Korianderkuss (eBook)
176 Seiten
Tulipan (Verlag)
978-3-641-33023-1 (ISBN)
Antje Herden, 1971 in Magdeburg geboren, studierte etwas Chemie und viel Architektur. Seit 2004 schreibt sie Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene und Reportagen für Stadtmagazine und seit 2010 hauptberuflich Kinder- und Jugendbücher. Antje Herden reist am liebsten durch die Welt. Ansonsten arbeitet und lebt sie in Darmstadt.
2
Am nächsten Morgen ist einfach der Sommer da. Mitten im April. Im Schrank hängt noch das Kleid, das mir Fred geschenkt hat. Es ist ein hellblaues Trägerkleid mit einem gesmokten Oberteil. Fred hatte es nur zweimal angehabt, dann war sie herausgewachsen. Vor allem obenrum. Ich habe es nie getragen. Erst war es noch zu kühl dafür und als es wärmer wurde, waren wir keine Freundinnen mehr. Obwohl das Kleid und ich ein gutes Team gewesen wären.
Weil wir ihr nicht mehr passen,
hat Fred uns zurückgelassen.
Meine Hand zögert, danach zu greifen. Aber dann gewinnt eine komische Wut in meinem Bauch. Ich ziehe das Kleid heftig vom Bügel und dann noch heftiger über meinen Kopf. Soll es doch zerreißen. Tut es aber nicht. Stattdessen stehe ich meinem Spiegelbild gegenüber und finde das gar nicht so schrecklich.
»Bis heute Nachmittag, mein Schatz.« Mam lehnt in der Tür zu meinem Zimmer und sieht irgendwie überhitzt aus.
»Bist du nicht zu warm angezogen? Es sollen 25 Grad werden«, sage ich.
Sie blickt an ihrem dicken Sweatshirt hinunter, die wollene Hose entlang, auf die gestrickten Socken mit den Schneekristallen.
»Du hast recht. Beim Jahreszeitenwechsel schaffe ich irgendwie nie den Absprung«, seufzt sie und geht noch einmal in ihr Zimmer, um sich umzuziehen.
Nicht nur beim Jahreszeitenwechsel, liebe Frau Retter, wir beide könnten längst wieder Sonnental heißen, so wie Omi und Opi.
»Du siehst übrigens sehr hübsch aus«, ruft Mam durch den Türspalt. »Das sage ich natürlich nur unter größtem Vorbehalt. Wir alle wissen ja, dass die Reduzierung auf Äußerlichkeiten absolut nicht korrekt ist.«
Zur Sicherheit schlüpfe ich noch in meinen Hoodie.
Als ich mich auf meinem Rad der Schule nähere, bin ich plötzlich aufgeregt. Was wird Fred zu dem Kleid sagen? Dann ärgere ich mich, dass ich darüber auch nur nachdenke. Ist doch völlig egal, was diese Verräterin zu meinem Kleid sagen wird. Auch wenn das einst ihr gehörte.
Zudem bin ich ein klitzekleines bisschen zu spät und alle sind schon in den Klassenräumen. Fred und der, dessen Name nicht genannt werden darf, in Stock und Jahrgang über mir. Bestimmt nebeneinander. Wahrscheinlich Händchen haltend. Ist so etwas im Unterricht überhaupt erlaubt?
Wie immer ist Herr Langer noch ein bisschen mehr zu spät. Als sich die Tür schließlich öffnet, kommt unser Biolehrer nicht alleine herein, sondern hat jemanden im Schlepptau. Obwohl das so nicht stimmt. Denn diese andere Person betritt vor ihm den Raum, schaut sich ziemlich selbstbewusst um und nickt kurz in die Runde. Herr Langer sagt nichts, kratzt sich am Kopf und stellt seine Tasche ab.
Da setzt sich die Person ungefragt neben mich.
Hallo, gehts noch?
Andere Stühle sind ebenfalls frei und es hätte ja sein können, dass meine Sitznachbarin, die auch meine beste Freundin ist, heute einfach nicht da wäre. Dass das nicht stimmt, hätte diese Person nicht wissen können und darum erst einmal fragen müssen, ob der Stuhl neben mir überhaupt frei ist. Oder sehe ich etwa aus, als würde ich alleine sitzen müssen, weil niemand neben mir sitzen möchte?
›Niemensch‹, korrigiere ich meine Gedanken.
Mit Wut im Bauch fällt Gendern noch schwerer.
Fred und ich hatten zusammen damit angefangen. Wir fanden die Idee gut, dass wirklich immer von allen gesprochen wird und nicht nur alle gemeint sein sollen, wenn von Jungs und Männern die Rede ist. Auch wenn wir das Ganze nicht so megaernst nahmen und es echt Gewöhnung brauchte, jedes kleine man durch ein mensch zu ersetzen. Eigentlich waren wir ziemlich schnell bereit gewesen, damit wieder aufzuhören.
Aber seitdem Fred es peinlich findet, die kleine Pause vor dem Innen zu lassen, weil IHM das nicht gefällt, schweige ich die extralang. Jedenfalls, wenn Fred in der Nähe ist.
Dabei weiß ich gar nicht, ob sie mich überhaupt noch hören kann.
Besonders wenn ich schweige.
In dem Moment sehe ich plötzlich klar. Schwarze verstrubbelte Locken, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarzer Rucksack. Diese Person da neben mir kenne ich. Die saß doch gestern so nervig unter unserem, ähm, unter dem Baum.
Ich schaue sie unauffällig genauer von der Seite an.
Schwarzer Lidstrich, verwischt.
Schwarze Wimpern, megalang.
Schwarzer Nagellack, abgeblättert.
Schwarze Ohrringe, glitzernd. Fünf Stück. Allein auf meiner Seite.
Erstaunlicherweise kann ich immer noch nicht erkennen, ob diese Person ein Junge oder ein Mädchen ist. Ich werfe einen schnellen Augenwinkelblick auf die Brust neben mir. Körbchengröße Zero Komma null und nichts.
So wie bei mir.
»Fertig?«
»Womit?«, frage ich ertappt und fühle, wie ich einen roten Kopf bekomme.
»Mit Gucken.«
Ich schaue schnell zum Smartboard, auf dem Herr Langer anfängt herumzumendeln, und schweige demonstrativ.
»Also, was willst du wissen?«
»Ähm, nichts.«
»Aha.«
Wie kann ein kleines Aha nur so provozierend klingen?
Und warum funktioniert das so gut, dass ich das Bedürfnis bekomme, mich zu verteidigen?
»Ich habe mich gefragt, wie du heißt. Du wurdest ja nicht vorgestellt«, flüstere ich.
»Kim.«
Weder Stimme noch Name verraten mir mehr. Ich will sie gerade anlächeln, da zieht die Person die linke – gezupfte, darauf wette ich – Augenbraue hoch und schaut mich richtig herablassend an. Allerdings aus eisblauen Augen, was ohne diese Herablassung ziemlich schön gewesen wäre.
»Sonst noch was?«
»Sonst nix«, sage ich. ›Blödmensch‹, denke ich.
»Und du?«
»Was, und ich?«
»Wie heißt du?«
»Rosa Eliza Retter.«
Keine Ahnung, warum ich das sage. Ein schlichtes Rosa hätte sicherlich genügt.
»Könntet ihr aufhören zu quatschen und stattdessen den mendelschen Regeln folgen? Rosa? Kim?« Herr Langer guckt plötzlich etwas irritiert. »Ach ja, das ist übrigens Kim, eure … ähm … euer …« Herr Langer unterbricht sich und guckt noch verwirrter in die Runde. Weiß er etwa auch nicht, welches Geschlecht Kim hat? Das ist ja verrückt. »Na, ihr werdet euch schon untereinander in der Pause bekannt machen.« Herr Langer wendet sich wieder seiner geliebten Biologie am Smartboard zu. Was in dem Moment ziemlich witzig erscheint, da er ja eben an der Biologie im echten Leben gescheitert ist.
Unauffällig werfe ich noch einmal einen Blick neben mich. Aber Kim verzieht weder grinsend den Mund noch amüsiert die Augenbraue.
Diese Person scheint keinen Humor zu haben.
Jedenfalls nicht meinen.
Ich schnuppere ein bisschen, ob ich etwas riechen kann. Ein Parfum, ein Deo oder ein Rasierwasser. Obwohl Letzteres ganz offensichtlich nicht gebraucht wird. Weder von Kim noch von sonst jemandem in der Klasse. Außer natürlich von Can, der es dafür gleich für alle mitbenutzt.
»Kernseife«, raunt Kim. Die Augenbraue schlägt einen perfekten Bogen der Arroganz.
Den Rest der Stunde verbringen wir in absolutem Schweigen. Aber immer wieder muss ich heimlich zu Kim gucken.
Wie unter Zwang.
Ich weiß absolut nicht, warum.
Als nach dem Pausengong alle in den Hof strömen, folge ich unauffällig Kims Kernseifengeruch. Ich plane das gar nicht, es passiert einfach. Als hätte ich den telepathischen Befehl einer fremden Macht zu einer geheimen Mission bekommen.
Was tut dieser neue Mensch in der Pause?
Mit wem spricht der?
Welches Klo benutzt der?
Letzteres interessiert mich tatsächlich auch.
Es gibt an unserer Schule Toiletten für Mädchen und Jungen. Und die für Lehrer. So zumindest steht es an den Türen. Das müsste in Zeiten der Diversität eigentlich mal dringend überdacht werden. Sehr viele Menschen dürften in diesem Gemäuer nämlich gar nicht pinkeln. Frauen beispielsweise grundsätzlich nicht.
Beinahe tipple ich wie auf Zehenspitzen hinter Kim her und vergewissere mich sogar eventueller Spontanversteckmöglichkeiten. Ich möchte bei dieser seltsamen Verfolgung auf keinen Fall erwischt werden.
Sogar von hinten sieht Kim spektakulär aus. Es muss am Gang liegen, diese besondere Art, wie Kim sich bewegt. Gerader Rücken und Kinn hoch, wiegende Schultern und dann noch dieser Schlenker in der Hüfte. Als wäre Kim als Geschenk für diese Welt geboren worden und nicht andersherum.
Vielleicht sollte ich das auch einmal probieren. Obwohl ich das so nie fühlen würde.
Und natürlich Kims Klamotten. Hemd und Hose wie gebügelt, aber kein bisschen spießig. Sondern sehr, sehr cool.
Plötzlich dreht Kim sich um.
Erst da fällt mir auf, dass es nicht den geringsten Grund gibt, warum wir uns zu zweit in diesem abgelegenen Teil des Schulgebäudes befinden sollten.
»Rosa Eliza Retter, wie schön. Machst du deinem Namen Ehre und rettest mich?« Kim lächelt.
Kims Lächeln ist schön. Der Mund, die Grübchen, die Eisaugen.
Kims Lächeln ist arrogant. Die linke Augenbraue.
Ich würde dich retten, entketten und betten.
Was immer es ist, das du vermisst.
Nomen est omen.
Doch was ist dein Pronomen?
Denn...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | 2024 • ab 12 • Coming-of-age • eBooks • Erste Liebe • Freundschaft • Gender • Identität • Neuerscheinung • Pubertät • Queerness • Selbstwert |
ISBN-10 | 3-641-33023-8 / 3641330238 |
ISBN-13 | 978-3-641-33023-1 / 9783641330231 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich