Eckstein (eBook)
768 Seiten
Atlantis Kinderbuch (Verlag)
978-3-7152-7023-4 (ISBN)
Pascale Quiviger, 1969 in Montreal geboren, hat als Kind häufig gehört, dass sie sich zwischen dem Schreiben und dem Malen entscheiden müsse. Doch das hat sie bis heute nicht getan. Nach ihrem Studium der Philosophie und bildenden Künste zog sie zunächst nach Italien, wo sie Zeichenkurse gab. Ihre visuellen Arbeiten wurden in Kanada und Italien ausgestellt. Heute lebt sie mit ihrer Familie im englischen Nottingham. Ihre literarischen Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter auch die vierteilige phantastische Abenteuersaga Eckstein.
Pascale Quiviger, 1969 in Montreal geboren, hat als Kind häufig gehört, dass sie sich zwischen dem Schreiben und dem Malen entscheiden müsse. Doch das hat sie bis heute nicht getan. Nach ihrem Studium der Philosophie und bildenden Künste zog sie zunächst nach Italien, wo sie Zeichenkurse gab. Ihre visuellen Arbeiten wurden in Kanada und Italien ausgestellt. Heute lebt sie mit ihrer Familie im englischen Nottingham. Ihre literarischen Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter auch die vierteilige phantastische Abenteuersaga Eckstein.
1
Meine schöne Ema.
Wenn Du diesen Brief liest, bist Du am Leben, und ich bin tot.
Ich habe Dir ein glückliches Land versprochen und mein Wort nicht gehalten. Bitte vergib mir.
Manfred hatte Bauchschmerzen. Er verspürte eine Art kaltesBrennen, das er zunächst zu ignorieren versuchte, weil er damit befasst war, die Reinigung des Festsaals zu beaufsichtigen. Die Tische waren schon abgeräumt, die Böcke zusammengeklappt, die Stühle entlang der Wände aufgereiht, der Boden gefegt, gewischt und gebohnert. Die fünfstöckige Hochzeitstorte war samt Zuckerblüten und dem Liebespaar aus Marzipan zurück in die Küche gewandert. Was für ein trostloser Abend. Die Braut an der Schulter ihrer Mutter in Tränen aufgelöst, der Bräutigam verschwunden, die Gäste in alle Winde zerstreut, das Königspaar … Wo war das Königspaar?
Wieder stach es in seinem Bauch. Heiß oder kalt? Leber oder Milz? Manfred zog sich ein wenig in den Hintergrund zurück. Draußen vor dem Fenster tüpfelten große weiße Flocken die dunkle Nacht. Er presste die Hand auf seinen Magen, hörte das Knittern von Papier unter der Livree und begriff, dass ihm nicht der Bauch wehtat – der Brief tat ihm weh.
Und so war Manfred der Erste, der vom Tod des Königs erfuhr.
Im Morgengrauen setzten nicht weit von Mittling ein Flussschiffer und sein Sohn wie jeden Morgen ihren Kahn aufs Wasser. Das Land war schneebedeckt, und über der Konstanzia hingen Nebelschleier. Am Ufer herrschte eine seltsame Stille, und auch der Fluss strömte geräuschlos dahin. Als der Schiffer mit seinem Ruder gegen etwas Festes stieß, glaubte er zunächst, es sei ein Baumstamm. Er drängte ihn zur Seite, um vorbeizufahren.
»Ach du Schreck! Alexander, schau dir das an!«
Es war ein Mensch. Ein Mann, der mit ausgebreiteten Armen bäuchlings im Wasser trieb.
Sie hievten ihn in den Kahn. Der aufgedunsene Tote trug ein prunkvolles Wehrgehänge; seine weit geöffneten Augen zeigten fast kindliches Erstaunen. Dazu das weiße Haar, die lange Narbe, die fuchsförmigen Knöpfe, der feine Stoff des zerrissenen Festanzugs …
»Teufel auch, das ist der König!«
Der König mit einem abgebrochenen Pfeil in der Kehle.
Der Schiffer war kein Dummkopf. Er steuerte den Kahn ans Ufer, ließ seinen Sohn zwischen dem Schilf aussteigen und befahl ihm, nach Hause zu rennen und in sein Bett zu schlüpfen, als wäre er noch gar nicht aufgestanden. Vor allem dürfe er mit keinem über das reden, was er gerade gesehen habe. »Mit keinem, Alexander.«
Dann fuhr er selbst zum nächsten Anlegesteg, an dem schon ein Fuhrmann auf ihn wartete, um mit dem Pferdekarren über den Fluss zu setzen. Statt ihn an Bord zu nehmen, fragte der Schiffer, ob er sein Fuhrwerk von ihm borgen könne.
»Wofür denn?«
»Für ihn.«
Der Fuhrmann blickte auf die Leiche.
»Ach verdammt, der arme Kerl. Also ist er es, nach dem sie suchen …«
Er zeigte auf die undeutlichen Gestalten weiter flussabwärts, die sich im Nebel das Ufer entlangbewegten und dabei immer wieder über die Böschung beugten.
»Ich möchte ihn nach Hause bringen«, sagte der Schiffer.
»Ich komme mit.«
»Besser, du bleibst hier.«
»Es ist aber mein Pferdekarren.«
»Und es ist mein König.«
»Meiner auch.«
»Denk doch mal ein bisschen nach, Fuhrmann. Ein Pfeil! Das ist eine deutliche Handschrift. Am besten du vergisst, was du gesehen hast, und bleibst schön hier.«
»Und mein Fuhrwerk?«
»Warte hier bis Mittag auf mich. Falls ich nicht zurückkomme, nimmst du stattdessen meinen Kahn und verkaufst ihn. Er ist mehr wert als dein Karren.«
Gemeinsam hoben sie die Leiche auf den Wagen, wo sie unter der Plane verborgen blieb. Anschließend setzte sich der Fuhrmann an den Rand des Anlegestegs und ließ die Füße baumeln. Bei näherer Betrachtung hielt er sich lieber aus der Sache heraus. Mit dem heller werdenden Tag lösten sich die Nebelschwaden auf oder waberten weiter, und auch die undeutlichen Figuren unten am Fluss verzogen sich. Der Karren fuhr los.
Die Räder drehten sich ruckelnd, und das alte, schorfbedeckte Pferd schritt nur langsam voran. Der Schiffer war noch nicht weit gekommen, als eine Gestalt aus dem Nebel trat, sich mitten auf die Straße stellte und ihm ein Zeichen machte anzuhalten.
»He, guter Mann! Kommst du vom Fluss?«
»Ja.«
»Und wohin fährst du?«
»Zum Schloss.«
»Was hast du geladen?«
»Eine Fracht.«
Der Unbekannte zeigte sich sehr interessiert. Er war ein gut aussehender junger Mann, der bei all seiner Eleganz einen halbseidenen Eindruck machte.
»Darf ich einen Blick darauf werfen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, lupfte er die Plane und ließ sie hastig wieder sinken.
»Wer hat ihn sonst noch gesehen?«
»Niemand.«
»Bist du sicher?«
»Ich schwör’s.«
Der junge Mann dachte einen Moment nach. Dann sagte er mit Blick auf das gebrechliche Fuhrwerk und den alten Klepper:
»Könntest du vielleicht ein neues Fuhrwerk gebrauchen?«
»Nicht wirklich …«
»Du kriegst einen nagelneuen Karren, samt Zugtier natürlich, im Tausch gegen deine Fracht. Unter einer Bedingung: Diese Fracht hast du nie gesehen. Haben wir uns verstanden?«
Dem Flussschiffer brach der kalte Schweiß aus. Es passierte genau das, was er befürchtet hatte. Vielleicht hätte er den König im Wasser treiben lassen sollen. Aber … den König! Voller Zweige im Haar und Flussgräsern zwischen den Fingern auf die Meeresmündung zutreibend wie ein simpler Fisch? Das kam gar nicht infrage.
»Haben wir uns verstanden?«, wiederholte der andere.
»Und ob!«, schrie der Schiffer. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, dass der König mit einem Pfeil erschossen wurde, mitten in den Hals, und ich habe auch keinen Schimmer davon, dass sein Bruder der beste Schütze im Königreich ist! Ist es das, was Ihr meint, ja?«
»Du lebst gefährlich, mein Lieber. Aber da du ja ach so ahnungslos bist, lass dir gesagt sein, dass der König ertrunken ist. Dass er durch die Hände seines Vertrauensmannes Willem Schöne umgekommen ist. Und dass man in diesem Moment überall nach dem Täter fahndet. Also, was ist mit dem neuen Fuhrwerk? Haben wir vielleicht unsere Meinung geändert?«
Der Schiffer besaß nichts als seinen alten Flusskahn und sein Ehrgefühl. Das eine konnte er leicht aufgeben, aber nicht das andere. Dass der Unbekannte ihn für einen Fuhrmann hielt, begriff er als seinen Vorteil. So würde man seine Familie weniger leicht aufspüren können.
»Nein, wir haben unsere Meinung nicht geändert.«
»Tja, das ist dann Pech für dich.«
Der junge Mann blickte hinüber zum Ufer. Eigentlich hätte er den anderen Bescheid geben müssen, dass die Suche nun ein Ende hatte, aber es war eine allzu schöne Gelegenheit, um die ganzen Lorbeeren allein einzuheimsen.
»Du erlaubst?«, fragte er, stieg auf den Karren und ergriff die Zügel. »Ich nehme das jetzt in die Hand.«
»Und was gibt Euch das Recht?«
Der brünette Schönling zeigte ihm ein Lächeln, das wegen des blitzenden Metalls in seinem Mund nicht nur befremdlich, sondern vor dem tragischen Hintergrund auch unangemessen war.
»Die Tatsache, dass deine Fracht mein Cousin ist.«
Eine Stunde später saß der Schiffer im improvisierten Kerker des Schlosses und hörte die Glocken vom hohen Turm läuten. Dieselben Glocken waren schon tags zuvor erklungen, als sie jenen falschen Alarm verkündeten, auf den hin Tibald zur Frixelner Grotte geflohen war. Er hatte nicht geahnt, dass der Tod ihn ausgerechnet dort ereilen würde, wo er ihm zu entgehen hoffte. Nun ertönten ein langer Schlag, dann zwei kurze und ein vierter, endloser: Der König ist tot. Anders als am Vortag sprachen die Glocken diesmal die Wahrheit.
Genau auf diese düstere Melodie hatte Jesko jahrelang hingearbeitet. Und beim Klang des ersten Glockentons tauchte er wie aus dem Nichts auf. Niemand kündigte ihn an, niemand sah ihn kommen, aber auf einmal war er da, auf dem Platz vor dem Schloss. Ausgemergelt, mit dichten Bartstoppeln und einer schauderhaften Schulterwunde stieg er ganz allein die monumentale Freitreppe hoch. In einer unbegreiflichen Anwandlung von Demut klopfte er an, damit man ihn einließ, und putzte seine Stiefel ab, bevor er hineinging. So unpompös endete sein langes Warten, als sei er selbst von den Glocken überrascht worden, als hätte er mit der ganzen Tragödie nichts zu tun, als wäre er ohne dieses Geläut für immer fortgeblieben.
Dabei entsprach alles genau seinem Kalkül. Im Wissen, dass er gegen Tibalds Leibgarde allein nicht ankommen würde, hatte Jesko die Konfrontation mit ihr gemieden und stattdessen alles darauf angelegt, sein Zielobjekt zu isolieren, um dieses letzte Hindernis, das zwischen seinem Leben auf der Flucht und seiner unangefochtenen Herrschaft stand, mit einem einzigen Pfeil zu erledigen. Auch als Verbrecher folgte er einem eigentümlichen Ehrenkodex. Als mit der Rückkehr der Isabelle sein eigener Königstraum ein jähes Ende fand, hatte er sich etwas geschworen: Erst wenn er seinen Bruder mit eigenen Händen vernichtet hätte, würde er die Königskrone für sich beanspruchen.
In der Duellnacht hatte er seinen Moment gekommen geglaubt. Und nachdem er aus dem zermürbenden Kampf als Verlierer hervorgegangen war, war seine Entschlossenheit nur noch größer geworden. Mit eigenen Händen, so musste es sein. In den Wochen danach hatte Tibald sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und darüber gebrütet, wie er Jesko aus seinem...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Königreich Eckstein |
Übersetzer | Sophia Marzolff |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Fluch • Gefahren • Insel • Königreich • Meer • Prinz • Seefahrt |
ISBN-10 | 3-7152-7023-3 / 3715270233 |
ISBN-13 | 978-3-7152-7023-4 / 9783715270234 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich