Auf immer und ewig (eBook)
160 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0861-3 (ISBN)
Margret Steenfatt, geboren 1935, schrieb Romane, Biographien, Drehbücher, Theaterstücke und Hörspiele. Mehrere ihrer Jugendromane entwickelten sich zu Schullektüren. Sie lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg, wo sie 2021 starb.
Margret Steenfatt, geboren 1935, schrieb Romane, Biographien, Drehbücher, Theaterstücke und Hörspiele. Mehrere ihrer Jugendromane entwickelten sich zu Schullektüren. Sie lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg, wo sie 2021 starb.
1939
Nike bemerkte auf dem Weg zum Antiquariat ihres Vaters kaum den Regen, der schon den ganzen Vormittag lang Eis und Schnee in glitschigen Matsch verwandelte. Als sie an der Talmud Tora Schule vorbeischlitterte, hielt sie wie immer nach Nathan Ausschau, konnte ihn jedoch nirgends finden. Sie wollte ihm so gern für den zärtlichen Liebesbrief danken, den er am frühen Morgen für sie im tiefen Spalt zwischen zwei Mauersteinen der Häuserwand Ecke Rutschbahn und Grindelhof für sie versteckt hatte. Sie benutzten den Spalt als geheimen Postkasten. Ein schmales Mauerbruchstück, das sie davorklemmten, schützte ihn vor unbefugten Blicken.
Liebe Nike, hatte Nathan geschrieben,
ich habe fast die ganze letzte Nacht an Dich gedacht und mir gewünscht, Du wärst bei mir in meinem Zimmer. Ich habe es so stark gewünscht, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, mit Dir zusammen zu sein. Natürlich warst Du nur im Traum da, aber dieser Traum hat mich sehr glücklich gemacht.
Dein Nathan
Nike und Nathan schrieben sich in den letzten Wochen fast täglich Briefe. Sie hatte schon viele Seiten des kostbaren Papiers verbraucht, das sie von Frau Blumenthal geschenkt bekommen hatte, und gab sich jedes Mal große Mühe, besonders schöne Worte für Nathan zu finden. Seinen heutigen Liebesbrief kannte sie inzwischen auswendig, weil sie ihn in jeder Schulpause mindestens dreimal gelesen hatte.
«Ihr seid doch noch viel zu jung für die Liebe!», hatte Charlotte Heitmann zu ihrer Tochter gesagt. Es erfüllte sie mit Sorge, wie sehr die beiden Jugendlichen aneinander hingen. Nike wusste das, deshalb war sie umso glücklicher, dass sie ihren Eltern zu Beginn des Jahres 1939 mit einem besonders guten Zeugnis eine Freude bereiten konnte. Sie wollte beweisen, dass ihre Schulleistungen durch ihre Liebe zu Nathan nicht litten, sondern sogar besser wurden.
Ernst Heitmann saß gerade am Schreibtisch über die Steuererklärung für 1938 gebeugt, als sich zwei Hände von hinten über seine Augen legten. «Charlotte!», rief er überrascht und griff nach den Handgelenken. «Nein, Nike!», lachte sie. Sie legte ihr Zeugnis vor ihn auf das Kassenbuch, ein einzelnes Blatt mit vielen Einsen. Unter «Bemerkungen» hatte die neue Klassenlehrerin, Frau Dr.Steckelborn, eingetragen: «Sie beteiligte sich zu wenig am mündlichen Unterricht.»
«Das ist ein sehr schönes Zeugnis, mein Schatz, bis auf diese Bemerkung hier unten. Warum magst du in der Schule denn nicht reden?», fragte der Vater. Sie hockte sich auf die Lehne seines Sessels und legte ihren Arm um seine Schultern. «Ich will nicht. Sie reden immer so komisches Zeugs und wollen immer dieselben Antworten hören. Und ich will nicht in den BDM eintreten, Papa.»
«Hm, na ja», murmelte er.
«Na, das ist ja ’ne tolle Antwort!», sagte Nike. «Wenn es um die HJ, den BDM oder die Gestapo geht, krieg ich plötzlich keine Antworten mehr von euch. Kannst du mir mal erklären, was das bedeutet?»
