Friedrich der Große Detektiv (eBook)
256 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0803-3 (ISBN)
Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh geboren. 1989 erschien sein erster Roman «Feuer in Berlin». Aus dem Debüt entwickelte sich die Serie um den Privatdetektiv Bernhard Gunther. Für Band 6, «Die Adlon-Verschwörung», gewann Philip Kerr den weltweit höchstdotierten Krimipreis der spanischen Mediengruppe RBA und den renommierten Ellis-Peters-Award. Kerr lebte in London, wo er 2018 verstarb.
Philip Kerr ist vielfach ausgezeichneter Autor von über dreißig Büchern, darunter die bekannte Kinderbuchreihe «Die Kinder des Dschinn» und das ergreifende Jugendbuch «Winterpferde». Zeit seines Lebens beschäftigte er sich mit der deutschen Gechichte, die er immer wieder in seinen Büchern lebendig werden ließ. Philip Kerr lebte bis zu seinem Tod in London.
Drittes Kapitel Das Kabarett der Komiker
Ein paar Tage nach Neujahr fing für Friedrich die Schule wieder an. Das Mommsen-Gymnasium lag ganz in der Nähe und war nach einem wichtigen deutschen Historiker namens Theodor Mommsen benannt. In der Eingangshalle der Schule hing ein Bild von ihm, auf dem er mit langen weißen Haaren und Brille zu sehen war. Leo und Albert, Friedrichs beste Freunde, fanden, er sähe darauf aus wie ein verrückter Professor. Was stimmte.
Friedrichs Lieblingslehrerin war Frau Weber. Sie dagegen bemühte sich sehr darum, keine Lieblingsschüler zu haben, doch wenn sie welche gehabt hätte, dann wären Friedrich und Leo sicherlich unter ihnen gewesen. Was nicht bedeutete, dass Friedrich ein Streber war. Keineswegs. Doch er strengte sich an und gab immer sein Bestes, und wenn es etwas gibt, was Lehrer mögen, dann ist es ein Schüler, der sein Bestes gibt. Leo dagegen war einfach schlau. Und das haben Lehrer am liebsten.
Frau Weber war eine gute Lehrerin. Sie übte ihren Beruf seit über dreißig Jahren aus, und das Mommsen-Gymnasium war ihr Leben. Am Morgen kam sie als Erste und fuhr abends als Letzte auf ihrem schwarzen Fahrrad nach Hause. Sie besaß außerdem Sinn für Humor, was bei Lehrern immerhin eine Seltenheit ist, besonders bei einer Witwe wie ihr. Wie so viele Frauen hatte sie ihren Mann im Großen Krieg verloren, doch sie sprach nie davon. Sie war immer streng, aber gerecht, und jeden Tag las sie ihrer Klasse zum Abschluss des Unterrichts ein Kapitel aus einem neuen Buch vor.
Einmal hatte sie Emil und die Detektive ausgesucht, und Friedrich war begeistert gewesen. Es war etwas ganz anderes, sein Lieblingsbuch vorgelesen zu bekommen, und dann noch von jemandem, der den Figuren im Buch so unterschiedliche Stimmen geben konnte.
Friedrich ging gern zur Schule. Und er war ein guter Schüler, beinahe der Klassenbeste. Aber er war auch gut im Sport, und hätte er sich selbst beschreiben sollen, hätte er sicher gesagt, dass er sich am liebsten in der Natur aufhielt. Er ging oft in den Tiergarten, den großen Park mitten in Berlin, wo er mit seinem Freund Albert und dessen Schwester Viktoria sowie manchmal auch mit Leo Detektiv spielte.
Wenn er allein war, stromerte Friedrich viel durch die Stadt. Er versuchte dabei, seine Beobachtungsgabe zu schulen, denn Beobachtung ist alles, wenn man ein guter Detektiv sein will. Daher kannte er die Straßen von Berlin auch wie seine Westentasche und ebenso die Linien der Straßenbahnen und Busse. Er wusste sogar, welche Plätze man besser mied – Viertel wie Neukölln und den Wedding zum Beispiel, wo der Streit zwischen den Nazis und den Kommunisten immer wieder aufflammte.
Einmal war er vor der Zentrale der Kommunistischen Partei am Bülowplatz Zeuge einer richtigen Straßenschlacht geworden, bei der viele Menschen verletzt worden waren. Vermutlich stand deswegen jetzt immer ein gepanzertes Fahrzeug dort. Bei einer anderen Gelegenheit hatte er einen Trauerzug für einen jungen Mann namens Horst Wessel beobachtet, der von den Kommunisten getötet worden war. Politik schien oft mit Gewalt einherzugehen. Friedrichs Vater sagte, diese beiden Parteien könnten sich noch nicht einmal darauf einigen, sich nicht zu einigen.
«Das ist das Problem mit diesem Land», sagte er. «Es gibt zu viele Menschen in Deutschland, die glauben, sie hätten ein Monopol auf die Wahrheit, obwohl sie eigentlich nichts anderes tun, als weitere Lügen zu verbreiten.»
Der Kurfürstendamm im Westen der Stadt war dagegen normalerweise sicher, und eines Januarnachmittags ging Friedrich nach der Schule mit seinem Freund Leo bis zum Lehniner Platz und weiter zum Kabarett der Komiker, um sich das Wandgemälde von Walter Trier anzusehen. Leo war ebenso begeistert von Emil und die Detektive wie Friedrich. Und Herrn Triers Illustrationen gefielen ihm am besten. Er interessierte sich daher sehr für das Wandgemälde, vor allem, weil er später einmal selbst Künstler werden wollte.
Im Gebäude konnten sie eine Jazzband proben hören, doch in der Eingangshalle schien niemand zu sein, und so stellten sich die beiden Jungen ehrfürchtig vor das Wandgemälde. Es war viel größer und lustiger, als sie gedacht hatten. Eigentlich waren es sogar zwei Wandgemälde. Auf einem saß ein Mann am Flügel, ein zweiter zupfte eine Harfe, ein dritter blies in eine Tuba, und ein vierter spielte Gitarre. Auf der gegenüberliegenden Wand war eine Art Dschungelszene zu sehen mit einem Känguru, einem jungen Hasen, einem Schimpansen, einem Panther und einem Zebra. Alles war sehr lebendig und farbenfroh und erinnerte Friedrich an Karikaturen.
«Ich verstehe schon, warum auf dem einen Bild eine Jazzband zu sehen ist», meinte Friedrich. «Aber ein Känguru würde sich wohl nie am selben Ort wie ein Zebra befinden. Oder wie ein Schimpanse.»
«Stimmt», gab Leo zu. «Das nennt man wohl künstlerische Freiheit.»
«Und was soll das bedeuten?»
«Das bedeutet, dass man im Namen der Kunst ruhig die Tatsachen verändern darf. Es ist in Ordnung, weil es Kunst ist, aber normales Lügen nicht.»
«Der Mann mit der Trompete und dem riesigen Schnauzbart sieht aus wie Hindenburg», sagte Friedrich.
Hindenburg war der Reichspräsident und ziemlich alt und dick.
Leo nickte zustimmend.
«Na, wen haben wir denn hier?», dröhnte die Stimme eines Mannes durch die Halle. «Bewundern wir die Kunst? Oder machen wir einen Schulausflug ins Irrenhaus?»
Friedrich und Leo drehten sich um und sahen einen großen Mann hinter sich stehen. Er trug einen doppelreihigen Nadelstreifenanzug und einen großen Hut und hielt einen Spazierstock in der Hand. Er hatte einen buschigen Bart und einen grauen, spitz zulaufenden Schnauzer, der aussah wie die Nadel von einem Kompass.
«Kinder, Kinder, das hier ist ein Kabarett und nicht die Nationalgalerie.»
«Wir kennen den Unterschied», sagte Leo.
«Wirklich? Und wen kennt ihr noch?»
«Ich kenne den Künstler, Walter Trier», sagte Friedrich. «Von ihm stammen die Bilder in unserem Lieblingsbuch Emil und die Detektive. Er hat gesagt, ich sollte mir sein Wandbild ansehen, wenn ich mal vorbeischaue.»
«Wenn du woran vorbeischaust?» Der Mann lächelte über seinen eigenen Scherz. Friedrich war nicht so sicher, ob er sich über sie lustig machte oder nicht – das wusste man nie so genau bei Erwachsenen –, darum wandte er sich zum Gehen. Leo folgte ihm.
«Wartet mal, Kinder. Ihr kennt also Walter Trier, ja?»
«Ein bisschen.»
«Tut mir leid, wenn ich unhöflich war, Jungs. Wie heißt ihr?»
«Ich bin Friedrich Kissel.»
«Und ich Leo Hertz.»
«Wir gehen hier alle miteinander ein bisschen ruppig um. Das Kabarett der Grausamen, wisst ihr? Ich mache Witze darüber, wie hässlich die Deutschen sein können, und dann lachen alle. Alle Berliner jedenfalls. Ich am meisten. Walter Trier ist für mich wie Familie. Er hat das Bild hier an der Wand schon vor einer Weile gemalt, und ich habe ihn sogar dafür bezahlt. Und das ist kein Witz. Habt ihr Familie?»
«Natürlich.»
«Schön, eine Familie zu haben. Neulich habe ich mir meinen Familienstammbaum angesehen und festgestellt, dass ich nur das Baumharz bin. Und außerdem mit Hitler verwandt. Was für ein Pech, was? Mein Name ist übrigens Robitschek, Kurt Robitschek, und mir gehört dieser Saftladen. Also, was haltet ihr von dem Bild unseres Freundes?»
Friedrich fühlte sich von dem Mann immer noch ein wenig verunsichert und sah Leo an. Dann sagte er. «Wir mögen es. Stimmt’s?»
«Klar», bestätigte Leo.
«Das war’s? Hey, jetzt weiß ich, warum Tiger ihre Jungen auffressen … Ich weiß, ich habe Saftladen gesagt. Aber ich bin stolz darauf, wisst ihr? Ich liebe es hier.»
«Sie sind Komiker, oder?», bemerkte Leo mit ernstem Gesicht.
«So steht es jedenfalls in meiner Polizeiakte. Die sollte man sich hin und wieder mal anschauen. Meine Frau tut es jedenfalls. Sie ist gerade aus der Schweiz zurück. Hat die Alpen besucht. Nette Leute, übrigens, diese Alpen. Na, bin ich euch zu schnell? Sollte ich eigentlich nicht in meinem Alter. Ich weiß, dass ich alt werde. Ich bin schon so alt, dass ich mich beim Zähneputzen unterhalten kann. Denkt mal drüber nach, Kinder. Ich versuche hier zu arbeiten. Normalerweise müssen die Leute für meine Witze bezahlen. Ich fühle mich wirklich alt. Neulich bin ich am Friedhof vorbeigekommen, und dann sind zwei Männer mit Schaufeln hinter mir hergerannt.»
Jetzt lächelte Friedrich doch, und auch Leo musste grinsen.
«Na also», sagte Herr Robitschek. «Endlich. Lächelt, und ganz Deutschland lächelt mit euch. Das ist jedenfalls die Theorie. Bei meinem letzten Geburtstag konnte ich die Kerzen auf meinem Kuchen nicht mehr ausblasen, weil mich die Hitze so zurückgedrängt hat. Wie alt seid ihr – zwölf, dreizehn?»
«Dreizehn.»
«Das bringt so manchen Leuten Unglück. Aber euch nicht. Mit eurem Sinn für Humor werdet ihr bestimmt sehr alt. Wirklich. Wer viel lacht, riskiert einen frühen Tod. Das meine ich ernst. In dieser Stadt kann einen Lachen umbringen. Das bedeutet dieses Wandgemälde übrigens. Da draußen ist der reinste Dschungel.»
Er nickte zur Glastür und verzog das Gesicht, als zwei Braunhemden der Nazis vorbeimarschierten. Die Männer wurden Braunhemden genannt, weil sie braune Hemden trugen, und es waren zudem berüchtigte Schläger, sodass die meisten Berliner, die bei Verstand waren, die Straßenseite wechselten, wenn sie Braunhemden auf sich zukommen sahen.
«Ernsthaft», sagte Robitschek. «Hitler ist neulich zu seinem Doktor...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2024 |
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Übersetzer | Christiane Steen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Berlin • Bücherverbrennung • Emil und die Detektive • Erich Kästner • Friedrich • Kindheit • Nationalsozialimus • Nazideutschland • Nazizeit • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-7336-0803-8 / 3733608038 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0803-3 / 9783733608033 |
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