You'd be Home Now (eBook)
448 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0620-6 (ISBN)
- Spiegel Bestseller: Jugendbuch (Juni/2024) — Platz 10
- Spiegel Bestseller: Jugendbuch (Mai/2024) — Platz 8
Kathleen Glasgow lebt und schreibt in Tucson, Arizona. »Girl in Pieces« ist ihr erstes Jugendbuch und wurde direkt ein »New York Times«-Bestseller. Inzwischen hat sie mehrere Jugendbücher veröffentlicht, die vielfach ausgezeichnet und in 24 Sprachen übersetzt worden sind.
6
Als ich in die Küche gehumpelt komme, legt meine Mutter die Zeitung zusammen, die sie gerade gelesen hat, und stellt ihre Kaffeetasse darauf. »Ja, wen haben wir denn da«, sagt sie betont fröhlich und wendet sich dem Herd zu. Sie häuft Rührei auf den Teller vor mir. »Heute ist ein großer Tag. Du musst etwas essen. Du hast in letzter Zeit nicht viel gegessen. Ich mache mir ein bisschen Sorgen.«
Sie schnuppert übertrieben – »Hast du geduscht?« –, streicht sich die Haare zurück und dreht sie zu einem eleganten, lässigen Dutt. Sie trägt eine hübsche cremefarbene Bluse, eine dunkelgraue Jacke und ihre glänzenden schwarzen Schuhe zu einer weit ausgestellten Hose. Ihre Arbeitskleidung.
»Du gehst zur Arbeit?«, frage ich, und meine Stimmung sinkt. Ich dachte, sie würde vielleicht mitkommen wollen, wenn sie mir endlich die Schiene abnehmen, die ich seit fünf Wochen trage. Ich weiß selbst nicht, warum ich mir Hoffnungen gemacht habe.
Sie runzelt die Stirn. »Ja, natürlich. Heute kann ich nicht fehlen. Wir haben eine eidesstattliche Aussage. Maddie ist da. Sie kann dich hinbringen.«
Ich esse ein paar Bissen Rührei und schiebe den Rest auf dem Teller herum, während sie Portemonnaie, Schlüssel und Handtasche zusammensucht. Meine Mutter ist Anwältin, mein Dad Arzt in der Notaufnahme, was bedeutet, dass beide so gut wie immer arbeiten. Trotzdem dachte ich, wenigstens einer von ihnen würde dabei sein wollen, wenn ich meine Schiene abkriege.
»Nicht schmollen, Emory. Blue Spruce wird von der Versicherung nicht übernommen, Daddy und ich können nicht freinehmen.« Blue Spruce ist die Klinik in Colorado, in die sie Joey geschickt haben.
Ich schaue auf meinen Teller. Einmal, in der dritten Klasse, als meine Mutter Joey und mich vor der Schule absetzte, flüsterte eine der Mütter auf dem Bürgersteig: »Die Familie ist sündhaft reich, es überrascht mich, dass sie keinen Chauffeur für ihre kleinen Schätze haben.«
Als ihr klarwurde, dass ich ihre Worte gehört hatte, lächelte sie mich breit und künstlich an und winkte meiner Mutter nach. Ich war erst acht, aber ich verstand sehr gut, was sie meinte.
Mit dem Geld der Familie meiner Mutter könnten sie Joeys Entzugsklinik zigmal bezahlen, und es ginge uns immer noch bestens. Sie muss nicht arbeiten, sie will.
Maddie kommt mit Fuzzy auf dem Arm in die Küche. »Wo ist mein Frühstück?«, fragt sie verschlafen.
»Du bist auf dem College«, erwidert meine Mutter. »Du kannst dir dein Frühstück selbst machen. Und beeil dich. Emmys Termin ist um zehn.«
Ich schiebe meinen Teller in Maddies Richtung. »Du kannst den Rest von meinem haben.«
»Oh, das hätte ich fast vergessen«, sagt meine Mutter. »Hier.«
Sie drückt mir ein rosa Handy in die Hand.
»Das andere«, sagt sie leise, und ihre Augenbrauen ziehen sich ganz leicht zusammen, »war … zertrümmert.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Zertrümmert. Bei dem Unfall. Ich hielt es umklammert, während Luther Leonard lachte und immer schneller fuhr.
»Die Nummer ist die alte«, sagt sie und nippt an ihrem Kaffee. »Sie haben alles überspielt.« Sie stellt ihre Tasse ab und dreht sich um, nimmt die Pfanne vom Herd und schrubbt sie in der Spüle ab.
»Ha«, sagt Maddie, setzt Fuzzy ab und steckt sich mit den Fingern ein Stück Rührei in den Mund. »Das sagen sie, aber ich glaube das nicht. Irgendwas fehlt immer.«
Sie greift nach der Zeitung, die meine Mutter gelesen hat. »Ist die von heute?«
Meine Mutter wirbelt herum. »Nein!« Sie versucht, Maddie die Zeitung aus der Hand zu reißen.
»Mom!« Maddie macht einen Schritt zur Seite und schlägt die Zeitung auf. Ihr Gesicht wird blass, und sie faltet sie schnell wieder zusammen und klemmt sie sich unter den Arm.
»Was?«, frage ich. »Was ist?«
Meine Mutter und Maddie sehen sich an. Ich nehme Maddie die Zeitung weg.
Auf der Titelseite des Mill Haven Ledger ist ein Foto von Candy MontClair. Selbst in Schwarz-Weiß kann man die Sommersprossen in ihrem Gesicht erkennen. Ihr hellrotes Haar fällt ihr in Locken über die Schultern. Sie hat das Kinn in die Hand gestützt. Das Foto vom Schulfotografen aus der elften Klasse.
Gemeinde trauert um junges Mädchen
»Leg das weg«, sagt meine Mutter sanft. »Du musst das nicht lesen, Emory.«
Der Sommer gehört den Teenagern in Mill Haven. Partys am See und Lagerfeuer, freitagabends die Hauptstraße rauf und runter fahren. Candy MontClair wollte an einem Theatercamp im Bundesstaat New York teilnehmen, wie jeden Sommer, seit sie zwölf war. Doch tragischerweise …
Ich fühle mich, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen. Die Sätze verschwimmen vor meinen Augen. Wie konnte so etwas in Mill Haven passieren? Wir lassen unsere jungen Leute im Stich … Drogen- und Alkoholkonsum weitverbreitet … Wer ist schuld?
»Emmy«, sagt Maddie und zieht mir die Zeitung aus den Fingern. »Emmy, atmen.«
Tragischerweise.
Wie ihr Atem auf dem Rücksitz klang, eingeklemmt unter Joey. Als würde sie ertrinken.
Sterben.
Ich schließe die Augen, das Geräusch ihres röchelnden Atems hallt durch meinen Kopf.
»Mom«, sagt Maddie scharf. »Wie wär’s, wenn du ihr jetzt eine von diesen Pillen gibst? Ich glaube nicht, dass sie es sonst zu ihrem verdammten Termin schafft.«
»Niemand ist schuld«, sagt meine Schwester im Auto. »Sie haben bei Luther einen Drogentest gemacht. Er hatte weder Drogen noch Alkohol im Blut. Es hat in Strömen geregnet. Er hat einfach die Kontrolle über das Auto verloren.«
Candy hat geweint, Joey war völlig hinüber, und ich habe Luther angeschrien, während der Regen auf die Windschutzscheibe prasselte, weil er von der Wolf Creek Road nach links abbiegen wollte, nicht nach rechts, wo es nach Hause ging. Luther lachte. Nur ein kleiner Stopp. Fünf Minuten. Ihr Mädels seid solche Angsthasen. Ich tue euch einen Gefallen.
Ich will nur, dass Maddie den Mund hält. Ich will nur, dass diese Tablette anfängt zu wirken. Ich habe seit meiner ersten Woche zu Hause keine mehr genommen.
»So etwas passiert«, sagt Maddie. »Menschen sterben, ohne Grund. Ich weiß, es klingt gefühllos, aber es war einfach nur ein Unfall. Oh Gott, was ist denn unter der Frost Bridge los? Wie viele Leute sind da bitte?«
Ich schaue aus dem Fenster. Die Frost Bridge führt aus der Stadt, gleich daneben steht das nervige Werbeschild für Mill Haven: DU FÄHRST SCHON WIEDER? WÜRDEST DU HIER WOHNEN, WÄRST DU SCHON ZU HAUSE! Unten am felsigen Flussufer sind Zelte und Planen, alte Decken und Schlafsäcke. Menschen stehen in Grüppchen herum. Sitzen, rauchen.
»Die Stadt«, sage ich. »Die Stadt hat sie vertrieben. Du weißt schon, mit den unbequemen Bänken und so. Den Bußgeldern. Ich glaube, deshalb kommen sie jetzt hierher. Damit ihnen nichts passiert.«
Bitte wirk endlich, Tablette. Bitte wirk.
Hat Joey sich so gefühlt? Wollte er sich unbedingt besser fühlen, sich betäuben, sich verlieren?
Maddie sagt: »Hm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser geschätzter Stadtrat, in dem unsere geschätzte Mutter Mitglied ist, das gut findet.«
Endlich spüre ich die Wärme, die sich in mir ausbreitet und alles lockert. Milder als der Ozean, der im Krankenhaus durch meine Adern floss, aber immer noch beruhigend.
Ich schaue aus dem Fenster, Mill Haven zieht in einem feuchten, verschwommenen Dunst an mir vorbei. Rote, weiße und blaue Fahnen hängen über der Main Street. In der Ferne am Stadtrand ragt die Mühle auf. Das Vermächtnis unserer Familie, das, was vor langer, langer Zeit diese Stadt aufgebaut hat.
In wenigen Tagen ist der vierte Juli, Unabhängigkeitstag. Wenn Joey hier wäre, würden wir im Kingston Park abhängen und kichernd zuschauen, wie Simon Stanley die Mill Haven Gleefuls zu einer temperamentvollen Darbietung von »R.O.C.K. in the USA« dirigiert, und dann würden wir uns ansehen, wie das Feuerwerk am Himmel explodiert. Kalte Zitronenlimo durch Pfefferminzstäbchen schlürfen. Uns über die Parade lustig machen.
Nein, das stimmt nicht. Ich schüttle den Kopf. Die Tablette hat mein Hirn vernebelt. Joey ist schon seit Jahren nicht mehr mit mir zum Feuerwerk gegangen. Stattdessen war er mit seinen Freunden unterwegs. Er kam spät und beduselt nach Hause und schlich sich heimlich rein, wenn unsere Eltern längst im Bett waren. Und ich schaute allein im Garten zu, wie das Feuerwerk den Himmel aufriss. Ich habe immer auf ihn gewartet, egal, wie müde ich war.
Maddie redet immer noch, ihre Worte lösen sich auf, sobald sie ihren Mund verlassen.
Vielleicht ist es das, was Joey an Drogen so mag. Dass sie die Dinge neu ordnen, Erinnerungen verschieben, auslöschen, womit er sich nicht beschäftigen will. Unangenehmes verblassen lassen.
»Emmy!«
Maddies scharfe Stimme zersplittert meine Gedanken.
»Was ist los mit dir? Ist es das Vicodin? Du musst was essen, bevor du es nimmst. Mein Gott!«
In Dr. Coopers Praxis ist es kalt. Obwohl mein Inneres von der Tablette warm ist, zittere...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2024 |
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Übersetzer | Maren Illinger |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Autounfall • Drogenabhängigkeit • Familie • Geschwisterbeziehung • Girl in Pieces • Sucht |
ISBN-10 | 3-7336-0620-5 / 3733606205 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0620-6 / 9783733606206 |
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