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LOST (eBook)

In der Wildnis hört dich niemand
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0838-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

LOST -  Mindy McGinnis
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Es sollte ein Zelt-Trip mit Freunden werden - Jungs und Mädchen, Bier und Lagerfeuer, mitten in der Natur. Was konnte schon passieren? Als Ashley in den Smoky Mountains verloren geht, weiß sie, dass sie ganz auf sich allein gestellt ist. Dass sie immer weitergehen muss, wenn sie jemals hier rauskommen will. Doch dann verletzt sie sich. Und ihre Kräfte schwinden. Eine Survivalstory, so wunderschön, atemberaubend und erschreckend wie die Wildnis selbst. «McGinnis' emotionale, beinahe körperlich nachempfindbare Erzählung zeigt uns eine starke, sturköpfige und überaus fähige Protagonistin mit einem unerschütterlichen Respekt für die Natur. Unmöglich aus der Hand zu legen.» (Kirkus Reviews)

Mindy McGinnis ist Autorin zahlreicher Jugendromane verschiedenster Genres, von Fantasy über realistische Romane bis hin zu Gothic Thrillern. Ihre Geschichten zeichnen sich durch Mut, Wahrheit und einen unerschrockenen Blick auf die Welt aus.

Mindy McGinnis ist Autorin zahlreicher Jugendromane verschiedenster Genres, von Fantasy über realistische Romane bis hin zu Gothic Thrillern. Ihre Geschichten zeichnen sich durch Mut, Wahrheit und einen unerschrockenen Blick auf die Welt aus. Kattrin Stier hat Anglistik, Germanistik und Pädagogik studiert. Sie übersetzt seit vielen Jahren Bücher aus dem Englischen und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Teil Zwei Als ich mich verirrte


Erster Tag


Beim Aufwachen werden mir sofort zwei Dinge klar:

Erstens, dass es fast Mittag ist und längst jemand nach mir hätte suchen müssen. Und zweitens, dass mein Fuß wirklich übel zugerichtet ist. Im Licht des Mondes hatte ich nur die Verletzungen an meinen Zehen erkennen können, aber als ich nun das T-Shirt abwickele, ist da weit mehr zu sehen und nichts davon sollte normalerweise sichtbar sein.

Der menschliche Fuß ist eine komplizierte Angelegenheit und nach Hunderten von gewanderten Kilometern weiß ich eine ganze Menge darüber. Wer so viel läuft wie ich, lernt rasch, dass kleinste Teile, von deren Existenz man normalerweise nicht einmal weiß, so wehtun können, dass man fast meint, man könnte überhaupt nichts anderes mehr spüren. In meinem Fuß sind 26 Knochen, von denen ich einige jetzt klar und deutlich sehen kann, ganz zu schweigen von einer angerissenen Sehne, die mir höllische Schmerzen bereiten wird, sobald ich versuche aufzustehen.

Aber ich muss los, weil die Sonne schon hoch am Himmel steht und mein Kopf schmerzt. Mühsam ziehe ich mir das T-Shirt wieder an. Meine Lippen sind aufgerissen und lechzen nach etwas zu trinken. Wasser ist das Erste, worum ich mich kümmern muss, und glücklicherweise kann ich mich daran erinnern, dass ich gestern kurz vor meinem Sturz durch einen Bach gewatet bin. Und wirklich – nachdem ich mich an die Kante des Abhangs gerobbt habe, kann ich ihn sehen, wobei das Wort Bach eine Übertreibung ist.

Es ist eher ein kleines Rinnsal, eine Art Überlauf einer höher gelegenen Wasseransammlung auf der Suche nach einer niedriger gelegenen Stelle. Alles, womit das Wasser unterwegs in Berührung kommt, steckt dadrin – von Tierscheiße bis hin zu verfaulten Pflanzenteilen. Lauter Zeug, das ich nicht unbedingt in mich aufnehmen möchte, aber mir bleibt im Augenblick keine andere Wahl. Wenn ich meinen Rucksack dabeihätte, könnte ich eine Filtertablette in meine Trinkflasche geben. Jetzt habe ich nur meinen Mund und meine Hände, aber das scheint auszureichen, denn wenige Minuten später bin ich nicht mehr durstig. Trotz aller Sorgen wegen meines Fußes und der Bedenken, irgendwelche Keime zu schlucken, bin ich dem Grundbedürfnis gefolgt und habe schlicht und einfach meinen Durst gestillt.

Die nächste Herausforderung ist das Aufstehen.

Ich weiß, es wird wehtun und es wird wieder anfangen zu bluten und der Schmerz wird mein Bein hinaufwandern und eine schwarze Welle wird meinen Kopf überschwemmen. Aber dieses Bewusstsein macht es auch nicht einfacher und mir entfährt ein Laut, der nicht aus der Kehle eines normalen Menschen zu stammen scheint, als ich mich auf einen Baum stütze und mich zwinge, tief einzuatmen, bis die Flecken vor meinen Augen langsam verblassen.

Ich stehe. Jetzt muss ich noch gehen.

Der erste Gedanke ist, Vergiss es! Aber als Alternative bliebe mir dann nur, um Hilfe zu schreien, und ehrlich gesagt, würde ich lieber auf dem Weg zurück zum Zeltplatz fünfmal ohnmächtig werden, als zuzugeben, dass ich Hilfe brauche. Das steckt ganz tief in mir drin, ein Gen, das ich von meiner Mom geerbt habe und das sie dazu gebracht hat, alles alleine zu machen – bis hin zu dem letzten Entschluss, uns zu verlassen. Dieses kleine bisschen DNA gemischt mit der Unfähigkeit meines Vaters einzugestehen, wenn er unrecht hatte, ergab eine explosive Mischung, an der ihre Ehe gescheitert ist, als ich noch ein Kind war.

Und wenn man diese beiden Dinge nicht trennt, sondern in einer einzigen Person zusammenführt, komme ich dabei heraus. Ich bin das wandelnde Beispiel für den alten Spruch: «Wenn du willst, dass etwas ordentlich gemacht wird, mach es selbst.» Denn ich habe definitiv niemals unrecht und andere Menschen sind mir nur im Weg. Selbst wenn ich mit einem aufgeschlitzten Fuß alleine in der Wildnis bin. Ich werde lieber auf den Ellbogen zurück zu unserem Zeltplatz robben, bevor ich zugebe, dass ich es nicht alleine schaffe.

Das Dumme ist, dass ich mir nicht mehr sicher bin, in welche Richtung der Platz liegt. Als ich gestern Abend davongelaufen bin, war ich in mehrfacher Hinsicht verletzt, betrunken und außer mir vor Wut und Schmerz. Ich weiß nicht, wie weit und in welche Richtung ich gerannt bin. Und das ist ein Problem. Wie bei einer Matheaufgabe – wenn es zu viele Unbekannte gibt, lässt sich die Gleichung nicht lösen. Wo Norden ist, finde ich leicht heraus, aber ich weiß nicht, in welche Richtung unser Zeltplatz liegt.

Ich beuge mich vor, halte mich am nächstbesten Baum fest, der stabil genug ist, und hüpfe ein Stück, den schlimmen Fuß in der Luft. Der Schmerz ist heftig, aber ich beiße die Zähne zusammen und suche mir den nächsten Baum, so lange, bis ich die Geländekante weiter hinten genauer sehen kann.

Die Jagd hat mich nie besonders interessiert, aber Dad hat mir beigebracht, Spuren zu lesen, damit ich wusste, wer oder was außer mir in den Wäldern unterwegs war. Die Stelle, an der sich so etwas Großes wie ein wild gewordenes Mädchen einen Weg gebahnt hat, sollte eigentlich problemlos zu erkennen sein, denke ich, während ich nach Spuren suche, die ich letzte Nacht hinterlassen habe. Da ist ein ordentlicher Einschnitt, der so aussieht, als wäre ich dort auf die Schulter gestürzt und zum Bach hinuntergerutscht, und eine Lücke oben im Farnkraut, durch das ich getrampelt bin.

Immerhin. Ich hole tief Luft und mache mich bereit für den Aufstieg – der angesichts meiner hüpfenden Fortbewegungsart beinahe unmöglich scheint. Zweimal überschätze ich die Länge meines Armes, stürze und lande mit dem Gesicht voraus im Laub und einmal hätte es mich fast ein Auge gekostet, als ich auf einen am Boden liegenden Ast falle. Aber selbst dann rufe ich nicht nach meinen Freunden; stattdessen fluche ich leise vor mich hin und stehe wieder auf. Ich denke, wenn Gott mich hören kann, sollte er zumindest wissen, wie mir im Augenblick zumute ist.

Oben angekommen, hängt mein Fuß wie ein Bleigewicht am Ende meines Beines und mein Knie schmerzt, weil ich es ständig angewinkelt halte. Schweiß rinnt mir übers Gesicht und sammelt sich in meinem BH, aber darunter bekomme ich eine Gänsehaut, sobald ich mich im Schatten bewege. Es ist weder warm noch kalt. Die perfekte Temperatur, mit der man weder so noch so glücklich wird.

Aber das ist wirklich das kleinste meiner Probleme, wie ich feststellen muss, sobald ich oben angekommen bin.

Ich beschwere mich immer über Leute, die nicht wissen, wie sie sich im Wald bewegen sollen, die Äste abbrechen und Lärm machen, mit einem Schritt morsches Holz aufwühlen und mit dem nächsten frische Triebe zertrampeln. Mit solchen Leuten mag ich einfach nicht unterwegs sein, aber jetzt gerade wünschte ich, ich wäre eine von ihnen.

Es sieht so aus, dass ich selbst im volltrunkenen Wahn keine Spuren hinterlasse.

Fluchend lasse ich mich zu Boden sinken und lehne mich an einen Baum. Ich strecke das Knie aus und betrachte meinen Fuß. Wenn einem dabei die eigene Sehne direkt ins Gesicht schaut, fällt es gar nicht so leicht, die Ruhe zu bewahren. Es blutet jetzt nicht mehr so stark, dafür schwillt der Fuß immer mehr an, weil er wie ein Pendel unten an meinem Bein baumelt. Ich ziehe mein T-Shirt wieder aus und binde es fest um den Fuß, wobei ich den pulsierenden Schmerz ignoriere.

Ich lasse alles in einem einzigen Atemzug los und denke nach. Ich kann ja nicht sehr weit gekommen sein, aber das Zeitempfinden ist dehnbar, wenn man betrunken ist. Gespräche, an denen man sich sporadisch beteiligt, scheinen Stunden zu dauern anstelle von Minuten. Und so ist es möglich, dass ich viel länger gerannt bin, als ich dachte. Und das ist nicht gut. Eine Welle von Panik breitet sich in meinem Inneren aus, drängt nach oben in meine Kehle und droht, mir die Tränen in die Augen zu treiben.

Ich will nicht heulen.

Zum einen wäre es dumm, denn es ist schließlich nicht so, dass ich nicht mehr wüsste, wo ich bin. Zum anderen – ob ich es nun weiß oder nicht – würde es zu meiner Dehydrierung beitragen. Und außerdem – was wäre, wenn Duke oder Kavita oder Meredith mich finden würden, wie ich zwanzig Meter vom Lagerplatz entfernt im BH herumsitze und heule.

«Nope», sage ich mir bei diesem Gedanken. «Kommt nicht infrage.»

Ich. Komme. Schon. Klar.

Also stehe ich auf und suche nach Wegmarkierungen.

Natalie – Gott segne ihre kleine, dreckige Seele – hatte recht mit den Markierungen, von denen sie gestern gesprochen hat. Nachts sind sie zwar nutzlos, aber bei Tageslicht sollten sie zwischen den Bäumen deutlich zu sehen sein. Ich bin zweifellos irgendwo abseits des Trails, aber sehr weit kann ich ja gar nicht entfernt sein. Ich richte mich auf und sehe mich um. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, so weit wie möglich zu schauen. Ein vorbeihuschendes Eichhörnchen und das Klopfen eines Spechts beachte ich gar nicht. Alles, was ich mir jetzt herbeisehne, ist ein weißer Farbtupfer.

Aber ich kann keinen entdecken.

...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2024
Übersetzer Kattrin Stier
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Ashley • Crosscountry • Natur • Smoky Mountains • Survival • Überleben • Wildnis • Zivilisation
ISBN-10 3-7336-0838-0 / 3733608380
ISBN-13 978-3-7336-0838-5 / 9783733608385
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