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Klassik drastisch (eBook)

Lippenbekenntnisse zweier Musik-Nerds
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
200 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2177-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Klassik drastisch -  Devid Striesow,  Axel Ranisch
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Die Welt der Klassischen Musik ist eine Schatzkammer des Glücks. Und zwar für alle. Axel Ranisch und Devid Striesow sind Klassik-Nerds. Und Freunde - Musikfreunde. Ihre Leben sind mit Klassischer Musik verwoben. Sie lieben die Geschichten hinter den Werken, die Eigenarten der Komponisten, ihre spleenigen Abenteuer in historischen Gewändern. Sie lieben die Kraft des Orchesters, die Emotionen, die Kontraste, den Größenwahn, die Klangfarben: Gustav Mahler macht sie fertig, und bei Bach fühlen selbst die zwei atheistischen Ossis ein übersinnliches Leuchten in sich. Axel und Devid erzählen von ihren Lieblingsstücken, machen aus den abstrakten Namen ihrer Komponisten Helden mit Ecken und Kanten und beweisen: Für Klassische Musik bedarf es keiner Vorkenntnis.

Devid Striesow, bekannt von »Tatort« und »Bella Block« bis »Fraktus« und »Yella«, einer der meistbeschäftigsten TV- und Filmschauspieler des Landes und überzeugter Klassik-Fan.

Devid Striesow, bekannt von "Tatort" und "Bella Block" bis "Fraktus" und "Yella", einer der meistbeschäftigsten TV- und Filmschauspieler des Landes und überzeugter Klassik-Fan.

Kind der Klassik


Ich bekenne: Ich bin ein Klassik-Nerd. Ich habe nicht ein Konzert-Abo, sondern zwei. Ich besitze nicht 100, sondern 1472 CDs (und noch mal 1148 Schallplatten). Ich gehe lieber in die Oper als ins Kino, und das, obwohl ich Filmregisseur bin. Mein Bücherregal besteht aus musikalischer Fachliteratur. Als Teenie las ich nichts anderes als Komponistenbiografien. Jedem, der mich kannte, bin ich mit meinem Wissen auf die Nerven gegangen. Beethoven, Rachmaninow, Schostakowitsch und Mahler hießen meine Freunde. Alle waren lange tot.

Doch wie konnte es dazu kommen? Familiär bin ich von Sportlern umzingelt. Meine Mutter war Leichtathletin, mein Vater war Trainer für Kunst- und Turmspringen und meine älteste Schwester eine seiner besten Sportlerinnen. Meine Neffen spielen Fußball, Handball und Volleyball. Auch mein Opa war Leichtathlet und die Oma beim Ballett.

Als in Dresden während der 20er-Jahre der Ausdruckstanz das Ballett revolutionierte, lernte meine Oma tanzen. In Limbach bei Chemnitz. Fern der sächsischen Metropole und doch nah genug, um den Wind der weiten Tanzwelt zu schnuppern, der über Dresden aus Japan, Amerika und Russland ins Erzgebirge wehte. Famose Schwarz-Weiß-Fotografien meiner Großmutter in orientalischen Gewändern regen seit jüngster Kindheit meine Fantasie an. Was gäbe ich darum, dabei gewesen zu sein!

Mit der Machtergreifung der Nazis, spätestens mit dem Beginn des 2. Weltkriegs war für Oma Schluss mit Ballett. Der Tanz aber ist ihr bis heute geblieben. Wenn der richtige Rhythmus erklingt, zuckt es der 98-jährigen Lady noch heute in den Beinen. Dann kann sie nicht anders, dann muss sie tanzen.

Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören die tanzenden Großeltern. Manchmal, an einem Dienstag oder Donnerstag, wenn ich von der Schule kam, um den Nachmittag bei Oma und Opa zu verbringen, waren Sessel und Tisch zur Seite geschoben. Dann warf ich mich mit einer Handvoll Schoko-Minz-Dragees in die Sessel und sah den Alten beim Walzertanzen zu.

Mein Opa liebte die Chemie, die Literatur, schöne Frauen (schließlich war er mit meiner Oma verheiratet) und die Musik. Er liebte Beethovens Fünfte, Tschaikowskys Sechste, Bruckners Siebte, Schuberts Achte und Dvořáks Neunte. Wenn ich zu Besuch war, durfte ich aus 250 Kassetten die passende Musik auswählen. Einen großartigen Austausch darüber brauchten wir nicht. Ich mochte, dass Opa mochte, dass ich seine Musik mochte. Ansonsten spielten wir Skat.

Auch meine Mama hat einen Sinn für Musik. Sie reagiert ungeheuer emotional auf russische Stücke in Moll. Als Kind hat sie zu Beethoven, Tschaikowsky und Gershwin ihre Hausaufgaben gemacht. Wem sie dadurch weniger gerecht wurde, bleibt offen: den Komponisten oder den Hausaufgaben? Andererseits ist meine Mutter imstande, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Zuhören und reden zum Beispiel. Oder Filme schauen und lesen. Wenn ich sie früher aufgeregt in mein Zimmer bat, um ihr eine neue musikalische Entdeckung zu präsentieren, kam sie gern mit einer Zeitung oder einem Buch. Das ärgerte mich. Irgendwann lernte ich aber, dass es ihrer Konzentration zuträglich ist, mehrere Sachen gleichzeitig zu tun, sonst schläft sie ein. Das hat sie übrigens von ihrem Vater. Auch Opa saß am Wochenende auf seinem Sofa und sah Tennis, während aus dem Radio neben ihm die Fußball-Konferenzschaltung lärmte und Oma mit dem Staubsauger durch die Wohnung schoss. Dabei reinigte er leise vor sich hin pfeifend seinen Rasierapparat und mischte sich aus Birkenhaarwasser, PrimaSprit und ausgewählten Düften sein eigenes Rasierwasser.

Aufgrund der emotionalen Sensibilität meiner Mama gab es zu Hause eigentlich nie Musik. Bei uns lief immer der Fernseher. Dokus über Dokus, Tiere, Vulkane, offene Wunden, alte Knochen und Blumen. Der Fernsehapparat hat mir schon in jungen Jahren ein breites Allgemeinwissen beschert. Musik lief nur, wenn wir Auto fuhren. Mit dem Trabbi in den Urlaub zur sächsischen Verwandtschaft oder an die Ostsee. Später auch mit dem Tercel ins Riesengebirge, die Hohe Tatra oder nach Slowenien ins FKK-Thermalbad. Ein Balanceakt zwischen den musikalischen Geschmäckern war es immer. Mama war von ABBA über Michael Jackson bis zur Kelly Family für sanften Pop zu haben. Papa schwärmte für Vicky Leandros, Roger Whittaker und Ronny. Mir zuliebe gab es eine Kassette mit den größten Hits des französischen Kitsch-Pianisten Richard Clayderman. Einigen konnten wir uns immer auf Albano und Romina Power. Ich mag diese Musik bis heute. Das ist Urlaubsmusik für mich. Wir haben laut dazu gesungen, ohne auch nur ein Wort Italienisch zu sprechen.

Mama hat eine sehr schöne Singstimme, die sie viel zu selten benutzt, und sie trifft die Töne! Das kann man von meinem Papa nicht immer behaupten. Sein größtes musikalisches Abenteuer war ein Vorsingen beim Dresdner Kreuzchor. Seine Eltern hatten es dank guter Beziehungen arrangiert. Sie erhofften sich in der schwierigen Nachkriegszeit eine gewisse Grundversorgung für den Jüngsten. Vorbereitet hatte er: »Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal saßen einst zwei Hasen«. Leider rechnete niemand mit dem überschaubaren musikalischen Talent meines Vaters, das dem gut durchdachten Plan ein unverhofftes Ende bereitete. So wurde er Sportler.

Niemand in meiner Familie ist Musiker geworden. Auch in den weiten Verästelungen unseres Stammbaums ist niemand zu finden. Die einzige Ausnahme ist vielleicht meine Schwester, die mittlere von uns dreien. Sie hat ein ganz und gar musikalisches Gemüt. Ihre Stimme ist satt und besonders schön in der mittleren Lage. Formidabel begleitet sie sich auf der Klampfe und singt am liebsten Jazz. Sie liest Noten vom Blatt, sang Jahre im Chor und hat nach Umwegen über Lehramt und Archäologie den Weg ins Musiktherapeutische gefunden, wo sie ihre Kursteilnehmer erfolgreich zum Trommeln, Singen und Feixen animiert und ihnen ein Stückchen Glück beschert.

