Asiatische Absencen (eBook)
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10001-5 (ISBN)
Wolfgang Bu?scher, geboren 1951 bei Kassel, ist Schriftsteller und Autor der «Welt». «Er hat der Reiseliteratur», wie es im «Deutschlandfunk» hieß, «zu neuem Glanz verholfen.» Zu seinen Veröffentlichungen zählen «Berlin - Moskau» (2003), «Deutschland, eine Reise» (2005), «Hartland» (2011) und «Ein Fru?hling in Jerusalem» (2014). Fu?r sein Werk wurde Wolfgang Bu?scher vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kurt-Tucholsky-Preis, dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und dem Ludwig-Börne-Preis.
Wolfgang Büscher, geboren 1951 bei Kassel, ist Schriftsteller und Autor der «Welt». «Er hat der Reiseliteratur», wie es im «Deutschlandfunk» hieß, «zu neuem Glanz verholfen.» Zu seinen Veröffentlichungen zählen «Berlin – Moskau» (2003), «Deutschland, eine Reise» (2005), «Hartland» (2011) und «Ein Frühling in Jerusalem» (2014). Für sein Werk wurde Wolfgang Büscher vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kurt-Tucholsky-Preis, dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und dem Ludwig-Börne-Preis.
Ein Nachmittag in Indien
Nun endlich nichts mehr. Nur die Schreie der Papageien durch die offene Tür, wie von sehr fern – dieses Zimmer, die staubige Stille darin, die Pritsche, auf der ich lag. Wie lange schon? Wie spät war es wohl? Würden die Gefährten Wort halten und wiederkommen? Fragen, die verglühten.
Ich mochte das Fieber. Ich hatte es schon als Junge gemocht. Tage allein im Haus. Der Gang der Uhr unten im Eßzimmer, ein Schaben unter den Dielen, und wie es arbeitete im Gebälk, in den Mauern – wie Zähneknirschen im Schlaf. Es war Herbst geworden. Sturmgarben peitschten das Haus, ich aber lag im Fieber geborgen und lauschte dem Regen und kroch tiefer in das Buch, das man mir gegeben hatte, um den Tag zu bestehen, ein indisches Abenteuer. Im Schutz der Nacht floh ein Landsmann vom Schiff seines tyrannischen Kapitäns, ein deutscher Schiffsjunge in Kalkutta. Eine indische Gauklertruppe las ihn auf, geführt von einem schlauen, geldgierigen Zwerg, dem nicht zu trauen war. Doch der Elefantenführer wurde sein Freund. Fürs erste war der Junge gerettet – waren wir gerettet, denn ich war längst dabei und folgte ihm tief ins Land, ins Fremdeste vom Fremden. Was ein unbestimmt mulmiges Gefühl gewesen war, zog sich nun zu wie eine Schlinge. Der Zwerg diente einem geheimen Kult, einem, der Opfer verlangte, richtige aus Fleisch und Blut, nicht bloß Rupien und Reiskörner. Noch einmal glückte die Flucht, mit Hilfe des Elefantenführers, doch unser Retter blieb tödlich verwundet zurück. Ich glühte, als meine Mutter mich fand, die Hand auf der letzten Seite, den Namen des sterbenden Mahut flüsternd. Das indische Fieber, hörte ich unseren Hausarzt sagen. In jungen Jahren war er Schiffsarzt in der Südsee gewesen, nun beugte er sich über mich, sonderbar lächelnd, kühlte mir die Stirn und fühlte meinen Puls. «Schlaf jetzt, Junge, schlaf es weg.»
Ich richtete mich auf und sah mich im Zimmer um – so deutlich hatte ich das Murmeln gehört, als säße der alte Hausarzt hier bei mir auf der Pritsche. Das konnte nicht sein. Hier war Indien, und der Doktor war lange tot. Wo aber war meine Armbanduhr? Nicht am Arm, in Reichweite abgelegt auch nicht. Fort also. Unterwegs verloren, auf irgendeiner staubigen Piste oder in einer Ritze des Jeeps. Der Jeep – darin hatten die Gefährten mich hergebracht, als das Fieber gekommen war, und gleich, gleich würde ich mich auf alles besinnen, auf lauter Details der Reise, fände ich nur erst die Armbanduhr. Welche Stunde? Wann holen sie mich hier heraus? Schlaf, weißer Mann, schlaf. Affen hüten deinen Schlaf, Affen und Papageien.
