Nach allen Regeln der Kunst (eBook)
367 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77965-0 (ISBN)
Vom weißen Blatt zum Buch
Hanns-Josef Ortheil, Schriftsteller und Professor für Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim, entwirft in Nach allen Regeln der Kunst ein schillerndes, anregendes Panorama seiner über dreißigjährigen, unkonventionellen und erfrischend gegenwartsbezogenen Lehre.
Vom berüchtigten weißen Blatt ausgehend, lädt er anhand von inspirierenden Schreibaufgaben zu einer weiten Reise durch die Ländereien des Erzählens ein - von der Skizze und ersten Entwürfen bis hin zur Erzählung oder der Arbeit am Roman. Anhand von Seitenblicken auf andere Texte und Bücher entsteht nebenbei auch eine breit angelegte Recherche nach den unterschiedlichen Facetten literarischer Formen und Kreativität.
Auf verblüffende Weise bezieht Ortheils Lehre nicht vermutete Vorgaben anderer Künste wie Musik, Malerei, Fotografie oder Film in das literarische Entwerfen und Planen mit ein. Nicht zuletzt ist sein Buch eine faszinierende Erzählung über den Umgang mit jungen oder älteren Schreibtalenten, die sich bedingungslos für das eigene Schreiben entschieden haben - und bietet dadurch viele Anregungen für alle, die diesen kreativen Schaffensprozess selbst erleben möchten.
<p>Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck, dem Brandenburgischen Literaturpreis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Villa Massimo Stipendium. Seine Kindheit und Jugend waren von der Vorbereitung auf ein Leben als Pianist geprägt. Seine ersten Texte schrieb er unter Anleitung seines Vaters in der elterlichen Heimat des Westerwaldes, seiner »Urlandschaft«. Noch immer zieht er sich in sein dortiges Elternhaus häufig zum Schreiben zurück.</p>
I
Vorgeschichten
Ein Buch schreiben?
Im Frühjahr 2020 will ich aus dem Süden nach Hildesheim fahren, so wie seit dreißig Jahren. Ich habe bereits gepackt und die Bücherration zusammengestellt, die ich jedes Mal mit auf die Bahnreise nehme. In Hildesheim unterrichte ich am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität, bleibe einige Tage und fahre danach wieder zurück.
Ich bin an diese Rhythmen gewöhnt, ich habe sie sozusagen im Blut. Die gedankliche Vorbereitung, das Packen, die Zugfahrt, der Unterricht – daraus besteht ein großer Teil meines Lebens. Er kreist um Themen des Schreibens: Wie und was schreiben? Woher die Impulse beziehen? Welche innovativen Wege einschlagen?
Die Tage in Hildesheim akzentuieren diese Fragen immer von neuem, deswegen mag ich den Unterricht – die Konzentration, die Wege in die Ideenkammern, das Notieren und Entwerfen, die Suche nach überzeugenden Antworten auf die genannten Fragen.
Während der Bahnfahrt lese ich studentische Texte, gehe meine Aufzeichnungen der letzten Tage durch und blättere in den Büchern, aus denen ich vorlesen oder zitieren werde. Nach der Ankunft fahre ich mit dem Fahrrad zur Domäne Marienburg, einem mittelalterlichen Bischofssitz außerhalb der Stadt auf den flachen, niedersächsischen Feldern. Dort liegt der kulturwissenschaftliche Campus der Universität mit seinen Instituten und Fächern: Literatur, Theater & Medien, Kunst, Musik, Kulturpolitik und Philosophie.
Nach einer halben Stunde Fahrt erreiche ich das alte Pächterhaus und öffne die Tür des Arbeitszimmers. Ich packe meine Bücher und Aufzeichnungen aus und lasse Musik laufen, oft ist es Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Die Hildesheim-Lehre und Bachs Kunst der Fuge gehören zusammen, denn diese Musik handelt in meinen Ohren von den kreativen Szenen, die ich im Blick behalten möchte: ein Motiv, ein Thema, die Eröffnung, seine Fortführung und Variation, weitere Motive und Themen, die heiklen Momente ihrer Bearbeitung.
Im Frühjahr 2020 jedoch werden meine Aufenthalte im Norden jäh durch den Beginn der Pandemie unterbrochen. Anfangs spiele ich die plötzlich aufflammende Bedrohung herunter und rede mir ein, dass ich bald wieder nach Hildesheim fahren werde. Dann aber stellt sich heraus, dass ich lange Zeit nicht dorthin reisen kann.
Der Bruch hinterlässt Spuren. Ich fange an, aus der Ferne an Hildesheim zu denken, und suche in meinen Archiven nach Notaten und Aufzeichnungen aus den letzten Jahrzehnten. Je häufiger ich das Erinnerungsmaterial durchgehe, desto stärker wächst die Lust, die daran anknüpfenden Überlegungen festzuhalten. Mit ihrer Hilfe könnte ich meine Ideen zum Kreativen und Literarischen Schreiben fixieren. So entsteht die Idee, ein Buch über meine Hildesheim-Lehre zu schreiben.
Wie alles begann
Im Sommer 1990 erscheint in der Wochenzeitung Die Zeit die Ausschreibung einer Stelle für Kreatives Schreiben im Studiengang Kulturpädagogik/Deutsch an der Universität Hildesheim. Bewerberinnen oder Bewerber »sollten auf diesem Gebiet Erfahrung aufweisen und auch in der modernen deutschen Literaturgeschichte und/oder in der modernen Ästhetik ausgewiesen sein«.
