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Fürs Leben zu lang (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
TULIPAN VERLAG
978-3-641-32931-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fürs Leben zu lang -  Nikola Huppertz
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Magali Weill ist groß. Viel zu groß für eine Dreizehnjährige und erst recht zu groß, um von irgendjemandem geküsst zu werden. Wenn sie wie ihre Schwester Malve wäre, würde sie ihr Elend in einem Tagebuch lang und breit beweinen. Aber so ist Magali nicht. Lieber schreibt sie ein 'Tagebuch von allen anderen'. Zum Beispiel über den sehr bemerkenswerten und uralten Herrn Krekeler, ihren Nachbarn. Doch als ebenjener Herr Krekeler beschließt, demnächst zu sterben, wird Magali plötzlich aus ihrer Beobachterposition herausgerissen. Gemeinsam mit Kieran, Herrn Krekelers Enkel, stellt sich für Magali auf einmal die Frage: Wie geht das überhaupt, ein richtiges Leben? Ein literarischer Coming-of-Age-Roman, der die großen Fragen des Lebens aufwirft

Nikola Huppertz, geboren 1976, studierte Musik und Psychologie. 2007 gewann sie mit dem Manuskript ihres Debütromans 'Karla, Sengül und das Fenster zur Welt' den Literaturwettbewerb der Bonner Buchmesse Migration. Seitdem hat sie mehr als 30 Kinder- und Jugendbücher, Lyrik und Prosa in Literaturzeitschriften, Geschichten für den Rundfunk und das Libretto zu einer Kinderoper veröffentlicht. Ihre Arbeiten wurden in diverse Sprachen übersetzt, vielfach nominiert und ausgezeichnet, zuletzt mit dem Evangelischen Buchpreis 2022. Sie hat eine Tochter und einen Sohn und lebt als freie Autorin in Hannover.

Fr., 29.03.


Als Joël Hummel heute an mir vorbei über den Hinterhof ging, konnte ich sofort erkennen, dass er loszog, um ein Mädchen zu küssen. Er sah gleichzeitig siegessicher und aufgeregt aus, fuhr sich durchs Haar wie ein olympischer Sprinter kurz vor seinem Lauf auf der Tartanbahn und umfasste dann wieder sein Handgelenk mit Daumen und Mittelfinger, als müsste er sich hinter sich selbst herziehen. Und zum ersten Mal erschien es mir nicht mehr unsinnig, etwas in dieses überteuerte Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen zu schreiben, das ich (ohne dass ich es mir gewünscht hätte) zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen hab.

Ich gehe davon aus, dass Mama und Papa es mir als Tagebuch andrehen wollten. Malve schreibt ja seit Jahren Tagebuch und meine Eltern neigen idiotischerweise dazu, von ihr auf mich zu schließen. Dabei ist das, was Malve dazu bringt, Tagebuch zu schreiben, genau das, was mich von ihr unterscheidet. Meine liebe Schwester beschäftigt sich nämlich den ganzen Tag mit sich selbst – und zwar so, dass jeder um sie herum es mitbekommt, ob er will oder nicht. Seht her, Malve Weill, achtzehn, Mittelpunkt der Welt! Schön, schlau, unvergleichlich. Wie praktisch ist da doch ein Tagebuch, in dem auch noch alles festgehalten wird, was Malve Weill macht und Malve Weill denkt und Malve Weill fühlt. Die Nachwelt wird sich darauf stürzen!

Ich selbst finde Tagebuchschreiben so ziemlich das Uninteressanteste, was es gibt, aber ich bin natürlich auch nur Magali Weill. Reicht mir schon, jeden Morgen aufzuwachen und immer dieselbe zu sein, ich, ich und nochmals ich:

* mit all den komischen Gedanken, die mir beim Aufwachen als Erstes in den Kopf schießen (Was wäre wenn?, Wie würde ich dies?, Wann würde ich das? und: Werden Cara, Aurelia und Kimberley mich heute beachten oder werde ich in der Pause wieder mal allein rumstehen?)

* mit den immer gleichen Tagesabläufen (Schule, Hausaufgaben, bisschen Klavierüben, bisschen Rausgehen, Schlafen) und

* mit meinen leider viel zu langen Beinen.

Da muss ich nicht auch noch tagein, tagaus in einem Tagebuch über mich berichten.

Aber dann hab ich eben gesehen, wie Joël Hummel sich am Handgelenk über den Hinterhof zog, und ich dachte, er selbst wird das vielleicht nicht aufschreiben. Also wie er an diesem sonnigen Freitagnachmittag Ende März aufgebrochen ist, um ein Mädchen zu küssen (ich schätze, so ein zierliches, niedliches), während ich, gerade von meiner Klavierstunde zurück, mein Fahrrad abschloss und seine Zeugin wurde. Vielleicht wird es nicht mal das Mädchen notieren, selbst wenn Joëls Kuss der erste in seinem Leben war. Es wird wahrscheinlich nur eine Weile daran denken und dann einen anderen Jungen küssen und noch einen anderen und Joël Hummels Kuss irgendwann vergessen. Niedliche Mädchen müssen sich über das Geküsstwerden ja keine großartigen Gedanken machen.

Dabei ist es bestimmt unbeschreiblich, seinen ersten Kuss von Joël zu bekommen! Er hat einen schönen Mund in einem schönen Gesicht, er ist sechzehn und noch dazu ein halber Franzose. Außerdem ist er schätzungsweise 1,86, das würde sogar für mich genügen. Jedenfalls noch eine kleine Weile, sechs, sieben Zentimeter bleiben mir bis zum kritischen Punkt, der eigentlich schon viel zu hoch ist für ein Mädchen. Aber was soll ich sagen, meine Zielgröße wird zwischen 1,89 und 1,92 geschätzt (was es in unserer Familie noch nie gegeben hat), und spätestens dann wird es zu spät sein. Denn wer will schon den Jungen, der einem seinen ersten Kuss schenkt, überragen wie ein Fahnenmast? Also hat man bereits mit dreizehn voll den Stress, was diese Dinge betrifft, während andere Leute ihr Leben genießen. (Oder man bleibt eben für immer ungeküsst, was auch keine echte Alternative ist.)

Aber ich will ja nicht über mich schreiben, sondern über Joël und die Zierliche, die bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag zwanzig oder dreißig Jungen küssen wird, genau wie Joël zwanzig oder dreißig Mädchen küssen wird, und überhaupt über all diejenigen, die interessante Dinge tun, ohne dafür zu sorgen, dass die Nachwelt davon lesen kann. Ein Tagebuch von allen anderen ist nicht unsinnig. Und irgendjemand muss ja festhalten, was in der Welt so passiert. Die echten Dinge. Die einen umhauen. Auch wenn es nicht die eigenen sind.

_

Als ich im Treppenhaus an der Wohnungstür der Siemerdings vorbeikam, brüllten dahinter mindestens zwei der drei?, vier?, fünf?, sechs?, sieben? Kinder. Ich hörte dem Wahnsinn ein bisschen zu und nahm mir gerade vor, mir heute noch Snow auszuleihen, da kam mir Herr Krekeler entgegen, Albert R. Krekeler, wie es auf seinem Klingelschild steht.

Ich hab schon oft überlegt, wie er es macht, dass er sogar in seinem dunkelblauen Jogginganzug schick aussieht. Wirklich schick und kein bisschen seltsam, weil er 98 ist und ihn tatsächlich trägt, um laufen zu gehen (zwar eher in Zeitlupe, aber sehr viel ausdauernder, als es zum Beispiel Papa mit seiner Plauze und seiner Raucherlunge könnte – da nützt es ihm auch gar nichts, dass er fast fünfzig Jahre jünger ist und außerdem einen Dr. med. besitzt). Ich glaube, es liegt daran, wie Herr Krekeler geht, immer aufrecht und leicht federnd, und daran, dass der Jogginganzug an ihm sitzt, als wäre er maßgeschneidert. Also ohne das übliche Geschlabber, sondern eher straff – der Smoking unter den Jogginganzügen.

Herr Krekeler mag es offenbar, wenn etwas schön ist, nicht nur die Dinge, mit denen er sich umgibt (der Schornsteinfeger hat bei der letzten Gasthermenwartung erzählt, dass seine Wohnung von oben bis unten mit Büchern und Gemälden vollgestopft ist), sondern auch, was sein Äußeres betrifft. Er ist aber tatsächlich auffällig gut aussehend für einen 98-Jährigen, finde ich.

»Guten Tag, Magali«, sagte er und ich zuckte ein bisschen zusammen.

»Guten Tag, xy«, so sagt er immer, wenn er jemandem begegnet, und zwar auf eine Art, die verrät, dass er wirklich sieht, mit wem er es zu tun hat. Die meisten Leute gehen ja einfach an einem vorbei (siehe Joël Hummel). Selbst wenn sie grüßen, heißt das noch lange nicht, dass sie einen wahrgenommen haben. Vielleicht sehen sie einen aus den Augenwinkeln, aber spätestens nach dreißig Sekunden wissen sie nichts mehr davon. Was durchaus Vorteile hat, vor allem, wenn man gerade nicht gesehen werden will, aus Längengründen oder ähnlichem. Aber eben auch Nachteile, denn ganz ohne Gesehenwerden passiert nicht viel.

Herr Krekeler jedoch sieht einen, ob es einem passt oder nicht, und er sieht einen so gründlich, dass man sich regelrecht ertappt fühlt. Vor allem, wenn man vorher eine Spur zu lang auf dem Treppenabsatz der Siemerdings angehalten und gelauscht hat.

Ich tat so, als wäre ich bloß stehen geblieben, um in der Jackentasche nach meinem Schlüssel zu suchen und hätte ihn nun gefunden.

»Hallo, Herr Krekeler«, sagte ich und wollte mich schnell an ihm vorbeischieben, aber jetzt blieb er direkt vor mir auf dem Treppenabsatz stehen, rückte die Panoramascheibe seiner Sportbrille zurecht und betrachtete mich. Was bedeutet, dass er an mir hochguckte, denn so gut aussehend er für sein Alter auch ist, er ist schon reichlich zusammengeschrumpft. Nur seine Ohren werden größer und größer.

Schließlich sagte er: »Der Husky muss mal wieder einiges über sich ergehen lassen, nicht wahr?«, und das hat mich, obwohl mir die Situation peinlich war, ganz schön ge-flasht.

Ich meine, von Snow war in dem Moment nichts zu hören, sondern nur von den plärrenden Kindern. Also wusste er anscheinend, dass ich mich, was die Siemerdings betrifft, ausschließlich für Snow interessiere (der Rest der Familie ist nervig und sterbenslangweilig), und er hielt das Befinden dieses alten Huskys sogar für wichtig genug, um mich darauf anzusprechen. Und das, obwohl unsere Gespräche normalerweise nie über »Guten Tag, Magali« – »Hallo, Herr Krekeler« hinausgehen.

Ich: »Genau. Der würde jetzt bestimmt auch gerne laufen gehen.«

Und Herr Krekeler: »Möglich.« Er wandte nachdenklich den Blick ab. Machte mir dann in einer einzigen Bewegung Platz und ich einen Schritt an ihm vorbei. Aber als ich schon zwei, drei Stufen hochgegangen war, merkte ich, dass er doch noch etwas sagen wollte, und drehte mich um. Und tatsächlich, sein Blick war wieder auf mich gerichtet.

»Möglicherweise müsste der alte Wolf sich allerdings genauso dazu zwingen wie ich«, sagte er und kicherte ein bisschen in sich hinein, bevor er die Hand zum Gruß hob und nun wirklich weiter die Treppe hinunterfederte.

Es sah eigentlich nicht so aus, als würde er sich zu irgendwas zwingen, aber was weiß ich. Der Mann ist 98.

_

Drei Etagen höher, in unserer Wohnung, legte ich meine Klaviernoten weg (es war die letzte Stunde vor den Osterferien gewesen und in den nächsten zwei Wochen hab ich nicht vor zu üben) und zog mir andere Schuhe an.

In der Küche gab es gerade mal wieder Streit zwischen Mama und Malve beziehungsweise eine Diskussion, wie es in unserer Familie heißt, und da auch Mama seit heute Mittag Ferien hat (»Von Ferien kann keine Rede sein, ich muss zwei Klausuren korrigieren!«), ist wohl damit zu rechnen, dass es in nächster Zeit noch mehr davon geben wird als normalerweise. Mama hatte diese Stimme, die immer schriller wird, wenn sie versucht, sachlich zu klingen. Sie räumte scheppernd den Geschirrspüler aus, Malve hatte sich gerade am Esstisch die Fuß- und Fingernägel lackiert und war...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Illustrationen Regina Kehn
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 2024 • ab 12 • Beobachten • eBooks • Körpergröße • Neuerscheinung • Richtig Leben • Sterben • Tagebuch • Tod
ISBN-10 3-641-32931-0 / 3641329310
ISBN-13 978-3-641-32931-0 / 9783641329310
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