Dunkle Idylle (eBook)
256 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0762-3 (ISBN)
Carmen Korn, Schriftstellerin und Journalistin, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hamburg. Für ihre Kriminalerzählung »Tod in Harvestehude« erhielt sie den Marlowe-Preis. Im Jahre 2004 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Preis für die beste Kurzgeschichte »Unter Partisanen« (Anthologie »Du sollst nicht töten«, Scherz Verlag). Literaturpreise: Friedrich-Glauser-Preis der Krimi-Autorenvereinigung 'Syndikat' für die beste deutschsprachige Kurzgeschichte des Jahres 2003 'Unter Partisanen'
Carmen Korn, Schriftstellerin und Journalistin, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hamburg. Für ihre Kriminalerzählung »Tod in Harvestehude« erhielt sie den Marlowe-Preis. Im Jahre 2004 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Preis für die beste Kurzgeschichte »Unter Partisanen« (Anthologie »Du sollst nicht töten«, Scherz Verlag). Literaturpreise: Friedrich-Glauser-Preis der Krimi-Autorenvereinigung "Syndikat" für die beste deutschsprachige Kurzgeschichte des Jahres 2003 "Unter Partisanen"
August
Leo entschied sich für ein Gymnasium in der Nähe. Anders als Teresa war er nicht bereit, durch die halbe Stadt zur Schule zu fahren. Er hatte vor, mit viel Charme und einem Mindestmaß an Anstrengung durch das Abitur zu kommen. Vielleicht auch Zeit für eine kleine Liebschaft zu haben. Obwohl seine letzte Freundin in Köln anstrengender als jede Schulstunde gewesen war. Leider hatte er eine Schwäche für Zicken.
Von Teresas Herzstichen ahnte er nichts. Sie hätten ihn verlegen gemacht. Waren seine Gefühle für Teresa nicht eher geschwisterlich?
«Ah. Da ist ja Tilda», sagte der Schulleiter und schien erleichtert, den neuen Schüler weiterreichen zu können. «Tilda und Sie sind in derselben Profiloberstufe. Sie wird Ihnen alles zeigen.»
Tilda sah älter aus, als sie sein konnte. Es sei denn, sie hätte Ehrenrunden gedreht. Doch das bezweifelte Leo. Sie wirkte auf ihn wie die Königin der Klassenbesten. Mit allen Dünkeln einem Durchschnittsschüler gegenüber.
Ihre langen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Ihr Kleid ging ihr bis zu den Knöcheln und sah aus, als sei es aus einer geblümten Gardine genäht.
Sie zeigte ihm alles höchst gewissenhaft. Er lachte sie am Ende der Tour an. Konnte nicht schaden, schon mal die Charme-Offensive zu starten.
«Bist du eine dieser Kölner Frohnaturen?», fragte sie.
«Genau», sagte Leo, «lauter Tünnesse in Köln.»
Tilda nickte, als habe sie sich das genau so gedacht.
Er war dankbar, als sie sich zu den anderen in den Computerraum setzten.
Das Wiedersehen war weniger begeisternd, als Teresa es sich vorgestellt hatte. Die Zwillinge wirkten völlig überdreht. Sechs Wochen Kalifornien waren wohl zu viel des Guten gewesen für die beiden.
«Bob», sagte Robert. «Ich heiße jetzt Bob.»
«Bob and Basti. Lovable lookalikes», sagte Sebastian.
«In a lovable family. Mum and Dad and Bob and Basti.»
«Wenn wir noch acht Jahre alt wären, fände ich euch lustig», sagte Teresa.
«Wir finden auch nicht lustig, dass du auf einmal am anderen Ende der Stadt wohnst, kaum dass man mal ein paar Tage weg ist.»
«Entspannt euch. Ich habe es mir nicht ausgesucht.»
«Du wohnst in einem Geisterhaus, sagt Beckie?»
«Wo ist sie überhaupt?», fragte Teresa.
«Im Tattoostudio», sagte Basti. «Name und Größe des neuen Liebhabers eintätowieren.»
«Und die Farbe der Augen», sagte Bob.
Noch gar nicht lange her, da hätte Teresa gesagt, ihnen sei wohl ins Hirn geschissen worden. Doch die rauen Zeiten waren vorbei.
Es dauerte bis zur ersten kleinen Pause. Dann brachen die Brüder in Gelächter aus. «Okay», sagte Bob, «lasst uns wieder dem Ernst des Lebens ins Auge blicken. Wenn der nicht bei der Einschulung begonnen hat, dann tut er es in der Oberstufe.» Er umarmte Teresa. Die Zwillinge hatten also doch nicht den Verstand verloren. Sie war erleichtert. Auch als Beckie um die Ecke kam, die ausgerechnet an diesem Morgen ihren nagelneuen Personalausweis abgeholt hatte.
Im Tre Cime würde Teresa später alles erzählen, ihrem Stammcafé.
Nein. Sie wollte keine böse Nachbarin sein. Keine Kinderfeindin. Wenn nur ihre Nerven nicht wären. Alle taten alles, um sie wahnsinnig zu machen. Krach. An allen Ecken. Seit Jahren. Kein Frieden. Nirgendwo.
Dieser grauenvolle Gus stand neben ihr und starrte sie an. Wohnte auch noch im selben Haus wie sie. Und seine Mutter und dieses andere Weib nicht besser als er. Überall Sodom und Gomorrha. Auch da drüben.
«Krrr», sagte die Jochmann. «Krrr. Krrr. Krrr.»
Gus grinste. Die Alte gehörte in die Klapsmühle. Eindeutig.
Hanne Jochmann guckte zu den Fenstern von Frau Dau, als käme von dort Hilfe. Hörte die denn den Krach nicht, der aus der oberen Etage drang? Aus dem Schreckenshaus, in dem nun neue Leute lebten?
Die Jochmann hatte keine Ahnung, dass es Neil Diamond war, der da oben Krach machte. «Girl, You’ll Be A Woman Soon.»
Aus «Pulp Fiction». Dem Film. Auch den kannte Hanne Jochmann nicht.
An Leo ging der Zorn von Frau Jochmann vorbei. Er nahm weder sie noch Gus wahr. Er sann über seinen ersten Schultag in Hamburg nach. Eigentlich waren sie alle nett gewesen. Nur diese Tilda war gewöhnungsbedürftig. Schade, dass der Tag mit ihr begonnen hatte.
Leo fing an, seine Umzugskartons auszupacken.
Die Musikanlage hatte er ja schon erfolgreich installiert.
«Gehörst du auch zu diesen Leuten?», fragte Hanne Jochmann, als sich Teresa näherte. Teresa blickte zu Leos Fenster hoch, dessen Flügel offen standen. Er hätte das Zimmer neben ihr haben können, zur Gartenseite, doch dieses Eckzimmer hatte es ihm angetan gehabt.
Ein Ausguck. Beste Sicht auf beinah alles.
«Stört Sie die Musik?», fragte sie. Erst jetzt sah sie, dass sich Gus hinter der Frau herumdrückte. «Krrr. Krrr», sagte Gus.
Die Frau wedelte mit den Händen, als sei Gus eine Fliege.
«Und ob sie die Musik stört. Frau Jochmann stört alles. Alles, was anderen Spaß macht, schadet ihren Nerven», sagte Gus.
Teresa schaute ihn aufmerksam an. Vielleicht war er gar nicht so dumm. Er schien jedenfalls kein schlechter Beobachter zu sein.
«Du Flegel. Du fieser Flegel.» Frau Jochmann stampfte mit dem Fuß auf und verlor ihren Schuh dabei. Gus grinste. Der grinsende Gus.
«Sorg dafür, dass dieser Krach aufhört», fuhr sie Teresa an.
Frau Jochmann sah aus, als ob sie in Tränen ausbrechen wollte. Ihre straff gespannte Haut war weiß bis in den Ansatz ihrer rot gekräuselten Haare.
Die Musik hörte jäh auf, als Hanne Jochmann zu kreischen ansetzte. Und so war nur noch ihr Kreischen zu hören und Leo zu sehen, der ziemlich fassungslos an seinem stillen Fenster stand.
Teresa war allein zu Hause an diesem frühen Freitagabend am zweiten Augustwochenende. Thomas saß noch in der Redaktion, für die er nun arbeitete. Herlinde hatte den ersten Job seit Langem, ein Hörspiel, für das sie gerade Aufnahmen in einem Studio des NDR machte. Leo streunte in der Stadt herum, Sehenswürdigkeiten gucken. Vielleicht sah er sich gerade das Stadion von St. Pauli an oder Plattenläden.
Teresa stand auf der Terrasse, als Gerda Dau durch den Garten lief. Hin zum Kanal. Es sah aus, als ob sie sich hineinstürzen wollte. Doch dann hockte sie nur im Gras und kam nicht mehr hoch aus dieser Hocke.
Teresa hörte Frau Daus Weinen, als sie näher kam, und spürte einen tiefen Widerwillen. Irgendwas war falsch an dieser Szene.
«Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen», sagte Gerda Dau so leise, dass Teresa kaum etwas verstand.
«Wer?», fragte sie.
«Ich bin schuld. Alle Stimmen sagen es. Elisabeth auch.»
Elisabeth. Die Große. Nun Neunzehnjährige. Die kam, um der Kinderfrau zu sagen, dass ihre Mutter versucht habe, sich das Leben zu nehmen? Mutter von Johannes. Charlotte. Elisabeth.
«Ich bin schuld», wiederholte Gerda Dau, «alles schuld.»
Teresa sah sich im Garten um, als sei da noch irgendwo Elisabeth, um ihre Anschuldigungen loszuwerden, ihre Vorwürfe auszusprechen.
War das gerecht? Was war Gerechtigkeit in diesem Fall?
Teresa wünschte, Leo käme und führte Frau Dau in ihre zwei Zimmer über der Garage. Relativierte diese Schuldzuweisung des Mädchens, das Elisabeth hieß.
Wie traumatisiert musste diese Familie sein? Wie traumatisiert Frau Dau?
«Elisabeths Mutter wird es doch überleben. Oder?», fragte Teresa.
Gerda Dau öffnete eine ihrer Hände, die zu Fäusten verkrampft waren. Ein herzförmiger Zettel klebte in ihrer Hand.
«Da soll ich anrufen», sagte sie.
Teresa war dankbar, als sie Leo in den Garten kommen sah. Eine Tüte von Zardoz schwenkend, einem Plattenladen in der Sternschanze.
Leo gab die Zahlen vom Zettel ins Handy, nachdem er gehört hatte, um was es ging. Er tippte sie zweimal ein.
«Die Leitung ist tot», sagte er.
«Das ist doch das UKE», sagte Gerda Dau.
«Universitätsklinik Eppendorf», sagte Teresa zu Leo, der sie fragend ansah. Vielleicht war ein Dreher drin. Die Zahlen im Schock falsch notiert. Oder Frau Dau hatte etwas völlig missverstanden.
«Wo leben die jetzt?», fragte Leo.
«Keine Ahnung», sagte Teresa.
Auch Frau Dau hatte gesagt, sie wisse es nicht. Ihr war zugebilligt worden, über der Garage zu wohnen. Doch den Kontakt verwehrte Johannes’ Familie.
Leo sah zu den Fenstern über der Garage, deren Vorhänge nun zugezogen waren. Gerda Dau hatte sich hinlegen wollen.
«Die Nummer vom UKE ist eine ganz andere», sagte Teresa, «ich habe es überprüft, als du bei ihr oben warst.»
«Ich weiß. Die Nummer habe ich eben auf mein Handy geholt und es ihr gegeben. Als sich die Klinik meldete, hat sie das Handy fallen lassen. Weißt du, was ich glaube? Sie hat Wahnvorstellungen. Vor lauter Schuldgefühl.»
«Und dann erscheint ihr diese Elisabeth und flüstert ihr ein, die Mutter habe versucht, sich das Leben zu nehmen?»
«Auf der Kommode lag ein Block mit genau diesen Klebezetteln. Und daneben eine leere Tablettenfolie.»
«Du denkst, Frau Dau hat das alles inszeniert? Zahlen hingekritzelt, um dann in den Garten zu laufen und einen auf große Oper zu machen?»
«Ich denke schon, dass sich in ihrem Kopf alles so abgespielt hat, wie sie es dir wiedergegeben hat. Und dass sie das für Realität hält.»
«Du schließt aus, dass diese Elisabeth hier aufgekreuzt ist?»
Leo hob die Schultern. «Was heißt ausschließen? Sagen wir mal, ich halte...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Erdbeerpflücker • Hamburg Krimi • Jugendkrimi • Kind verschwindet • Monika Feth • Mord • Patchworkfamilie • Töcher einer neuen Zeit • Zeiten des Aufbruchs • Zeitenwende |
ISBN-10 | 3-7336-0762-7 / 3733607627 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0762-3 / 9783733607623 |
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