Diva (eBook)
432 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11938-1 (ISBN)
Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und unterrichtete zuletzt in New York, Paris und Chicago. Sie schreibt für »DIE ZEIT«, »NZZ« und »CICERO« und ist häufig im Fernsehen zu Gast. 2013 wurde ihr Buch »Angezogen« für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und unterrichtete zuletzt in New York, Paris und Chicago. Sie schreibt für »DIE ZEIT«, »NZZ« und »CICERO« und ist häufig im Fernsehen zu Gast. 2013 wurde ihr Buch »Angezogen« für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Bettgeschichten Le nozze di Figaro
»Qui n’a pas vécu dans les années voisines de 1789 ne sait pas ce que c’est le plaisir de vivre.«
(Talleyrand-Périgord in Guizot, »Mémoires Pour Servir À l’Histoire de Mon Temps«)
In Le nozze di Figaro geht es nur ums Eine: wer, wann, wo, mit wem? Alles dreht sich ums Bett; alles kreist um Sex. Und das in komisch gedrängter Form: denn die Oper umschließt fast parodistisch nach der Regel der Einheit von Zeit und Ort nur den Hochzeitstag von Susanna und Figaro. Und es geht darum, wer da mit wem schläft, Braut mit Bräutigam, wie es sich gehört? Am Ende kommt es zu einer Massenhochzeit: drei Paare heiraten, ein viertes versöhnt sich. Was zusammengehört, kommt zusammen. Ein Venusfest, eine fast unglaubliche Potenzierung von Glück. Alles arrangiert sich aufs Allerschönste. Alle verzeihen allen; sogar der Graf, der Rache schwört und sich mit seinem fünffach herausgeschrienen »no!« (IV,15:188) der Verzeihung verweigert, zeigt sich zum guten Schluss reuig.
Zu diesem so überaus glücklichen, alle Erwartungen übertreffenden Ende gelangen alle durch die List des Theaters, des Rollenspiels, des Verkleidens, des Täuschens, des Trugs: eine burla. Das Ende erfüllt exemplarisch alle Theaterkonventionen, hebt Figaro hervor. Mit allen Tricks und Finten will er der Regisseur dieses Stückes sein:
Per finirla lietamente E all’usanza teatrale Un’azion matrimoniale Le faremo ora seguir. | Um ihn fröhlich zu beenden, und nach guter Theatersitte, lassen wir jetzt eine Hochzeitsfeier folgen. (II,9:98 f.) |
Die Oper ist eine Ode an Eros:
Ah tutti contenti Saremo così. Questo giorno di tormenti, Di capricci, e di follia, In contenti e in allegria, Solo amor può terminar. Sposi, amici, al ballo, al gioco, Alle mine date foco! Ed al suon di lieta marcia Corriam tutti a festeggiar! | Ach, so sind wir alle zufrieden. Diesen Tag der Qualen, der Launen und der Tollheit kann nur die Liebe enden in Zufriedenheit und Freude. Brautleute, Freunde, auf zum Tanz, zum Spiel, laßt uns das Feuerwerk explodieren! Und zu den Tönen eines fröhlichen Marsches eilen wir alle zum Fest! (IV,15:190 f.) |
Werden bei Beethoven alle Menschen Brüder und im Fidelio eine Frau – treu bis in den Tod, sich mannhaft gegen den Tyrannen stellend – der heldenhafteste Mann, dann bei Mozart alle Menschen dem Eros unterworfene Schwestern. An die Stelle eines republikanischen, tugendhaften Bundes der Freiheit und Gleichheit, der wie ein Mann gegen den mörderisch sadistischen Tyrannen aufsteht, tritt im Zeichen der Weiblichkeit ein neuer unumschränkter Souverän: Eros. Die Oper endet als eine voyage à Cythère, als heiter höfisches Fest.
Dagegen nehmen sich die ständig auf tugendhafte Reform drängenden bürgerlichen Revolutionäre doch ziemlich breitbeinig aus; die tänzerische, im Übrigen aristokratische, Eleganz und die Anzüglichkeit des frivolen Strippenziehers Figaro, der den Grafen nach seinem Takt tanzen lassen will, um ihn in einem lasziven Fandango, der noch Casanova entzückte, bloßzustellen, war die Sache dieser aufrechten Reformer, die mit der Revolution siegten, eben nicht. Selbstironie, Ironie überhaupt, mit der tänzerisch-tändelnden Leichtigkeit auch Gnade, Verzeihung und Vergebung ging in ihrer tugendhaft verbissenen Selbstgerechtigkeit den Bach runter.
