Schmalz und Rebellion (eBook)
208 Seiten
Duden (Verlag)
978-3-411-91393-0 (ISBN)
Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kulturjounalist für ZEIT, Rolling Stone und radioeins. Gemeinsam mit Tobi Müller kuratiert er den Popsalon am Deutschen Theater Berlin. Seine jüngsten Bücher sind: »Pop. Ein Panorama der Gegenwart« (2016), »Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik« (2019), »Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er« (2019) sowie »High Energy. Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt« (Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste im August 2021).
Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kulturjounalist für ZEIT, Rolling Stone und radioeins. Gemeinsam mit Tobi Müller kuratiert er den Popsalon am Deutschen Theater Berlin. Seine jüngsten Bücher sind: »Pop. Ein Panorama der Gegenwart« (2016), »Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik« (2019), »Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er« (2019) sowie »High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt« (Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste im August 2021).
DURCH DAS FREMDE ZU SICH SELBST FINDEN
Eine Sprachgeschichte des deutschen Pop
»Wann, tuu, zriee, forr, läts go.« Ein junger Mensch steht vor einem Spiegel und versucht, die Posen einzuüben, die er oder sie sich bei einem bewunderten Popstar abgeschaut hat: die Coolness, den Glamour, die Souveränität. Vielleicht ist dies eine der Urszenen des deutschen Pop. Man versucht, sich in eine fremde Subjektivität hineinzufühlen, die einem größer, interessanter, weltläufiger als die eigene erscheint. Das geschieht überall auf der Welt, wo junge Menschen großen Popstars nacheifern. Aber in Deutschland gehört zu dieser Einübung fast immer auch die Verwendung einer fremden Sprache. Denn cooler, glamouröser Pop wird nicht auf Deutsch gesungen, sondern auf Englisch. Oder in einer Variante des Deutschen, die sich von der Sprache des täglichen Lebens unterscheidet – durch ihr Vokabular, ihren Akzent, ihre Vermischung mit anderen Sprachen, Dialekten, Soziolekten. Wer sein will wie ein Popstar, möchte aus seinem eigenen Leben heraustreten. In Deutschland heißt das auch: Wer sein will wie ein Popstar, möchte aus seiner ganzen Kultur heraustreten und aus der Sprache dieser Kultur.
Zum Pop gehört wesentlich das Aufbegehren gegen die Elterngeneration; es ist typisch für jene biografische Zwischenphase, die man heute als Teenagerzeit bezeichnet, in der die Menschen keine Kinder mehr sind, aber auch noch nicht die Verantwortungslast des Erwachsenenlebens tragen. In dieser Phase kann man sich ausprobieren und auch darüber nachdenken, welchen Platz man in der Welt einnehmen möchte – zu welchem Menschen man werden will. Im deutschen Pop bedeutet dies oft auch: Man eignet sich andere Sprachen an, um die eigene Fremdheit in der Welt zu formulieren.
Das Eigene im Pop ist das Fremde. Oder anders gesagt: Im Pop soll das Fremde zu etwas Eigenem gemacht werden. Dass dies in Deutschland insbesondere auch für die Sprache gilt, ist schon so seit den Anfängen der deutschen Popmusik nach dem Zweiten Weltkrieg so – bloß dass es damals noch nicht die englischsprachige Popkultur war, an der man sich orientierte. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren wurde im deutschen Pop ausschließlich auf Deutsch gesungen, doch handelte es sich dabei um ein Deutsch, das von nichtdeutschen Wörtern, Sätzen, Redewendungen und von fremdländischen Akzenten durchsetzt war. Die gebürtige Italienerin und spätere Wahlfranzösin Caterina Valente verkündete mit kokettem französischem Akzent »Ganz Paris träumt von der Liebe« und erzielte damit einen der größten Hits des Jahrzehnts. Später forderte sie mit spanischen Anklängen »Spiel noch einmal für mich, Habanero« und sang italienisch angehaucht »Tschau tschau Bambina«. In ihrem erstaunlichsten Song »Tipitipitipso« wurde aus der Vermischung verschiedener Sprachen sogar eine Art dadaistisches Patois.
Der deutsche Pop nach 1945 war vom Fernweh geprägt. Er handelte davon, dass man nach Italien reisen wollte oder nach Frankreich. Darin spiegelte sich das Streben der Wirtschaftswunder-Generation nach ökonomischem Aufstieg ebenso wider wie das Bedürfnis der Deutschen, nach dem verlorenen Krieg wieder in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten aufgenommen zu werden und alles, was vor 1945 geschehen war, möglichst schnell und komplett aus dem Gedächtnis zu streichen. Der österreichische Sänger Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl gab sich das englisch klingende Pseudonym Freddy Quinn und wurde mit dem von afrokubanischen Rhythmen getragenen Lied »La Paloma« berühmt. Sein vorrangiges Thema war die Sehnsucht nach der Ferne, aber auch der Wunsch, aus der Fremde wieder nach Hause zurückzukehren: »Heimweh«, »Heimatlos«, »Junge, komm bald wieder«, so hießen Freddy Quinns Lieder. Der Jazzsänger Bill Ramsey wurde mit seinem starken US-amerikanischen Akzent zu einem der beliebtesten Schlagerinterpreten der frühen 1960er-Jahre, und die größten Stars der englischsprachigen Musik sangen für das deutsche Publikum ihre Lieder auf Deutsch: Elvis Presley coverte das Volkslied »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus«. Die Beatles, die ihre Karriere im Star-Club in Hamburg begannen, coverten sich selbst und machten aus »She loves you / yeah, yeah, yeah« mit sonderbarem, weich gedehntem Akzent »Sie liebt dich / yeah yeah«.
Anfang der 60er begannen auch die ersten deutschen Beatgruppen damit, auf Englisch zu singen, etwa The Lords und The Rattles. Sie wollten die Muttersprache ablegen, um ihren britischen Vorbildern nachzueifern, aber auch, um damit zu etwas anderem zu werden als das, was ihnen vorgegeben schien. Sie wollten ihre Identität abstreifen, die sie sowohl als individuelle als auch als nationale verstanden. Wenigstens den rebellischen, mit der Gesamtsituation unzufriedenen Teilen der Jugend galt das Deutsche nun erstens als Sprache einer provinziellen, uncoolen, abgehängten, unkreativen Kultur, als Sprache der Spießer und zweitens als Sprache der Väter- und Müttergeneration, die in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt gewesen war. Dass man auf Englisch sang, bedeutete, aus der Enge der spießigen Verhältnisse auszubrechen, in der sich die restaurative Kultur des Wirtschaftswunders bewegte. Die Sprachkompetenz war jedoch noch so begrenzt, dass man stets merkte: Hier sangen Menschen in einer Sprache, die ihnen letztlich fremd war. »When I was born you know / I couldn’t speak ›I’ll go‹ / My mother worked each day / And she learned me to say / […] Life is so hard each day«, heißt es in »Poor Boy«, dem ersten Hit der Lords. Offensichtlich hatte sich vor der Veröffentlichung kein Englischlehrer gefunden, um den Text zu korrigieren.
In den 1960er-Jahren wurde die Wahl der Sprache zu einer politischen Entscheidung: Wer auf Englisch sang, wollte sich damit »entnazifizieren« und zum Teil der kosmopolitischen Kultur des Westens werden. Dabei provozierte man aggressive Reaktionen der Protagonisten jener Kultur, von der man sich absetzen wollte. Von diesen wurde alles, was auf Englisch gesungen wurde, als »Negermusik« oder als »Hottentottenmusik« verfemt. Schon am Ende des Jahrzehnts kehrten freilich die ersten Künstler, die sich ausdrücklich als politisch verstanden, zur deutschen Sprache zurück: Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader sangen auf Deutsch, um ihre Botschaften besser zu den Hörern und Hörerinnen zu bringen – ohne die Verständnisschwierigkeiten, die durch die Übersetzung ins Englische entstehen konnten. Politisch motivierte Rockgruppen wie Ihre Kinder und Floh de Cologne übersetzten die politischen Pamphlete der 68er-Generation in agitatorischen Rock. Der Westberliner Gruppe Ton Steine Scherben gelang es dann schließlich, die intellektuelle Kälte und Abstraktheit dieser Agitation in persönlich gefärbte Emanzipationslyrik zu verwandeln: In Liedern wie »Wir müssen hier raus!« wurde das Politische tatsächlich mit dem Privaten versöhnt.
Der sogenannte Krautrock der 70er-Jahre wollte den Bruch mit der deutschen Kulturgeschichte und Tradition noch verschärfen. Es wurde vor allem ohne Gesang und Sprache – also instrumental – musiziert. Oder es sangen, etwa bei der Gruppe Can, nichtdeutsche Musiker wie der Japaner Damo Suzuki, der das Englische als Material für seine jeglichen Sprachsinn zerschlagenden Improvisationen verwendete. Lediglich eine Gruppe, die in der Mitte des Jahrzehnts aus der Krautrockszene herauswuchs, sang auf Deutsch: Kraftwerk warfen die traditionellen Rock-Instrumente weg und arbeiteten mit Synthesizern. Dazu inszenierten sie sich als Roboter und sangen in einer maschinenhaft kühlen, auf wenige Schlagworte und lyrische Fragmente reduzierten Sprache. Damit wurden sie im englischsprachigen Ausland zum Inbegriff der sonderbaren, nostalgisch klischierten und futuristischen Deutschen. Bei Kraftwerk kehrte das Deutsche als Fremdes zurück, das gerade dort, wo man alles Deutsche fremd fand, wieder zum Inbegriff der deutschen Eigenheit wurde.
Alles musste fremd werden, um zu etwas Neuem zu finden: Das war eine Seite des popmusikalischen Avantgardismus der 1970er-Jahre. Die andere Seite aber war – und sie wird in der Rückschau auf dieses Jahrzehnt gerne übersehen – die Wiederaneignung einer deutschen Tradition, die im Weltbild der 68er, bei den Kindern von Marx und Coca-Cola, schlicht nicht mehr vorkam. Gruppen wie Hölderlin, Novalis und Ougenweide wollten wieder an die deutsche Kulturgeschichte vor dem Nationalsozialismus anschließen: Sie vertonten Minnelyrik und sangen auf Alt- und Mittelhochdeutsch, sie spielten auf mittelalterlichen Instrumenten und suchten inmitten der gesellschaftlichen Modernisierung nach einem Weg zurück in die Tradition. Auch wurden Mundarten, Dialekte und verschwindende Sprachen wieder genutzt – nicht zuletzt als politische Widerstandsgeste gegen die Vereinheitlichung der Kultur und der Sprache. Ein musikalischer Einsatz für mehr Diversität! Liedermacher wie Hannes Wader und Knut Kiesewetter begannen...
Erscheint lt. Verlag | 17.6.2022 |
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Reihe/Serie | Duden - Sachbuch |
Duden - Sachbuch | Duden-Sachbuch |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik ► Pop / Rock |
Schlagworte | Deutsche Songtexte • Deutschpop • Deutschpunk • Deutschrap • Deutschrock • NDW • Neue Deutsche Welle • Popgeschichte • Popkultur • Popmusik • Rockmusik • Schlager • Sprachwandel • Volksmusik |
ISBN-10 | 3-411-91393-2 / 3411913932 |
ISBN-13 | 978-3-411-91393-0 / 9783411913930 |
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