Vendetta (eBook)
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60063-6 (ISBN)
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Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
[24] 5
Guido Brunetti erfuhr von dem Mord an Avvocato Carlo Trevisan erst am nächsten Morgen, und zwar auf wenig polizeigerechte Weise, nämlich aus den schreienden Schlagzeilen des Gazzettino, desselben Blattes, das zweimal Avvocato Trevisans Wahl in den Stadtrat laut begrüßt hatte. Avvocato assassinato sul Treno, brüllte die Schlagzeile, während La Nuova, wie stets dem Dramatischen zugeneigt, von Il Treno della Morte sprach. Brunetti sah diese Schlagzeilen auf dem Weg zur Arbeit, kaufte beide Blätter und blieb dann lesend mitten auf der Ruga Orefici stehen, während die morgendlichen Passanten unbeachtet an ihm vorbeigingen. Die Meldungen nannten nur die kargen Fakten: Im Intercity erschossen, Leiche bei Fahrt über Lagune entdeckt, übliche polizeiliche Ermittlungen.
Brunetti sah auf und ließ den Blick über die Obst- und Gemüsestände schweifen, ohne etwas zu sehen. »Übliche polizeiliche Ermittlungen«? Wer hatte letzte Nacht Dienst gehabt? Warum hatte man ihn nicht gerufen? Und wenn schon nicht ihn, welchen seiner Kollegen dann?
Er wandte sich vom Zeitungskiosk ab und setzte seinen Weg zur Questura fort, wobei er im Geiste die verschiedenen Fälle durchging, an denen sie jeweils arbeiteten, um sich schon einmal auszurechnen, wer wohl jetzt mit diesem betraut würde. Brunetti selbst stand gerade kurz vor dem Abschluß einer Ermittlung, die mit dem gigantischen, wenn auch auf venezianische Maßstäbe verkleinerten [25] Spinnennetz aus Bestechung und Korruption zu tun hatte, das sich in den letzten Jahren von Mailand her ausgebreitet hatte. Da waren Superschnellstraßen auf dem Festland gebaut worden, eine davon als Zubringer zum Flughafen, Milliarden Lire waren dafür ausgegeben worden. Und erst nach Fertigstellung hatte man sich überhaupt Gedanken darüber gemacht, daß der Flughafen mit seinen täglich kaum hundert Starts und Landungen bereits bestens durch Straßen, Busse, Taxis und Boote mit der Stadt verbunden war. Erst da war man auf die Idee gekommen, den enormen Aufwand an öffentlichen Geldern für eine Straße in Frage zu stellen, die auch beim allerbesten Willen nicht als in irgendeiner Weise notwendig bezeichnet werden konnte. Daher die Einschaltung von Brunetti, die Sperrung der Zahlungen und der Erlaß eines Haftbefehls gegen den Bauunternehmer, dessen Firma den Löwenanteil der Straßenbauarbeiten ausgeführt hatte, sowie gegen die drei Stadtratsmitglieder, die sich am lautesten für die Vergabe des Auftrags an diese Firma eingesetzt hatten.
Ein weiterer Commissario war mit dem Kasino beschäftigt, dessen Croupiers wieder einmal einen Weg gefunden hatten, das System zu überlisten und einen Prozentsatz für sich abzuzweigen. Der dritte ermittelte immer noch in Mestre gegen einige von der Mafia kontrollierte Geschäfte, ein Fall, der offenbar nirgendwo an eine Grenze stieß und leider auch kein Ende nahm.
So war es keine Überraschung für Brunetti, als er bei seiner Ankunft in der Questura von den Wachen am Eingang mit den Worten begrüßt wurde: »Er will Sie sprechen.« Wenn [26] Vice-Questore Patta ihn so früh schon sprechen wollte, war er letzte Nacht womöglich selbst gerufen worden, nicht einer der Commissari. Und wenn Patta den Mord so interessant fand, daß er um diese Morgenstunde schon anwesend war, dann mußte Trevisan wichtiger oder einflußreicher gewesen sein, als Brunetti sich klargemacht hatte.
Er ging in sein Büro, hängte seinen Mantel auf und sah sich seinen Schreibtisch an. Dort lag nichts, was nicht schon dagelegen hatte, als er gestern abend wegging, woraus er schloß, daß alle eventuell schon vorhandenen Unterlagen sich in Pattas Büro befanden. Er nahm die Hintertreppe nach unten und trat in Pattas Vorzimmer. Hinter ihrem Schreibtisch saß, als warte sie hier nur auf die Fotografen von Vogue, Signorina Elettra Zorzi, heute, wie die Lilien auf dem Felde, in einem weißen Crêpe-de-Chine-Kleid, das in schrägen, aber ausgesprochen provokativen Falten über ihren Busen fiel.
»Buon giorno, commissario«, sagte sie und blickte lächelnd von der Zeitschrift hoch, die aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch lag.
»Trevisan?« fragte Brunetti.
Sie nickte. »Er telefoniert schon seit zehn Minuten. Mit dem Bürgermeister.«
»Wer hat wen angerufen?«
»Der Bürgermeister ihn«, antwortete Signorina Elettra. »Warum? Ist das wichtig?«
»Ja. Es bedeutet wahrscheinlich, daß wir nichts in der Hand haben.«
»Wieso?«
[27] »Wenn er den Bürgermeister angerufen hätte, dann hieße das, er fühlt sich in irgendeinem Punkt sicher genug, um ihm mitzuteilen, daß wir schon einen Verdächtigen haben oder bald mit einem Geständnis rechnen können. Wenn der Bürgermeister ihn angerufen hat, kann das nur heißen, daß Trevisan ein bedeutender Mann war und sie die Sache schnell erledigt sehen wollen.«
Signorina Elettra klappte ihre Zeitschrift zu und legte sie beiseite. Brunetti erinnerte sich noch, daß sie zu Beginn ihrer Tätigkeit für Patta die Hefte immer in der Schublade verschwinden ließ, wenn sie nicht darin las; jetzt machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, sie mit der Schrift nach unten hinzulegen.