Irgendwann, ich war eingedöst, aufgewacht, wieder eingedöst, lag das Zimmer in fahlerem Licht, die Dinge warfen schwächere Schatten, eine letzte Spur des vergehenden Tages fiel durch die Tür. Die Stunde der Geckos, dachte ich. Doch zuerst kroch ein Name hervor, ein schöner, ja eleganter Name, von einer seiner dunklen Silben zur anderen federnd – Jodhpur.
Von Jodhpur waren wir gekommen – der Fotograf, der Bilder von Indien suchte, ein indischer Freund, der uns fuhr, ein älterer, beinah zwergenhaft kleiner Mann, auf dessen Visitenkarte «Professor» stand und der für uns übersetzte, und ich, das Notizbuch auf dem Schoß. Wir hatten keinen besonderen Plan, nur die Idee, von Norden nach Süden zu fahren, in ein Land voller Götter. Ihnen auszuweichen war unmöglich, die Luft war erfüllt von Opferrauch und Devotion; ein indischer Atemzug enthielt mehr Religion als ein ganzer deutscher Advent. Ich sog es ein und konnte die Augen nicht losreißen vom Rajput am Wege, vom grundlosen Stolz des Mannes aus der Kriegerkaste, Silberreifen an den nackten Füßen. Und von der dürren Alten. Es war Abend, sie hatte Buschwerk für ihre Tiere geschnitten. Aufrecht stand sie da, die gespreizten Zehen im Staub, dunkel um die Augen, die Arme dünner als der Stiel ihrer Sichel, auf den sie sich stützte wie ein Jäger auf den Speer. Ich bemerkte ihr hohes Alter und fragte, was sie sich noch wünsche im Leben. Sie sah mich an mit einem Blick, in dem Verwunderung lag, auch Spott. «Hari Bhavan!» sagte sie, Gottes Haus. Ihre Augen jubelten. Bald wird er mich rufen aus diesem Körper, diesem Staub, endlich zu ihm. Der Krieger und die Alte, sie leuchteten, sie schienen etwas zu sehen, das sie geringachten ließ, was unsereinem groß vorkam oder unerträglich.
Und dann, wir steckten fest im Gewühl einer Stadt, erblickte ich den Gott in der Gosse. Wie ein Fluch lag die Hitze auf allem, und ich wurde unruhig auf dem Rücksitz des Jeeps, betäubt von Abgasen und Gerüchen. Es ging nicht voran. Alles drängte, hupte, gab Gas. Alles stand. Ich stieß die Tür auf und bewegte sie hin und her als Fächer, so heftig ich konnte, um ein wenig Wind zu machen, und da, wir waren ein paar Meter weitergerollt, erschien Ganesh im Türrahmen, der elefantenköpfige kleine Gott. Nicht größer als meine Faust war er und saß in der Falte zweier Wurzelpranken eines gewaltigen Straßenbaums, dort hinein hatte man ihm sein ebenso puppenhaftes Tempelchen gebaut, wie zurückgelassen von spielenden Kindern. Und einen winzigen Blumenkranz hatte man ihm geflochten, den trug er um seinen winzigen, gedrungenen Elefantenhals.
Er schien in Sorge. Seine alten Augen lagen in Falten, als betrübe ihn etwas, das er sah oder kommen sah. Was konnte ich tun – ihm Blumen streuen? Ich hatte keine. Seine Lieblingsspeise? Ich wußte sie nicht. Ein paar Münzen wenigstens? Ich tat nichts. Ich kam mir arm vor, nutzlos, dumm. Endlich ging ein Schub durch die Menschen- und Lastenmasse, sie stieß und riß unseren Jeep weiter, der kleine Gott verschwand so jäh, wie er aufgetaucht war.
Wir trieben mehr dahin, als daß wir fuhren. Die Straßen waren niemals versiegende, kataraktreiche Ströme sich vorwärts drängender Leiber. Ich sah Fahrzeuge aller Zeiten, von der Bronzezeit an, hochrädrige, von Hand gezogene Karren neben fabrikneuen Transportern, die einen wie die anderen mit Götterbildern bemalt und der unnötigen Aufforderung am Heck: «Please horn!» Jeder hupte immerzu.
In der Enge dieser Stadt – ich war ausgestiegen und zu Fuß weitergegangen – kam ein helles Zwitschern auf, aber es klang nicht wie Vogelstimmen, es klang metallisch. Ich folgte ihm und dachte an einen futuristischen Vogelschwarm, silbrige, von Chips gesteuerte Kolibris, zum Vergnügen programmiert oder für den Einsatz in einem subtilen Krieg. Dann, um eine letzte Ecke biegend, sah ich sie: Es war der Schwarm der Schreiber, es war ihr Platz. Zu Hunderten saßen sie auf dem Steinboden, vor sich kurzbeinige Tischchen, darauf warteten ihre mechanischen Schreibmaschinen auf Kundschaft. Schreiber von Petitionen gab es, von Bewerbungen und Anträgen jeder nur denkbaren Art, sie setzten Kauf- und Heiratsverträge auf und tippten wichtige, ihnen ins Ohr geflüsterte Briefe. Ab und zu legte sich das Gezwitscher, das mich angelockt hatte, um bald wieder einzusetzen – der vielhundertfache Anschlag all dieser Schreibmaschinen. Als ich ging, loderte es auf wie ein Busch voller Spatzen.
Das nächste, was ich sah, war ein nackter Bettler mitten auf der Straße, ein magerer brauner Körper, groteske Verrenkungen darbietend. Der Verkehr teilte sich und umfloß geschmeidig selbst seine exaltiertesten Gesten. Alles drängte weiter, vorbei. Was lag, blieb liegen. Jeder lenkte seinen Bus, sein Mofa, sein Tier um den Nackten herum, ohne ihn zu beachten. Kamele, Menschen, Esel, vor schwankende, hochbeladene Karren gespannt – das Rad des Lebens war kein Bild, keine mystische Idee, es war hier. Es rollte fort und fort, es versetzte mir sanfte und grobe Stöße, und gab ich nicht acht, würde es mich überrollen, wie es so viele vor mir mitleidlos überrollt hatte, angeschoben und immer weitergeschoben von Wünschen und Nöten, Träumen und Begierden, von Muskeln und dünnen Sehnen und verbranntem Benzin – unablässig um die alte Achse sich drehend, mahlend, mahlend, zu Asche, zu Staub.
Nur eine Art ging unberührt durch den großen Lärm, aufreizend langsam: die heilige Kuh. Auf ihrem Pfad durch die ewige Rushhour aus blechernen und fleischlichen Leibern und den Morast, den sie hinterließen, zeigte das Kuhgesicht immer denselben mürrischen Gleichmut, ob die Lippen nun saftige grüne Blätter rupften oder weggeworfene Reste von Dal fanden, dem Linsengericht. In dieser vollkommenen Unbekümmertheit um die Blicke der Menschen glichen die heiligen Kühe den heiligen Männern, die irgendwann ihre Familien verlassen hatten und ihr ganzes emsiges Leben, um safranfarben gekleidet oder auch nackt durch den Rest ihrer Tage zu ziehen. Beide gingen durch die Welt, ohne ihr noch anzugehören.
Die heiligen Männer lagen in Tempeln oder auf eisigen Höhen, rauchend, uralte Verse murmelnd, von dem einzigen Wunsch beseelt: Nach diesem Leben nicht noch einmal in den Strom, unters Rad, in noch eine Haut, die so vieles halten muß, was sich stößt und sticht und auseinanderwill. Bei einem hatte ich eine Weile gesessen, vor einem Dorf, das er den Sommer über als Bleibe gewählt hatte. Da hockte er, rauchte Bidis, schwieg meistens und ließ sich von den Dörflern versorgen, die sich glücklich schätzten, so einen heiligen Vogel zu haben, einen zugeflogenen Sadhu. Nach Stunden hatte ich genug gesessen, stand auf und ging. Er beachtete es ebensowenig wie mein Erscheinen.
Irgendwann bemerkte ich, daß mir der Ekel abhanden gekommen war – der Ekel vor Indiens Dünsten, den süßen, den scharfen, denen von Fäulnis, Kot und Verwesung, vor der hellroten Spucke der Betelnußkauer auf Schritt und Tritt, wie verspritztes Blut. All das griff mich nicht mehr an, der körperliche Aufruhr gegen das Fremde in seiner abstoßenden Gestalt blieb aus. Und gegen Indiens Hitze half...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2009 |
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Illustrationen | Silke Lauffs |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Kambodscha • Nepal • Reisebericht • Reportage |
ISBN-10 | 3-644-10001-2 / 3644100012 |
ISBN-13 | 978-3-644-10001-5 / 9783644100015 |
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