Herr Heitmann schwieg einen Augenblick. Dann sah er Nike in die Augen und sagte: «In der Familie muss man ja nicht immer alles diskutieren, man kann sich sein Teil auch denken.»
«Wenn ich Frau Dr.Steckelborn wäre, und du wärst mein Schüler, müsste ich dir in dein Zeugnis schreiben: ‹Er beteiligte sich zu wenig am Familiengespräch.›»
Ernst Heitmann lachte. «Was habe ich doch für eine kluge Tochter!»
«Papa, ich bin verliebt!», platzte sie heraus.
«Auch das noch! Ich dachte, ich wäre der Einzige für dich!», sagte der Vater mit gespielter Eifersucht.
Nike rückte näher an ihn heran und küsste ihn auf die Wange. «Du bist der einzige, beste, liebste Papa auf der ganzen Welt.»
«Und wer ist der andere?»
«Ein Musiker», sagte sie.
Ernst Heitmann seufzte. «Ich hätt’s mir denken können. Warum wartest du nicht noch ein bisschen mit dem Verlieben? Du wirst in diesem Jahr erst dreizehn.»
«Ich bin doch kein kleines Kind mehr!»
«Jetzt soll ich wohl sagen, dass ich mich freue?»
«Nur, wenn du es ehrlich meinst», antwortete sie.
«Ehrlich gesagt: Ich habe Bedenken. Und nicht nur deshalb, weil du zu jung dafür bist.»
«Auch deshalb, weil Nathan Jude ist – gib’s ruhig zu!», sagte sie. «Warum hast du ihn denn dann zu Weihnachten eingeladen, wenn du ihn gar nicht magst?»
«Natürlich mag ich ihn. Aber darum geht es nicht. Warum – glaubst du wohl – haben wir mit Nathan und seiner Mutter hier im Laden gefeiert, heimlich und versteckt?»
«Ich weiß, warum. Solche Affen wie Ludwig Martens bedrohen uns, wenn wir uns mit Juden treffen.»
«Du weißt, dass sich Frau Rosenau um die Genehmigung zur Ausreise kümmert», sagte der Vater. «Wenn Nathan mit seinen Eltern nach Amerika geht, müsst ihr euch trennen, das ist dir doch klar, meine Kleine, oder?»
«Hör auf damit! Du musst mich nicht beschützen! Ich bin nicht deine Kleine!», rief sie. Wollten ihre Eltern sie denn nicht verstehen? Nike sprang wütend auf und lief zur Tür. «Nathan und ich bleiben zusammen bis ans Ende der Welt!»
Eisiger Wind fegte draußen durch die Straßen, er trieb ein Gemisch von Schnee und Regen vor sich her, und Nike konnte keinen Meter weit sehen. Als sie gerade um die Ecke biegen wollte, wäre sie beinahe mit einem Mann zusammengestoßen. «Entschuldigung!», sagte sie höflich und schaute hoch. Gerade wollte sie den Blick wieder abwenden und weitergehen, da kam ihr irgendetwas an seiner Gestalt bekannt vor. Sie schaute ein zweites Mal hin: Es war Nathans Vater! Beinahe hätte sie ihn nicht erkannt. «Herr Rosenau! Endlich sind Sie wieder zu Hause!», rief sie voller Freude. Der Geigenbauer war immer größer und kräftiger als ihr hagerer Vater gewesen. Jetzt wirkte er schmächtig, fast zerbrechlich. Sein Blick war trüb, die Wangen eingefallen, die Hände vom Frost rot und geschwollen. Offenbar waren sie auch noch verletzt, denn die Finger waren notdürftig mit schmutzigen Lappen umwickelt. Statt sich mit ihr zu freuen, nickte er ihr nur zu und ging wortlos weiter, mit schleppenden Schritten die Rutschbahn hinunter.
