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Im Ruhrgebiet -  Klaus-Peter Busse

Im Ruhrgebiet (eBook)

Raumlust und Reisen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
164 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-0374-3 (ISBN)
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»Ruhr | Atlas« ist eine mehrteilige Publikation zur Kartografie und Nutzung von Räumen und Orten im Ruhrgebiet. Sie stellt wichtige Kunstwerke vor, die sich mit Orten im Ruhrgebiet auseinandersetzen. Das Buch Im Ruhrgebiet. Mapping und Raumspiele (Band 1) untersucht und ordnet Bilder als Annäherung an die Metropolregion. Zugleich entwirft das Buch neue Perspektiven auf das Mapping als Methode der zeitgenössischen Kunst. Das Buch »Im Ruhrgebiet | Raumlust und Reisen« (Ruhr | Atlas, Band 2) entdeckt die Region als Reiseraum in einem kulturgeschichtlichen Zusammenhang. Das Reisen folgt kulturellen Vorlieben und Plänen, die sich in Reiseführern niedergelegt haben. Es kann auch im Ruhrgebiet zur Entdeckung bislang unerforschter Räume führen. Der Umgang mit Bildern spielt dabei eine wichtige Rolle. So findet man sogar Sehnsuchtsorte, wenn man vom Emscherland in die Ferne blickt.

Dr. Klaus-Peter Busse, Universitätsprofessor an der TU Dortmund bis 2019, war Sprecher der Ruhruniversitäten im Kulturhauptstadtjahr »Ruhr 2010«. Er ist Autor mehrerer Veröffentlichungen zum künstlerischen Mapping und Initiator der Ausstellung Emscherpanorama im Dortmunder U (2018).

ABY WARBURG
IM WILDEN WESTEN


Straßenansicht Südwesten USA, spätes 19. Jahrhundert. Foto: Archiv des Verfassers

Ein Fingerreisender war der Kunsthistoriker Aby Warburg bestimmt nicht. Man erkennt in seinen Werken ein ausgesprochenes Interesse an Mitteln zur Fortbewegung, an Zeppelinen, Schiffen und Eisenbahnen, sogar an den Medien, die Informationen bewegen: an Telegrafenmasten und Stromleitungen. Aby Warburg war Zeitzeuge dieser gewaltigen Veränderungen in der Nutzung von Raum und Information. Vor allem aber reiste er selbst gerne, nicht nur nach Italien, sondern auch nach Amerika. Der Kunsthistoriker, befasst mit der italienischen Renaissance, begab sich 1895 auf den langen Weg zu einem Land, in dem zeitgleich Butch Cassidy und Sundance Kid Banken überfielen und Buffalo Bill den Mythos des Wilden Westens durch die Gründung der Stadt Cody begründete, der sich auch in Europa durch seine Auftritte im Zirkus ausbreitete. Aby Warburg wusste davon sicherlich, denn er war ein aufmerksamer Zeitungsleser, aber er hatte andere Interessen.1 Er fuhr nicht nach Wyoming und Montana, sondern in den Südwesten nach Colorado, Utah und Arizona. Er reiste großbürgerlich und bewegte sich in angesehenen Kreisen der damaligen Zeit. Trotzdem sieht man auf den Fotografien, die es von der Reise gibt, einen Hamburger, der sich in seiner Kleidung den Gegebenheiten angepasst hat: ein Europäer, der sich in einem wilden Gebiet bewegt. Karl May und die vielen Filme, die nach seinen Romanen gedreht wurden und zum Filmkanon der 1960er-Jahre gehören, haben diesen Männern aus Europa in Amerika ein literarisches Denkmal hinterlassen: gut gekleidete Herren, die auf Kutschen neue Gelände erkunden und Indianern begegnen. Darauf hatte es Aby Warburg abgesehen. Mit einem Dampfschiff stach er in See und erreichte New York. Über Washington und Chicago kam Warburg im Südwesten der USA an. Er hatte die Reise gut vorbereitet und befand sich in sachkundiger Begleitung. Von der Eisenbahn musste er auf die Pferdekutsche wechseln, um in die indianischen Dörfer zu kommen, wo er die Tänze und Schlangenrituale der Pueblo-Indianer beobachten und Felszeichnungen besichtigen konnte. Während dieser anstrengenden Reise suchte Aby Warburg auffällig oft den Umgang mit Bildern. Er fotografierte selbst, beschäftigte sich mit den lokalen Bildwerken und ließ sogar Kinder der einheimischen Bevölkerung Gewitter zeichnen, um zu prüfen, ob sie ihre Wirklichkeitswahrnehmung mit rituellen Modellen deuteten. Tatsächlich entdeckte er Kinder, die das Gewitter in Form einer Schlange darstellten, und er deutete dieses Verhalten als das »Nachleben primitiver Weltanschauungen«. Aby Warburg war am Ziel seiner Reise, die er akribisch dokumentierte, weil er beabsichtigte, die Reise in Hamburg in Vorträgen vorzustellen. Dazu benötigte er Bilder und Landkarten, denn bekannt war diese amerikanische Gegend kaum, wenngleich sich damals Zeitschriften und Vergnügungsparks anschickten, diese Landschaft medial zu simulieren: der Cowboy und der Indianer in Europa als Zirkusevent. Die amerikanische Reise war sicherlich ein Abenteuer voller Erfahrungen auch mit den neuen Möglichkeiten, sich in diesem Gelände zu bewegen. Aby Warburg nutzte alle Fahrzeuge: vom Schiff über die Eisenbahn in die Kutsche. Mehr als zwanzig Jahre später wird er die Fotografie von einem Zeppelin in seinen »Atlas« kleben, mit dem man den Atlantik überqueren konnte. Aby Warburg erkannte in diesen Verkehrsmitteln und Erfindungen einen grundlegenden Epocheneinschnitt. Das erkennt man in den Bildern, die er nach Hause brachte.

Die Fotografien Aby Warburgs geben Aufschluss über seine Blickfelder nicht nur als Beobachter ritueller Tänze. Es finden sich Bilder seiner Reisebewegungen, Transportmittel, besuchter Bahnhöfe und von Eisenbahntrassen, von Freunden und Reisebegleitungen, natürlich von Navajo-Indianern und von ihren Ritualen. Warburg fotografiert die durchquerten Landschaften und immer wieder die unterschiedlichen Architekturen von Hotels und Villen, die sich im Kontrast zu den Fotografien der Häuser und Hütten befinden, in denen die Pueblo-Indianer wohnen. Im Rahmen der Ausstellung »Blitzsymbol & Schlangentanz«, die Warburgs »amerikanischen Sammlung« volkskundlicher Objekte erstmals zeigte, bewertete man das Verhalten Aby Warburgs gegenüber der einheimischen Bevölkerung als »bedenklich«.2 »So fotografierte Warburg bei einem Frühlingszeremoniell der Hopi, setzte sich deren Masken auf und störte die Teilnehmer an ihren Ritualen. Um eine Pueblo-Bewohnerin besser ablichten zu können, wurden ihr auf sehr bedrängende Weise von zwei Männern die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Auch eignete sich der Historiker vom Gouverneur eines Dorfes geheimes religiöses Wissen an.« Aby Warburg sei ein »aufdringlicher Tourist« gewesen.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Kunsthistoriker Straßenansichten und dem Leben auf diesen Straßen. Er fotografiert italienische Straßenmusiker und chinesische Arbeiter, als ob er etwas darstellen wollte, was wir heute Globalisierung nennen. Eine Fotografie ist - neben den Bildern, die Warburg mit einer Helmmaske zeigen - besonders prominent. Sie zeigt einen Amerikaner mit Zylinder, der in San Fransisco durch die Innenstadt geht, vorbei an einem Rundbau auf dem Bürgersteig unter Stromleitungen. Warburg hat diesen Amerikaner selbst »Uncle Sam« genannt. In dem Vortrag »Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika« deutet er 1923 dieses Bild: »Den Überwinder des Schlangenkults und der Blitzfurcht, den Erben der Ureinwohner und goldsuchenden Verdränger des Indianers konnte ich als Symbol auf der Straße in San Fransisco im Augenblicksbilde einfangen. Es ist Onkel Sam mit dem Zylinder, der voll Stolz vor einem nachgeahmten antiken Rundbau die Straße entlang geht. Über seinem Zylinder zieht sich der elektrische Draht. In dieser Kupferschlange Edisons hat er der Natur den Blitz entwunden. Dem heutigen Amerikaner erregt die Klapperschlange keine Furcht mehr. […] . Was ihr entgegengesetzt wird, ist Ausrottung. Der im Draht gefangene Blitz, die gefangene Elektrizität, hat eine Kultur erzeugt, die mit dem Heidentum aufräumt. […] Durch sie zerstört die Kultur des Maschinenzeitalters das, was sich die aus dem Mythos erwachsene Naturwissenschaft mühsam errang, den Andachtsraum, der sich in den Denkraum verwandelte. […] Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos. Das mythische und symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Verknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverbindung raubt, falls nicht eine disciplinierte Humanität die Hemmung des Gewissens wieder einstellt.«3 Aby Warburg sieht in seinen Fotografien, die Szenen seiner Amerikareise zwischen Stadt und Indianergebiet darstellen, im Zusammenhang einer kulturkritischen Auseinandersetzung, einer »Schwellenerfahrung«, wie dies Walter Benjamin später nennen wird. Die Erkundung dieser Räume mit dem Fotoapparat folgte nicht nur touristischen Interessen, sondern verdichtet sich in einer ethnologischen Bewertung, deren Aktualität Horst Bredekamp betont. Warburgs Raumerkundung schlägt sich in wissenschaftlichen Bewertungen nieder. Der Wissenschaftler arbeitete dabei mit Bildern und Landkarten. Er bewegte sich auf diese Weise zwischen wissenschaftlichen, künstlerisch-bildorientierten und alltäglichen Handlungsrepertoires. Aby Warburg hatte also ein Forschungsinteresse, orientierte sich an einem deutlichen Konzept der Bildproduktion und verhielt sich an vielen Stellen so, wie es ein Tourist macht, der seine Reise in Bildern festhält, indem er Sehenswürdigkeiten, Einheimische und auffällige Szenen fotografiert, seinen touristischen Blick also einrichtet. Der Kunsthistoriker Warburg hat dabei einen ausgeprägt subjektiven Blick auf Menschen, Räume und Ereignisse, der entdecken und nicht das sehen will, was er schon weiß. Das alles macht ihn zu einem Gestalter von Raumspielen, die aber auch »abseitigen« Interessen folgen.

1 Vgl. Aby Warburg: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nordamerika. Vorträge und Fotografien, Berlin/Boston 2018 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften, hg. von Ulrich Pfisterer e.a., Dritte Abteilung, Band III.2) und Horst Bredekamp: »Aby Warburg, der Indianer«. Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie, Berlin 2019.

2 Uwe Fleckner: Aby Warburgs amerikanische Reise. Vom »Illustrierten Tagebuch« zur kulturpolitischen (Selbst)Betrachtung, in: Aby Warburg: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nordamerika. Vorträge und Fotografien, a.a.O., S. 1-24. Vgl. zu der Ausstellung: Blitzsymbol und Schlangentanz. Aby Warburg und die Pueblo-Kunst, Ausstellungskatalog MARKK Hamburg, hg. von Christine Chávez u.a., Berlin 2022 und Verena Fengler: Geheime Rituale in der Pueblo-Siedlung, in: Hamburger Abendblatt, 4. März 2022, S. 15.

3 Aby Warburg: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika, 1923, a.a.O., S. 94. Walter Benjamin äußert sich zu dem Verlust der »rites de passage« dreißig Jahre später in...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
ISBN-10 3-7568-0374-0 / 3756803740
ISBN-13 978-3-7568-0374-3 / 9783756803743
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