Kurze Zeit später schicke ich meine Unterlagen an den Rektor der Universität und werde danach zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Es findet am 27.September 1990 in Hildesheim statt. Zwei Professoren und ein Mitglied des Akademischen Mittelbaus sind anwesend und befragen mich nach Lehre und Forschung.
Damals bin ich fast vierzig Jahre alt. Ich habe nach dem Studium der Philosophie, Literatur-, Musik-, Kunst- und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Mainz, Göttingen, Rom und Paris über den Deutschen Roman zur Zeit der Französischen Revolution promoviert und danach zwölf Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hochschulassistent am Deutschen Institut der Mainzer Universität gearbeitet.
1979 ist im S.Fischer-Verlag mein erster Roman (Fermer) erschienen, in den Folgejahren habe ich Bücher über Mozarts Briefe, den expressionistischen Lyriker Wilhelm Klemm, eine Monografie über Jean Paul sowie zwei Essaybände zur Ästhetik der Gegenwart veröffentlicht. Weitere Romane (Hecke, Schwerenöter und Agenten) sind 1983, 1987 und 1989 erschienen. Außerdem habe ich in den vorangegangenen Jahrzehnten viele kulturjournalistische Texte in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften publiziert: Feuilletons, Kritiken, Glossen oder Porträts.
Überblickt man diese Veröffentlichungen, scheine ich für die Hildesheimer Stelle gut geeignet. Unterrichtserfahrung habe ich auf dem Gebiet des Kreativen Schreibens ebenfalls. Ich bin 1988 Writer in residence an der Washington-Universität in St.Louis gewesen und habe dort viele Facetten des amerikanischen Creative Writing kennengelernt. Auch während der Mainzer Jahre habe ich in den universitären Unterricht Übungen im Kreativen Schreiben einfließen lassen und darüber hinaus am Projekt eines Studiengangs gearbeitet, das von den Fächern Germanistik und Publizistik aufgebaut und gestaltet werden sollte. Das Konzept sah vor, Literarisches und Journalistisches Schreiben miteinander zu verbinden und Redaktionen der Mainzer Sendeanstalten von Fernsehen und Rundfunk (ZDF, 3sat, SWR) in die Lehre einzubeziehen. So hätte ein ideales Experimentierfeld für Texte entstehen können, die in den Medien präsentiert worden wären. Dieses Konzept wurde jedoch nie verwirklicht, da es nicht genug Befürworter im Professorengremium fand. Nach dem Scheitern dieser Pläne hatte ich die Universität Mainz verlassen und als freier Schriftsteller gearbeitet.
Als ich im Sommer 1990 die Ausschreibung der Stelle für Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim entdecke, erscheint sie mir wie ein Angebot für die Umsetzung meines in Mainz unverwirklicht gebliebenen Projekts. Wenige Tage nach dem Hildesheimer Bewerbungsgespräch erhalte ich eine positive Rückmeldung des Rektorats – meine Bewerbung war erfolgreich. Ich fahre zum zweiten Mal nach Hildesheim, um mich mit meinen zukünftigen Kolleginnen und Kollegen über die Details der Lehre abzusprechen. In den Gesprächen mit den Lehrenden des Instituts für deutsche Sprache und Literatur erfahre ich genauer, was man von mir erwartet.
Der Diplomstudiengang Kulturpädagogik ist damals eine in der deutschen Hochschullandschaft einmalige Konstruktion. Sie erlaubt den Studierenden, Literatur, Theater, Medien, Kunst oder Musik als künstlerisch-wissenschaftliche Fächer in Theorie und Praxis gleichzeitig zu studieren. Literatur zum Beispiel wird als Literaturtheorie oder Literaturgeschichte von Literaturwissenschaftlern unterrichtet, während der Unterricht in Kreativem Schreiben die Praxis des Schreibens in den Vordergrund rückt.
Die Konzeption des Studiengangs Kulturpädagogik erinnerte mich durch ihre Verbindung von Theorie und Praxis an die Gespräche, die ich früher oft mit befreundeten Künstlern geführt hatte. Sie studierten an einer Kunstakademie, wobei das Studium aus einer handwerklichen, praxisbezogenen Ausbildung in einer frei gewählten Kunstsparte (Bildhauerei, Malerei, Fotografie etc.) bestand, die durch theoretische und wissenschaftliche Studien ergänzt wurde.
In Kunstakademien existierte eine lange Tradition dieser Verbindungen von praktischem und theoretischem Wissen, die sich aus ihren ersten Gründungen während der italienischen Renaissance in Florenz und Rom herleiten ließen. Damals waren...
Erscheint lt. Verlag | 18.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
Schlagworte | aktuelles Buch • Autoren-Ratgeber • Bücher • Bücher Neuererscheinung • Der Stift und das Papier • Die Berlinreise • Greve-Literaturpreis 2016 • Handwerk des Schreibens • Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft • Kreativität • Kulturjournalismus • Kunst • Landesverdienstorden Rheinland-Pfalz 2022 • Literarisches Schreiben • Mariana Leky • Neuererscheinung • neues Buch • Nicolas Born-Preis 2007 • Paris links der Seine • Schaffenskrise • Schreibblockade • Schreiben dicht am Leben • Schreiben lernen • Schreiben über mich selbst • Schreib-Ratgeber • Schreibstau • Schreibtipps • Schriftsteller werden • Sternstunden der Weltliteratur • Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck 2002 • Universität Hildesheim • Unterwegs im Westerwald • weißes Blatt Papier • Wie ich Klavierspielen lernte • writer's block |
ISBN-10 | 3-458-77965-5 / 3458779655 |
ISBN-13 | 978-3-458-77965-0 / 9783458779650 |
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