Am Hochzeitstag herrscht eitel Verwirrung; pausenlos zieht man sich an und aus. Halbnackt stehen die falschen Leute in den falschen Boudoirs und Bosketts. Geschlechter und Geschlechtspartner werden vertauscht. Travestie – Kammerzofen als Komtessen – und Transvestie – Männer als Frauen – machen den Plot aus: quid pro quo. Wer mit wem schläft, bleibt im Dunkeln. Alle werden im falschen Moment von den falschen Leuten überrascht. Dramatischer Höhepunkt ist das flagrant délit: die öffentliche Zurschaustellung des, wie es heute in einer Sprödigkeit heißt, die Witz und Leichtigkeit der Musik Mozarts ganz unangemessen ist, »außerehelichen Geschlechtsverkehrs«. Der alle Höflichkeit vergessende, drohende, beleidigende, rumbrüllende, ja oft brutale Bariton des Grafen – »Her mit dem Schlüssel!« (II,6:89) –, dramatisch untermalt vom Orchester, verkörpert die patriarchale, gewalttätige Bedrohung. Dagegen stehen der leicht schwebende, manchmal auch überwältigend anschwellende Sopran und der Mezzosopran, immer angemessen, die am Ende die Überhand behalten. Zu der dauernd über aller Köpfe schwebenden Katastrophe kommt es nicht; alles löst sich in Witz und Heiterkeit. Einer der Schlüsseltexte des Liberalismus sprüht nur so von erotischem Feuer. Das Bett ist sein Schauplatz. Offenbar ist die sexuelle Frage, die Frage nach der Liebe, zentral für einen politischen Regimewechsel.
Die Hochzeit des Figaro stammt aus der Zeit, als es dem Bürgertum darum ging, in Europa im Namen der Geschlechtermoral gegen die Aristokratie zu siegen. Der Klassenkampf kommt von vornherein als ein moralischer Kampf um das richtige Zusammenleben der Geschlechter daher. Deswegen ergibt es keinen Sinn, den Klassenkampf als eigentlich politischen Kampf gegen eine moralisch-private Geschlechterfrage zu stellen, class gegen gender zu positionieren. Denn der Klassenkampf – Bourgeoisie gegen Aristokratie, Revolution gegen Ancien Régime – wurde im Namen einer anderen Geschlechtermoral geführt. Politik war immer schon Geschlechterpolitik. Das ist im Übrigen keine moderne Konstruktion, sondern ab urbe condita der Fall. Schon im alten Rom siegt die tugendhafte Republik über die tyrannischen Alleinherrscher im Namen einer restaurierten Geschlechtermoral. Man denke an Lukretia und Virginia; über ihrer Leiche wird eine neue politische, republikanische Ordnung errichtet. Die patria potestas, in die der Tyrann übergriff, wird in einer Republik gleicher Männer restauriert. Gleichheit der Geschlechter war die Sache der Republiken nie.
Die Revolution argumentiert im Zeichen von Natur, Moral und Ehe. Die Herrschaft des Adels habe die heiligsten und gleichzeitig natürlichsten Bande der Natur pervertiert. Zum einen habe sie die Hierarchie der Geschlechter verkehrt. Adieu, patria potestas – hier regieren die Frauen unumschränkt. Mit der Verkehrung der Geschlechterhierarchie habe sie die Geschlechteridentität zersetzt. Schließlich verorientalisiere sie dekadent den tugendhaften Westen – auch das eine urrömische Geschichte. Ganz Paris sei ein Harem, in dem die Schamlosigkeit der adeligen Frauen durch die Macht der Rhetorik, die Bewegungen ihrer Zunge nämlich, die Männer als Eunuchen zu besonders geeigneten Werkzeugen ihrer Lust beschnitten habe – so Rousseau. Männer: Spielzeug, toy...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik ► Klassik / Oper / Musical |
Schlagworte | Alban Berg • Bel Canto • Carmen • Cavalleria rusticana • Figaro • Hugo von Hofmannsthal • kameliendame • La Traviata • Lulu • Madama Butterfly • Manon Lescaut • Mozart • Norma • Oper • Performanz • Puccini • Rigoletto • Rosenkavalier • Sizilianische Vesper • Tosca • Traviata • Verdi • Victor Hugo • Zauberflöte |
ISBN-10 | 3-608-11938-8 / 3608119388 |
ISBN-13 | 978-3-608-11938-1 / 9783608119381 |
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Größe: 3,8 MB
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