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Acqua alta (eBook)

Commissario Brunettis fünfter Fall

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
384 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60064-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Acqua alta -  Donna Leon
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Wie jeden Winter bedroht Hochwasser das größte Museum der Welt: Venedig. Eine Archäologin wird vor ihrer Wohnung zusammengeschlagen, ein renommierter Museumsdirektor wird ermordet. Ganz Venedig ist entsetzt. Commissario Brunetti will beide Fälle mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit aufklären. Und bald steht das Wasser auch denjenigen bis zum Hals, die so falsch sind wie die Kunst, mit der sie handeln.
'

Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.

[19] 2

Flavia trat zur Seite und ließ die beiden Männer eintreten. »Was ist denn los? Was ist passiert?« fragte Luca mit einem Blick auf den Deckenberg und das, was darunter lag. »Mio dio«, entfuhr es ihm, und er wollte sich zu Brett hinunterbeugen, aber Flavia hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück und zog ihn beiseite, damit der Arzt an die am Boden liegende Frau herankonnte.

Er bückte sich und legte ihr die Hand an den Hals. Als er den Puls fühlte, langsam, aber kräftig, schlug er die Decken zurück. Ihr Pullover hatte sich, ein blutiger Strick, unter ihrem Hals zusammengeschoben, so daß Rippen und Oberkörper entblößt waren. Die Haut war gerötet und an einigen Stellen aufgeplatzt und begann sich zu verfärben.

»Signora, können Sie mich hören?« fragte der Arzt.

Brett gab einen Laut von sich; Worte waren noch zu schwierig.

»Signora, ich werde Sie jetzt umdrehen. Nur ein wenig, damit ich etwas sehen kann.« Er gab Flavia ein Zeichen, die sich auf der anderen Seite der reglosen Gestalt hinkniete. »Halten Sie die Schultern fest. Ich muß ihre Beine strecken, damit ich sehe, was los ist.« Er faßte Bretts linkes Bein an der Wade und legte es ausgestreckt vorsichtig hin, dann tat er dasselbe mit dem rechten. Langsam drehte er sie auf den Rücken, und Flavia ließ gleichzeitig die Schultern auf den Boden sinken. Das alles bereitete Brett nur neuen Schmerz, und sie stöhnte.

[20] Der Arzt wandte sich wieder an Flavia: »Holen Sie mir eine Schere.« Gehorsam ging Flavia in die Küche und nahm eine Schere aus einem großen geblümten Keramiktopf auf dem Tresen. Dabei merkte sie, wie es ihr heiß aus der Pfanne mit Olivenöl entgegenschlug, die zischelnd und brodelnd immer noch auf dem Herd stand. Rasch drehte sie die Flamme aus und lief in die Diele zurück.

Der Arzt nahm die Schere, zerschnitt den blutgetränkten Pullover und pellte ihn vorsichtig von Bretts Körper. Der Schläger hatte einen dicken Ring an der rechten Hand getragen und damit Spuren hinterlassen, kleine runde Abdrücke, die sich dunkel von dem graublauen Fleisch ringsum abhoben.

Der Arzt beugte sich wieder über die Liegende und sagte: »Machen Sie bitte die Augen auf, Signora.«

Brett bemühte sich zu gehorchen, aber sie bekam nur das eine auf. Der Arzt nahm eine kleine Taschenlampe aus seiner Tasche und richtete den Strahl auf ihre Pupille. Sie zog sich zusammen, und Brett schloß unwillkürlich das Auge.

»Gut, gut«, sagte der Arzt. »Jetzt möchte ich, daß Sie den Kopf etwas bewegen, nur ein ganz klein wenig.«

Obwohl es sie sichtlich anstrengte, schaffte Brett es.

»Und nun den Mund. Können Sie ihn öffnen?«

Als sie es versuchte, japste sie vor Schmerz, ein Laut, bei dem Flavia sich gegen die Wand lehnen mußte.

»Jetzt werde ich Ihre Rippen abtasten, Signora. Sagen Sie mir bitte, wenn es weh tut.« Behutsam befühlte er, eine nach der anderen, ihre Rippen. Zweimal stöhnte sie auf.

Er nahm ein Päckchen sterilen Mull aus seiner Tasche [21] und riß es auf. Aus einer Flasche mit Antiseptikum befeuchtete er den Mull und begann langsam das Blut von ihrem Gesicht zu wischen. Sobald er es weggetupft hatte, quoll neues aus ihrer Nase und der klaffenden Wunde an ihrer Unterlippe. Er winkte Flavia zu sich, die sich wieder neben ihn kniete. »Hier, drücken Sie ihr das auf die Lippe, und lassen Sie nicht zu, daß sie sich bewegt.« Damit gab er Flavia den blutigen Mulltupfer, und sie tat wie geheißen.

»Wo ist das Telefon?« fragte der Arzt.

Flavia deutete mit dem Kopf zum Wohnzimmer. Der Arzt verschwand durch die Tür, und Flavia hörte ihn wählen, danach mit jemandem im Krankenhaus sprechen und eine Trage anfordern. Warum war sie darauf nicht selbst gekommen? Sie wohnten so nah beim Krankenhaus, sie brauchten gar kein Ambulanzboot.

Luca, der hinter ihr stand, begnügte sich schließlich damit, die Decke wieder über Brett zu ziehen.

Der Arzt kam zurück und beugte sich zu Flavia hinunter. »Sie werden bald hier sein.« Dann sah er Brett an. »Ich kann Ihnen nichts gegen die Schmerzen geben, bevor wir Sie nicht geröntgt haben. Sind die Schmerzen schlimm?«

Für Brett bestand die ganze Welt aus Schmerzen.

Der Arzt sah, daß sie fröstelte, und fragte: »Haben Sie noch mehr Decken?« Luca ging ins Schlafzimmer und kam mit einer weiteren Steppdecke zurück, die er mit der Hilfe des Arztes über Brett breitete, obwohl es nicht viel zu nützen schien. Ihre Welt war kalt geworden, und sie spürte nur Kälte und Schmerz.

[22] Der Arzt richtete sich auf und fragte, an Flavia gewandt: »Was ist denn passiert?«

»Ich weiß es nicht. Ich war in der Küche, beim Kochen. Als ich herauskam, lag sie auf dem Boden, so wie jetzt, und zwei Männer waren da.«

»Was für Männer?« wollte Luca wissen.

»Ich weiß es nicht. Einer war groß, der andere klein.«

»Und dann?«

»Ich bin auf sie losgegangen.«

Die Männer wechselten einen Blick. »Wie?« fragte Luca.

»Ich hatte ein Messer. Ich war doch beim Gemüseschneiden, und als ich aus der Küche kam, hatte ich das Messer noch in der Hand. Als ich die beiden sah, habe ich nicht überlegt, ich bin einfach auf sie losgegangen. Sie sind dann die Treppe hinuntergerannt.« Sie schüttelte den Kopf, das alles interessierte sie nicht. »Was ist mit ihr? Was haben die ihr getan?«

Bevor der Arzt antwortete, entfernte er sich ein paar Schritte von Brett, obwohl sie bestimmt nicht in der Lage gewesen wäre, seine Worte zu hören oder gar zu verstehen. »Sie hat ein paar Rippen gebrochen und einige böse Platzwunden. Außerdem könnte ihr Kiefer gebrochen sein.«

»Oh, Gesù«, entfuhr es Flavia, und sie hielt sich rasch die Hand vor den Mund.

»Aber für eine Gehirnerschütterung gibt es keine Anzeichen. Sie reagiert auf Licht und versteht, was ich sage. Trotzdem müssen wir noch röntgen.«

Noch während er das sagte, hörten sie Stimmen im Treppenhaus. Flavia kniete sich neben Brett. »Sie kommen [23] jetzt, cara. Es wird alles gut.« Ihr fiel nichts anderes zu tun ein, als ihre Hand auf die Decken über Bretts Schulter zu legen und zu hoffen, daß die Wärme zu der Frau darunter durchdrang. »Es wird alles wieder gut.«

Zwei Männer in weißen Kitteln erschienen an der Tür, und Luca winkte sie herein. Sie hatten ihre Trage vier Etagen tiefer neben der Haustür stehenlassen, wie man es überall in Venedig machen mußte, und statt dessen den Korbstuhl mitgebracht, in dem sie die Kranken durch die engen, verwinkelten Treppenhäuser der Stadt zu tragen pflegten.

Beim Eintreten sahen sie nur kurz auf das blutige Gesicht der Frau am Boden, als wäre es ein alltäglicher Anblick für sie, was wohl auch der Fall war. Luca verzog sich ins Wohnzimmer, und der Arzt wies die Männer an, die Verletzte mit besonderer Vorsicht hochzuheben.

Die ganze Zeit fühlte Brett nichts als die Umklammerung des Schmerzes. Er kam von überall in ihrem Körper, aus der Brust, die sich zusammenzog und jeden Atemzug zur Qual werden ließ, von ihren Gesichtsknochen und dem brennenden Rücken. Manchmal spürte sie die Schmerzen einzeln, dann verschmolzen sie wieder in eins, überfluteten sie, vermischten sich und blendeten alles aus, was nicht Schmerz war. Später sollte sie sich von alledem nur an dreierlei erinnern: die Hand des Arztes an ihrem Kinn, eine Berührung, die zu einem weißen Lichtblitz in ihrem Hirn wurde; Flavias Hand an ihrer Schulter, die einzige Wärme in diesem Meer von Kälte; und den Moment, als die Männer sie hochhoben und sie aufschrie und ohnmächtig wurde.

Stunden später, als sie aufwachte, war der Schmerz [24] immer noch da, doch irgend etwas hielt ihn auf Armeslänge von ihr ab. Sie wußte, wenn sie sich bewegte, und sei es auch nur einen Millimeter, würde er wiederkommen und noch schlimmer sein, also lag sie völlig still und versuchte, in jeden einzelnen Teil ihres Körpers hineinzuspüren, um festzustellen, wo der schlimmste Schmerz lauerte, doch bevor sie ihrem Gehirn diesen Auftrag geben konnte, wurde sie von Schlaf übermannt.

Später erwachte sie wieder, und diesmal schickte sie ihren Verstand ganz vorsichtig aus, um ihre diversen Körperteile zu erkunden. Der Schmerz wurde immer noch von ihr ferngehalten, und es schien, als wäre Bewegung nicht mehr so gefährlich, so verhängnisvoll. Sie konzentrierte sich auf ihre Augen und versuchte festzustellen, was dahinter lag, Licht oder Dunkel. Sie bekam es nicht heraus, und so ließ sie ihre Gedanken weiterwandern, über ihr Gesicht, wo Schmerz lauerte, zum Rücken, der warm pochte, und dann zu ihren Händen. Eine war kalt, die andere warm. Stunden lag sie, wie es ihr vorkam, reglos da und dachte darüber nach: Wie konnte eine Hand kalt und die andere warm sein? Eine Ewigkeit grübelte sie über diesem Rätsel.

Eine warm, eine kalt. Sie beschloß, die Hände zu bewegen, um zu sehen, ob das etwas änderte, und unendlich viel später fing sie damit an. Sie versuchte die Hände zu Fäusten zu ballen und konnte sie doch nur ein ganz klein wenig bewegen. Aber es genügte – die warme Hand wurde von intensiverer Wärme umschlossen und von oben und unten kaum merklich gedrückt. Sie hörte eine Stimme, von der sie wußte, daß sie ihr vertraut war, aber sie erkannte sie [25] nicht. Warum sprach diese Stimme Italienisch? Oder war es Chinesisch? Sie verstand die Worte, konnte sich aber nicht erinnern, welche Sprache es war. Erneut bewegte sie die Hand. Wie angenehm diese Wärme gewesen war. Sie...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2012
Reihe/Serie Commissario Brunetti
Commissario Brunetti
Übersetzer Monika Elwenspoek
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Archäologin • Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Guido • Hochwasser • Homosexualität • Italien • Korruption • Krimi • Kunstfälschung • Kunsthandel • Lesben • Lesbisch • Lesbische Liebe • LGBT • LGBTQ • Mord • Museum • Schmuggel • Venedig • Winter
ISBN-10 3-257-60064-X / 325760064X
ISBN-13 978-3-257-60064-3 / 9783257600643
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