Als ich ein kleiner Junge war, hatte sie mich an der Backe. Zehn Jahre jünger als sie und ihre Freunde, war ich doch immer dabei. Das hat unsere Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Umso enger ist sie heute. Der Freundeskreis meiner Schwester war für mich immer aufregend, durch und durch von Musik erfüllt. Da waren Abiturienten und Studenten, die Cello und Geige spielen konnten, Familien, die Hausmusik veranstalteten. Leute, die keinen Fernseher hatten, sondern Plattenspieler und Gitarren. Das alles hat mich mehr angezogen als meine Mitschüler und die täglichen Demütigungen in der Schule.

Ich war ein sensibles Kind. Das stand auf jedem meiner Zeugnisse. Ich war wissbegierig, altklug, unsportlich, verfressen und nervig, wollte immer schon zu den Erwachsenen gehören. Lehrer interessierten mich mehr als Gleichaltrige. Musikunterricht war lange der einzige Grund für mich, zur Schule zu gehen. Leider hatten wir nur einmal pro Woche Musik. Den Unterricht erteilte unsere Klassenlehrerin. Ich hatte große Angst vor ihr. Sie war riesig und streng. Aber ihren Musikunterricht liebte ich sehr. Ich ging während der Grundschule mit meinem heutigen Mann Paul in die selbe Klasse. Er war der Einzige, der mich schon damals nicht seltsam fand, obwohl er einen anderen, gesünderen Fokus hatte: Ihn interessierten Hofpausen, Comics und Mädchen. Jedenfalls kann er sich an kaum eine Musikstunde mehr erinnern, während ich noch jedes einzelne Stück kenne, das unsere Lehrerin mit uns behandelte. Da waren der zuckrige »Nussknacker« und die bewegte »Moldau«, der wahnsinnige »Boléro« und die patriotische »Egmont«-Ouvertüre. Wir hörten Opernquerschnitte von Mozarts »Entführung aus dem Serail« und Lortzings »Zar und Zimmermann«, wir hörten Leopold Mozarts »Kindersinfonie« und Gershwins »Rhapsody in Blue«.

Ein Stück aber begeisterte mich so sehr wie kein anderes: »Die Bilder einer Ausstellung« von Modest Mussorgski. Wir hörten drei verschiedene Versionen. Die berühmte Orchesterfassung von Maurice Ravel, eine sehr wilde Fassung für Synthesizer eines durchgeknallten Japaners namens Tomita und die Originalfassung für Klavier solo, die mich faszinierte und nicht mehr losließ. Nie zuvor hatte ich eine solch kraftvolle, kompromisslose Musik gehört. Brutal und ungeschönt. Ein regelrechter Schock. Heute weiß ich viel klarer, warum mich dieser Komponist so berührt. Es gibt eine Seelenverwandtschaft zwischen uns.

Mussorgski war ein musikalischer Autodidakt. Er gehörte zu einer Gruppe von russischen Komponisten, die die Kunstmusik ihrer Heimat vom westeuropäischen Einfluss befreien wollten. Die Lieder des Volkes sollten im Zentrum stehen. Die russische Seele sollte Einzug in die Konzertsäle halten. Sie lehnten die akademische Ausbildung am Konservatorium ab und lernten lieber von den singenden Bauern. Die Hauptvertreter dieses »Mächtigen Häufleins«, wie sie sich selbst nannten, waren bis auf Nikolai Rimski-Korsakow keine ausgebildeten Musiker. Mili Balakirew hatte sich zunächst mit Mathematik beschäftigt, Alexander Borodin war ein angesehener Chemiker, César Cui war Professor für Fortifikationswesen (Festungsbau) und Modest Mussorgski mal Soldat, mal Verwaltungsangestellter, mal Vagabund, aber immer passionierter Alkoholiker. Er war witzig, elegant, charmant, gebildet und hochgradig sensibel. Er fühlte sich in...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik Klassik / Oper / Musical
Schlagworte Alki Alki • Beethoven • Begeisterung • Coming out • Dicke Mädchen • Entspannung • Folkmusik • Freude • Freunde • Giuseppe Verdi • Glück • Hobby • Jean Sibelius • Johann Sebastian Bach • Klassik • Klassische Musik • Klavier • Komponist • Komponisten • Konzert • Konzerthalle • Leidenschaft • Liebe • Lied • Mozart • Musik • Musikalische Bildung • Musikbuch • Musikfreunde • Musikgeschichte • Oper • Operette • Pianist • Pianistin • Piano • Prominente • Requiem • Schauspieler • Schauspieler als Autor • Schwul • schwule Liebe • unglückliche Liebe • Violine
ISBN-10 3-8437-2177-7 / 3843721777
ISBN-13 978-3-8437-2177-6 / 9783843721776
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