Hoffentlich war seine Frau daheim. Frau Rosenau wird ihn schon wieder gesund pflegen, dachte Nike. Und Nathan würde heute der glücklichste Junge auf Erden sein. Sie beobachtete, wie David Rosenau durchs Schaufenster in seine Werkstatt hineinschaute. Er läutete an der Tür, und trotz des Schneetreibens konnte Nike Rebecca Rosenaus überraschten Schrei hören, als sie ihren Mann draußen in der Kälte entdeckte und ihn hastig in die Wohnung zog.
Sie war nur noch wenige Meter von ihrer Haustür entfernt, da sauste ein Klumpen Schneematsch durch die Luft und klatschte gegen ihren Hinterkopf. Sofort verwandelte er sich in Wasser, das ihr in den Nacken und den Rücken hinunterlief. «Tor!», brüllte eine bekannte Stimme, «Volltreffer!» Sie fuhr herum und sah, dass Paul sich breitbeinig im Schnee aufgestellt hatte und lachte. Wie konnte er nur so dreist und schadenfroh sein? Seine hässlich grinsende Visage machte Nike so zornig, dass sie sich auf ihn stürzte und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug.
«Was ist denn mit dir los?», rief er empört und hielt sich die blutende Nase. «Verstehst du keinen Spaß mehr? Früher hast du dich nicht so zimperlich angestellt!» Er suchte nach einem Taschentuch, fand eines in seiner Manteltasche und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
Nike schwieg beharrlich. Paul wand sich und suchte augenscheinlich nach einem weniger unangenehmen Gesprächsthema. «Ich warte und warte, und kein Mensch meldet sich bei mir», beschwerte er sich schließlich.
«Na, vielleicht denkst du mal darüber nach, warum das so ist», fauchte sie, ließ ihn stehen und stapfte wütend heimwärts. Sie spürte, dass er ihr folgte.
Endlich murmelte er dicht hinter ihr: «Ich hab den alten Rosenau eben gesehen. Nathan wird froh sein, dass sein Vater zurückgekommen ist. Ich find’s ja auch nicht gut, was Rosenaus angetan worden ist. Aber können wir nicht trotzdem Freunde bleiben?»
Sie blieb stehen und trat mit ihren Winterstiefeln in einen hartgefrorenen Schneehaufen am Straßenrand. Dann hockte sie sich auf die eiskalte Gartenmauer vor ihrem Haus und fragte gereizt: «Wozu brauchst du denn Nathan und mich noch?»
«Na, für das, was wir immer machen – saftige Streiche», sagte er und lachte dabei unsicher.
«Ach ja, und gegen wen soll’s diesmal gehen?», fragte sie höhnisch. «Vielleicht gegen die HJ?»
«Bist du verrückt?», rief er überrascht. «Ich bin doch ein Hitlerjunge!»
«Na und?!», sagte Nike böse. «Ich liebe das Abenteuer! Eine Aktion gegen die HJ wäre doch ein toller Nervenkitzel!»
«Mit der HJ kann ich mich nicht anlegen, sonst machen die mich fertig.»
Er hat Angst vor denen, dachte sie und sagte: «Was hast du denn zu befürchten, wenn wir ihnen Streiche spielen?»
«Sie melden es dem Führer, und dann werde ich vorgeladen», sagte Paul leise.
«Du musst vor Adolf Hitler erscheinen?», fragte Nike erstaunt.
«Vor dem doch nicht», antwortete Paul. «Es gibt noch mehr Führer, bei der Hitlerjugend, beim BDM, bei der Gestapo – überall.»
«Und was passiert, wenn sie dich vorgeladen haben?»
«Ich kriege eine Strafe, oder sie schließen mich aus.» Was für ein jämmerlicher Waschlappen!, dachte sie, erhob sich, klopfte sich den Schnee von der Hose und massierte ihre erstarrten Hände. «Du willst es dir also mit der HJ nicht verscherzen und gleichzeitig weiter bei unserer Bande...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2024 |
---|---|
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Antisemitismus • Freundschaft • Liebe |
ISBN-10 | 3-7336-0861-5 / 3733608615 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0861-3 / 9783733608613 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 5,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich