung eines Beamten in Ausübung seiner Dienstpflicht. Marcos Frau hat sich nicht dazu geäußert. Und ich habe sie gebeten, nichts zu unternehmen, bis ich mit dir gesprochen habe. Ich dachte, du oder wir könnten vielleicht irgendwie vermitteln… inoffiziell natürlich. Würde Marco eine Menge Ärger ersparen.«
»Weiß seine Frau Näheres?«
»Nur was Marco ihr erzählt hat: daß er sich mit einem Transparent dort postiert hatte, zusammen mit seiner Gruppe, etwa ein Dutzend Leute. Plötzlich seien drei oder vier Fremde aufgetaucht, die die Arbeiter anpöbelten und sogar bespuckten....
Erscheint lt. Verlag | 21.2.2012 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Christa E. Seibicke |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Through a Glass Darkly |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Familienzwist • Geldwäscherei • Glasmanufaktur • Guido • Italien • Krimi • Mestre • Murano • Muranoglas • Überfischung • Umweltschutz • Venedig |
ISBN-10 | 3-257-60071-2 / 3257600712 |
ISBN-13 | 978-3-257-60071-1 / 9783257600711 |
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