»Wann ist er gekommen?« erkundigte sich Brunetti.
»Um halb neun.« Und bevor er noch weiterfragen konnte, sagte sie: »Ich war schon hier und habe ihm erklärt, daß Sie bereits im Haus waren, aber wieder weggegangen sind, um mit Leonardis Dienstmädchen zu sprechen.« Er hatte sich gestern nachmittag im Zuge seiner Ermittlungen gegen die Baufirma mit dieser Frau unterhalten und nichts erfahren.
»Grazie«, sagte er. Brunetti hatte es schon mehr als einmal merkwürdig gefunden, daß Signorina Elettra mit ihrem angeborenen Hang zum Flunkern sich ausgerechnet eine Arbeit bei der Polizei gesucht hatte.
Sie warf einen Blick auf ihren Schreibtisch, wo ein rotes Lämpchen an ihrem Telefon zu blinken aufgehört hatte. »Er ist fertig«, sagte sie.
Brunetti nickte und klopfte an Pattas Tür, wartete auf das »Avanti« von drinnen und ging hinein.
[28] Obwohl der Vice-Questore so früh gekommen war, hatte er offenbar genügend Zeit für seine Toilette gehabt: Der Duft eines durchdringenden After-shave hing in der Luft, und Pattas gutgeschnittenes Gesicht glänzte frisch. Die Krawatte aus Wolle, der Anzug Seide: kein Sklave der Tradition, der Vice-Questore. »Wo waren Sie?« fragte Patta zur Begrüßung.
»Bei den Leonardis. Ich dachte, ich könnte mal mit ihrem Dienstmädchen reden.«
»Und?«
»Sie weiß nichts.«
»Das ist jetzt egal«, sagte Patta, dann deutete er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich, Brunetti.« Als der Commissario Platz genommen hatte, fragte Patta: »Haben Sie von der Sache gehört?«
Unnötig zu fragen, von welcher »Sache« die Rede war. »Ja«, antwortete Brunetti. »Was ist passiert?«
»Jemand hat ihn letzte Nacht im Zug aus Turin erschossen. Zwei Schüsse, aus nächster Nähe. In den Körper. Einer muß eine Arterie getroffen haben, denn er hat stark geblutet.« Wenn Patta »muß« sagte, konnte das nur heißen, daß die Autopsie noch nicht vorgenommen war und er lediglich mutmaßte.
»Wo waren Sie gestern abend?« fragte Patta, fast als wollte er Brunetti als Verdächtigen ausschließen, bevor er ins Detail ging.
»Wir haben bei Freunden zu Abend gegessen.«
»Wie ich hörte, hat man versucht, Sie zu Hause zu erreichen.«
»Ich war bei Freunden«, wiederholte Brunetti.
[29] »Warum haben Sie keinen Anrufbeantworter?«
»Ich habe zwei Kinder.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, wenn ich einen Anrufbeantworter hätte, müßte ich mir dauernd die Nachrichten ihrer Freunde anhören.« Oder die vielfältigen Ausflüchte der Kinder selbst für ihr Zuspätkommen oder ihre Abwesenheit. Es hieß zudem, daß nach Brunettis Meinung Kinder auch die Pflicht hatten, Nachrichten für ihre Eltern entgegenzunehmen, aber er hatte keine Lust, dieses Thema mit Patta zu bereden.
»So ist der Fall bei mir gelandet«, sagte Patta, ohne seine Verärgerung auch nur ansatzweise zu verbergen.
Brunetti hatte den Verdacht, daß eine Entschuldigung von ihm erwartet wurde. Er sagte nichts.
»Ich bin zum Bahnhof gefahren. Die polizia ferroviaria hatte natürlich alles verpfuscht.« Patta sah auf seinen Schreibtisch und schob Brunetti ein paar Fotos hinüber.
Brunetti beugte sich vor, nahm die Bilder und sah sie sich an, während Patta sich weiter über die Inkompetenz der Bahnpolizei ausließ. Das erste Bild war von der Abteiltür aus aufgenommen und zeigte den Körper eines Mannes, der zwischen den Sitzen auf dem Rücken lag. Der Blickwinkel machte es unmöglich, mehr als den Hinterkopf des Mannes zu erkennen, aber die dunkelroten Flecken auf dem sich nach oben wölbenden Bauch waren unverkennbar. Das nächste Bild zeigte den Körper von der anderen Seite des Abteils und mußte durchs Fenster aufgenommen worden sein. Auf diesem sah Brunetti, daß die Augen des Mannes geschlossen waren und eine seiner Hände einen [30] Füllfederhalter umklammert hielt. Die übrigen Bilder zeigten wenig mehr, obwohl sie im Abteil aufgenommen worden waren. Der Mann schien zu schlafen; der Tod hatte jeden Ausdruck von seinem Gesicht gewischt und nur noch so eine Art Schlaf des Gerechten übriggelassen.
»Wurde er ausgeraubt?« fragte Brunetti in Pattas anhaltendes Lamento hinein.
»Wie?«
»Wurde er...
Erscheint lt. Verlag | 21.2.2012 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Monika Elwenspoek |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Death and Judgment |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Frauenheld • Gewaltvideos • Guido • Italien • Krimi • Menschenschmuggel • Venedig |
ISBN-10 | 3-257-60063-1 / 3257600631 |
ISBN-13 | 978-3-257-60063-6 / 9783257600636 |
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