Kurt Weills Musiktheater (eBook)
950 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-77778-5 (ISBN)
Das Musiktheater des zwanzigsten Jahrhunderts wurde wesentlich von Kurt Weill (1900-1950) geprägt, am berühmtesten ist seine kongeniale Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, aus der eine der bis heute meistgespielten Opern der Welt hervorging: die Dreigroschenoper.
1933 musste der jüdische Komponist fliehen, zunächst nach Frankreich, 1935 emigrierte er dann in die USA, wo er am Broadway große Erfolge feiern konnte.
Stephen Hinton betrachtet in dieser ersten umfassenden Monografie Weills Entwicklung, seine Experimente mit den unterschiedlichsten Genres und Stilmitteln - von Einaktern und Theaterstücken mit Musik bis hin zum Broadway-Musical. Es zeigen sich »zwei Weills« - der europäische und der amerikanische: Europa und Amerika als die beiden Pole seines Lebens und Wirkens. Berlin wird am Broadway hörbar und in Berlin, Paris, London, Kiew und anderswo in Europa ein amerikanisch verwandelter Kurt Weill.
Stephen Hinton, geboren 1955 in London, studierte Germanistik und Musikwissenschaft in Birmingham. Der weltweit bekannte Weill-Experte lehrte in Berlin und an der Yale University und ist heute Avalon Foundation Professor in the Humanities an der Stanford University.
Vorwort und Danksagungen
Im Jahre 1947, weniger als drei Jahre vor seinem Tod im Alter von fünfzig Jahren, fasste Kurt Weill seine Karriere in einem einzigen nüchternen Satz zusammen: »Seit ich mit 19 Jahren festgestellt hatte, daß das Theater meine eigentliche Domäne werden würde, habe ich ständig auf meine eigene Weise versucht, die Formprobleme des musikalischen Theaters zu lösen; und im Verlauf der Jahre habe ich mich diesen Problemen auf sehr verschiedene Weise genähert.«1 Wenn sich die Absicht dieses Buches ähnlich prägnant zusammenfassen ließe, so hieße dies, Weills knappe autobiografische Aussage im Einzelnen zu erkunden. Was sind die »Formprobleme«? Was besagt »verschiedene Weise«? Was bedeutet »meine eigene Weise«? Und was geschah im Jahre 1919, als er neunzehn war?
»Domäne« schließt Komposition ein, ist allerdings damit nicht identisch. Sein erstes Werk für das Musiktheater, die Ballettpantomime Zaubernacht, komponierte Weill erst 1922. In der zweiten Hälfte des Jahres 1919, nachdem er seine Studien in Berlin unterbrochen hatte – ein Kompositionsstudium bei Engelbert Humperdinck und Kurse in Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität –, arbeitete er zuerst als Korrepetitor in seiner Heimatstadt Dessau und danach, auf Humperdincks Empfehlung, als Zweiter Kapellmeister, kurze Zeit später dann als Chefdirigent in der südwestfälischen Stadt Lüdenscheid. Dies verschaffte ihm praktische Erfahrungen in der Welt von Oper und Operette. Die Teilnahme an Ferruccio Busonis Meisterklasse von 1921 bis zum Tod des Meisters 1924 bestärkte ihn in seiner ohnehin bereits festen Berufsvorstellung.
Dem »Bekenntnis zur Oper«, wie dies Weill in einer frühen Programmschrift nannte, und weiter gefasst dem Bekenntnis zum Theater blieb er zeit seines Berufslebens treu.2 Die Formulierung »ständig […] Formprobleme […] zu lösen« trifft gut die Mischung von Pragmatismus und Idealismus, die sein Werk prägt. Seine vielgestaltigen Talente gingen Hand in Hand mit seinem beständigen Verlangen nach substanzieller Erneuerung. Hinter der enormen Vielfalt seines Werkes stand, so scheint er sagen zu wollen, ein gemeinsames künstlerisches Vorhaben – »meine eigene Weise«. In diesem Buch erkunde ich sowohl die Vielzahl der Lösungen für die Probleme, denen er sich unaufhörlich stellte, als auch die seinem Ansatz zugrunde liegende Gesamtästhetik.
Der Untertitel »Vom Songspiel zur American Opera« bezieht sich sowohl auf die Formen des Theaters, die Weills wichtigstes künstlerisches Betätigungsfeld waren, als auch auf seine Karriere im Ganzen, die sich in eine Reihe verschiedener Entwicklungsphasen unterteilen lässt.3 Diese zweifache Bezugnahme korrespondiert dabei mit der Mehrdeutigkeit von »Reform« im Untertitel der ursprünglichen englischsprachigen Fassung dieses Buches: »Stages of Reform«. Auf einer Ebene soll damit an berühmte Vorgänger Weills erinnert werden, vor allem an Gluck und Wagner, die ihr Schaffen im Sinne einer Reform der Oper verstanden, eine Zielsetzung, die sich in ihrer posthumen Reputation bestätigt. Weill hegte ähnliche Ambitionen. Wann immer er sich über seine vielen Projekte äußerte – etwas, das er sowohl privat wie öffentlich nahezu ständig tat –, so konzentrierte er sich dabei nicht nur auf seine Beschäftigung als Mann des Theaters, sondern er hatte insbesondere seine Bestrebungen als Erneuerer und Wegbereiter im Blick. Das Adjektiv »neu« war aus seinem Wortschatz so wenig wegzudenken wie aus dem Busonis mit dessen »neuer Ästhetik«. Trotz der verschiedenen Bühnen und Etappen seiner Karriere, die Institutionen und Gattungen aller Art einbezog, sich über zwei Kontinente erstreckte und etwa drei Jahrzehnte andauerte, scheint es die Rolle des Theaterreformers zu sein – eine Rolle, der er sich verschrieben hatte –, die den Schlüssel zu Weills relativ kurzem, aber intensiven Schaffen liefern dürfte.
