Die dunkle Stunde der Serenissima (eBook)
384 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60070-4 (ISBN)
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
[7] 1
Die Bombe platzte beim Frühstück. Und auch wenn Brunetti als Commissario der venezianischen Polizei eher auf so eine Explosion gefaßt sein mochte als andere Leute, hätte der Schauplatz nicht ungewöhnlicher sein können. Der hatte indes nichts mit seinem Beruf zu tun, sondern betraf Brunetti privat, als Ehemann einer Frau von leidenschaftlicher, wenngleich sprunghafter Wahrnehmung und politischer Gesinnung.
»Warum lesen wir dieses widerliche Revolverblatt eigentlich noch?« explodierte Paola und knallte den zusammengefalteten Gazzettino so wütend auf den Frühstückstisch, daß die Zuckerdose umkippte.
Brunetti beugte sich vor, schob mit dem Zeigefinger die Zeitungsecke beiseite und richtete die Zuckerdose wieder auf. Dann nahm er sich eine zweite Brioche und biß hinein in der Gewißheit, daß eine Erklärung folgen würde.
»Hör dir das an!« Paola griff nach der Zeitung und las die Überschrift des Aufmachers auf der Titelseite vor: »›Fulvia Prato enthüllt ihre grausame Leidensgeschichte‹.« Wie ganz Italien wußte auch Brunetti, daß Fulvia Prato, die Frau eines schwerreichen Florentiner Industriellen, vor dreizehn Monaten entführt und von den Kidnappern in einem Keller gefangengehalten worden war. Seit ihrer Befreiung durch die Carabinieri vor zwei Wochen hatte sie am Vortag erstmals ein Interview gegeben. Brunetti konnte sich nicht denken, was Paola an dieser Schlagzeile so empörte.
[8] »Und dann das«, sagte sie und blätterte weiter zur Seite fünf. »›Eingeständnis einer EU-Ministerin: Sexuelle Belästigung an früherem Arbeitsplatz.‹« Auch dieser Fall war Brunetti bekannt: Eine EU-Kommissarin (an ihr Ressort konnte er sich nicht erinnern – eins dieser belanglosen Referate, die man gern den Frauen überließ) hatte gestern auf einer Pressekonferenz zu sexuellen Übergriffen Stellung genommen, denen sie vor zwanzig Jahren, als Mitarbeiterin einer Hoch- und Tiefbaufirma, ausgesetzt war.
Mit einer Langmut, die er sich in über zwanzig Ehejahren erworben hatte, wartete Brunetti Paolas Erklärung ab. »Ist es nicht unglaublich, wie sie mit ihrer Wortwahl manipulieren? Das Entführungsopfer enthüllt und prangert an, aber die arme Frau, der man Gewalt angetan hat, die gesteht, so als läge die Schuld bei ihr. Und wie typisch für diese rückständigen Zeitungsfritzen«, fauchte Paola und stach wütend auf das Blatt ein, »sich hinter der Worthülse ›sexuelle Belästigung‹ zu verschanzen, statt die Dinge beim Namen zu nennen. Gott, ich weiß wirklich nicht, warum wir uns dieses Käseblatt halten.«
»Kaum zu glauben, nicht wahr?« stimmte Brunetti zu, nun selbst ehrlich schockiert über die unterschiedlichen Formulierungen und mehr noch darüber, daß er das verbale Mißverhältnis erst bemerkt hatte, als Paola ihn mit der Nase darauf stieß.
Vor Jahren hatte er die Temperamentsausbrüche, zu denen die Lektüre der Morgenzeitungen seine Frau verleitete, mit sanftem Spott ihre »Kaffeepredigten« getauft. Aber mit der Zeit lernte er, daß in scheinbarem Wahn tiefere Einsicht walten kann.
[9] »Hast du je mit solchen Fällen zu tun gehabt?« fragte Paola. Und da sie ihm die untere Zeitungshälfte hinhielt, wußte er, daß nicht die Entführung gemeint war.
»Einmal, aber das ist schon lange her.«
»Wo war das?«
»In Neapel. Als ich dort stationiert war.«
»Und was ist da vorgefallen?«
»Eine Frau kam auf die Wache, um eine Vergewaltigung anzuzeigen. Sie wollte eine offizielle denuncia machen.« Er hielt inne und dachte nach, um sich den Fall wieder zu vergegenwärtigen. »Gegen ihren eigenen Mann.«
Auch Paola ließ eine Pause verstreichen, bevor sie nachhakte: »Und?«
»Die Befragung übernahm der Commissario, dem ich damals unterstellt war.«
»Und?«
»Er riet ihr, sich gut zu überlegen, was sie da tue, daß sie ihren Mann in große Schwierigkeiten bringen würde.«
Diesmal genügte Paolas Schweigen, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern.
»Sowie die Frau das hörte, sagte sie, sie brauchte Bedenkzeit, und ging.« Er sah sie immer noch vor sich, wie sie mit hängenden Schultern das Büro verließ. »Sie ist nicht wiedergekommen.«
Paola seufzte, dann fragte sie: »Hat sich seitdem viel verändert?«
»Ein bißchen was schon.«
»Zum Besseren?«
»Nun ja, immerhin versuchen wir heute, die erste Befragung weiblichen Beamten zu überlassen.«
[10] »Was heißt, ihr versucht es?«
»Sofern Kolleginnen im Dienst sind, wenn so ein Fall zur Anzeige kommt, übernehmen sie.«
»Und wenn nicht?«
»Dann telefonieren wir herum und sehen zu, ob eine Kollegin einspringen kann.«
»Und wenn nicht?«
Wie kam es, fragte er sich, daß das Frühstück unversehens in ein Verhör ausgeartet war. »Dann übernimmt die Befragung eben, wer gerade verfügbar ist.«
»Was vermutlich bedeutet, daß Männer wie Alvise oder Leutnant Scarpa so eine arme Frau vernehmen könnten.« Paola machte aus ihrer Empörung keinen Hehl.
»Es ist ja keine richtige Vernehmung, Paola, nicht so wie bei einem Verdächtigen.«
Sie zeigte auf Il Gazzettino, und ihr Fingernagel klopfte in raschem Dreiertakt auf die zweite Schlagzeile. »In einer Stadt, wo so was möglich ist, wage ich mir gar nicht vorzustellen, wie Befragungen gleich welcher Art ablaufen.«
Er wollte widersprechen, und vielleicht spürte Paola das, denn plötzlich fragte sie in völlig verändertem Ton: »Wie sieht’s heute bei dir aus? Kommst du zum Mittagessen nach Hause?«
Brunetti wußte wohl, daß er mit einer positiven Antwort das Schicksal herausforderte. Aber die Erleichterung über ihr Einlenken war so groß, daß er alle Vorsicht in den Wind schlug. »Ich denke schon. Die Verbrecher scheinen Ferien zu machen in Venedig.«
»Gott, ich wünschte, das könnte ich von meinen Studenten auch sagen«, versetzte sie müde und resigniert.
[11] »Aber Paola, du bist doch erst seit sechs Tagen wieder an der Uni.« Den Einwand konnte er sich nicht verkneifen. Wieso hatte eigentlich nur sie das Recht, über beruflichen Ärger zu klagen? Immerhin mußte er sich, wenn nicht tagtäglich, so doch erschreckend oft, mit Mord, Vergewaltigung und Mißhandlungen herumschlagen, während sie in ihrem Hörsaal schlimmstenfalls gefragt wurde, wer sich hinter der Dark Lady verbarg, oder jemand vergessen hatte, wie Die Erbin vom Washington Square ausging. Er war schon drauf und dran, etwas in diesem Sinne zu erwidern, als er das Flackern in ihren Augen sah.
»Was ist los?« fragte er.
»Hm?«
Doch Brunetti hatte ein feines Ohr und einen geschulten Blick für Ausweichmanöver jeder Art. »Ich hab dich gefragt, was los ist.«
»Ach, Ärger mit den Studenten. Das Übliche.«
Wieder merkte er ihr an, daß es da irgend etwas gab, worüber sie nicht sprechen mochte. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf, ging um den Tisch herum, bückte sich, die Hand auf ihre Schulter gestützt, und küßte sie auf den Scheitel.
»Wir sehen uns beim Mittagessen.«
»An diese Hoffnung werde ich mich klammern«, gab sie spöttisch zurück und beugte sich vor, um den verschütteten Zucker zusammenzustreichen.
Allein am Tisch zurückgeblieben, stand Paola vor der Wahl, entweder die Zeitung zu Ende zu lesen oder den Abwasch zu machen: Sie entschied sich für den Abwasch. Als sie damit fertig war, zeigte ihr ein Blick auf die Uhr, daß [12] ihre einzige Vorlesung an diesem Tag in weniger als einer Stunde begann, und sie lief ins Schlafzimmer, um sich fertig anzukleiden. In Gedanken war sie dabei, wie so oft, ganz bei Henry James, auch wenn es diesmal nur um seinen Einfluß auf Edith Wharton ging, deren Romane sie zur Zeit in ihrer Vorlesung behandelte.
Neulich hatte sie über das Thema Ehre gesprochen und über den Ehrenkodex als Leitmotiv der drei großen Wharton-Romane, auch wenn es ihr fraglich schien, ob der Begriff für ihre Studenten noch die gleiche Bedeutung hatte wie für die Autorin – ja, ob sie überhaupt noch etwas damit anfangen konnten. Darüber hatte sie an diesem Morgen mit Guido sprechen wollen, denn sie schätzte seine Meinung, aber dann war ihr die Schlagzeile dazwischengekommen.
Nach all den Jahren konnte sie nicht mehr so tun, als merke sie nicht, wie sehr ihre Kaffeepredigten ihn jedesmal verstörten: so sehr, daß er am liebsten fluchtartig den Tisch verlassen würde. Insgeheim schmunzelte sie über seine Wortschöpfung und über den liebevollen Ton, in dem er sie normalerweise damit hänselte. Sie wußte, daß sie auf bestimmte Reizthemen zu vehement und vorschnell reagierte; einmal hatte ihr Mann ihr in der Hitze des Gefechts eine erdrückende Litanei all der Themen an den Kopf geworfen, bei denen es angeblich so mit ihr durchging, daß nicht mehr vernünftig mit ihr zu reden sei. Und er hatte damit so ins Schwarze getroffen, daß der Gedanke an diese Aufzählung sie heute noch nervös machte.
Da sich am Vortag die erste herbstliche Kühle über die Stadt gelegt hatte, nahm Paola eine leichte Wolljacke aus dem Schrank, bevor sie ihre Aktentasche holte und die [13] Wohnung verließ. Obgleich der Weg zur Uni sie durchs moderne Venedig führte, spazierte sie im Geiste durchs New York des vorigen Jahrhunderts, die Kulisse, vor der die Lebensdramen der Frauen aus Whartons Romanen spielten. Bei dem Versuch, all die Untiefen zu umschiffen, die durch gesellschaftliche...
Erscheint lt. Verlag | 21.2.2012 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Christa E. Seibicke |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Wilful Behaviour |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Ehre • Großvater • Guido • Italien • Krimi • Mord • Raubkunst • Venedig • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-257-60070-4 / 3257600704 |
ISBN-13 | 978-3-257-60070-4 / 9783257600704 |
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