Weill mag eine größere Nähe zu Glucks achtzehntem Jahrhundert verspürt haben als zu Wagners neunzehntem, jedoch war es Wagners anhaltende Präsenz, die jene Musiker heimsuchte, deren Karriere, wie die Weills, nach dem Ersten Weltkrieg begann. »Warum«, so fragt er 1927 mit Bezug auf Beethoven, »stehen uns Jungen trotz aller Verehrung für den Meister Mozart oder Bach näher?« Die Schuld dafür gab er der Überlieferung, insbesondere Wagners Beethovenrezeption. Wagner habe einem »Vorurteil« Vorschub geleistet, von dem »wir uns befreien« müssen.4 »Unsere Generation«, so schreibt er weiter im Jahre 1929, »konnte schon als Kind Wagner nicht mehr hören.«5 Das Verhältnis zu Wagner war schwierig. Obwohl in den 1920er Jahren eine wagnerkritische Einstellung zum absoluten Muss gehörte, sollte doch daran erinnert werden, dass dieselbe Generation, die zeitgenössische Musik und zeitgenössisches Theater spezifisch und ausdrücklich als Negation der Kunst Wagners bestimmte, dieser davor absolut hörig gewesen war. Dass Weill seinen Widerwillen gegenüber Wagner zurückdatiert, ist nicht nur irreführend, sondern auch symptomatisch für die Intensität der früheren Ergebenheit.
In seinem letzten Schuljahr zum Beispiel hielt er einen Vortrag über Die Meistersinger (wie wir aus einem erhalten gebliebenen Manuskript wissen), die er in offensichtlich grenzenloser Verehrung als das »herrlichste[] Werk« beschrieb und deren »gesunden Humor« er lobte. Schließlich erklärt er, es sei genau diese Qualität, die es Wagners Werk erlaube, sich »den Weg in die Herzen der Deutschen, die einen ihrer grössten Geniuse bisher so schmählich behandelt hatten[, zu bahnen]«. Kurz danach, als Siebzehnjähriger, begleitete er den »Liebestod« aus Tristan und Isolde auf dem Klavier. Er berichtete seinem Bruder Hans, das Konzert habe »kolossalen Applaus, insbesondere beim ›Tristan‹« erhalten. Des Weiteren gestand er ihm, er »glaube, eine anständige Tristan Aufführung wird für mich immer ein Erlebnis sein. So viel steckt wohl in keiner Opernpartitur weiter; so kann man sich wohl in keine Musik weiter hineinversenken beim Anhören und Hineinknien beim Einstudieren und Darstellen.« Da Wagner auf Weill und dessen Zeitgenossen einen solch nachhaltigen Einfluss hatte, erwies sich das Bemühen, ihn zu verdrängen, als ein quasi-ödipaler Generationskonflikt. Wagner musste durch bewusste, ja selbstbewusste Negation überwunden werden, obwohl diese Teufelsaustreibung nie wirklich gelang.6
Weill zog es vor, andere Männer des europäischen Theaters als Vorbilder anzuführen: zu Beginn natürlich Mozart, dann aber auch Verdi, Offenbach und Puccini. Es lässt sich von jedem etwas in Weill finden, gemeinsam mit allem, was von Wagner haften geblieben war. Auch lud Weill zum Vergleich mit Strawinsky ein und, während der 1940er Jahre, mit amerikanischen Kollegen wie Gershwin und Rodgers. In der Hauptsache aber bezog er sich auf Busoni. Insbesondere war dessen Opernlehre von bleibendem Einfluss auf Weills eigene musiktheoretische Äußerungen, und zwar auch dann, wenn die Quelle ungenannt blieb. Damit etablierte Weill den Stammbaum eigener Kreativität.
Wie bei der ansonsten völlig von ihm verschiedenen Art Wagners ist »Reform« für Weill nicht nur eine technische Angelegenheit oder eine solche der Form. Sie ist auch moralisch. Den Behauptungen zahlreicher Kritiker zum Trotz nutzte Weill die Bühne weder für rein formalistische Experimente noch für bloße Unterhaltung, sondern vor allem, um mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren: Von seinen ersten bis zu seinen letzten Kompositionen für die Bühne fühlte er sich verpflichtet, auf verschiedenen Ebenen die Natur der Menschheit schlechthin zu erkunden. Das musikalische Theater, das für ihn Drama durch Musik bedeutete, war bei dieser Unternehmung eher Hilfe als Hindernis. Wie er 1936 erklärte, kann »die Bühne heute nur ein Existenzrecht beanspruchen […], wenn sie eine höhere Ebene von Wahrheit anstrebt«.7 Indem sie erlaubt, Charaktere in extremen Situationen, in denen das Sprechen dem Singen weicht, zu erkunden, bahnt sie einen Zugang zu dieser »höhere[n] Ebene«.
Weill suchte mit seinen Reformen in der experimentierfreudigen Weimarer Republik nach einem neuen Publikum, nach neuer Rezeption seiner Kunst. Das Theater nicht nur einer neuen, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit...
Erscheint lt. Verlag | 11.12.2023 |
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Übersetzer | Veit Friemert |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
Schlagworte | aktuelles Buch • American Opera • Berlin • Bertolt Brecht • Broadway • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Die Dreigroschenoper • Episches Theater • Kurt Weill Foundation • Manhattan • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Songspiel |
ISBN-10 | 3-633-77778-4 / 3633777784 |
ISBN-13 | 978-3-633-77778-5 / 9783633777785 |
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