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Kurz vor dem Rand (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
204 Seiten
Verlagshaus Jacoby & Stuart
978-3-96428-232-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kurz vor dem Rand -  Eva Rottmann
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»Ich heiße Ari, und dies ist die Geschichte meiner ersten Liebe. Sie geht nicht gut aus, das sag ich euch gleich. Also wenn ihr auf Happy Ends steht, legt ihr das hier lieber weg und geht euch ein Eis kaufen. Es ist mir ehrlich gesagt scheißegal.« Jeden Tag trifft sich eine Gruppe von Freunden zum Skaten auf dem Skatepark, für Ari, die Protagonistin, eine lebensrettende Aktivität. Sie kann sich kaum an ein Leben ohne Skateboard erinnern. Nach einer bewegten Kindheit scheint sie zufrieden zu sein, allein mit ihrem Vater Bob zu leben, mit ihrer Lehre in einem Malerbetrieb und mit ihren Skater-Kumpels, die sie als »eine von den Jungs« betrachten. Doch dann taucht ein neuer Junge im Skatepark auf, der ziemlich beeindruckende Tom. Tom fuhr aggressiv und sehr schnell, gleichzeitig stand er selbstverständlicher auf seinem Skateboard als manche Leute auf dem festen Boden. Es war ziemlich beeindruckend, das musste ich zugeben. Selbstbewusst und ohne jedes Zögern flippte und drehte er das Brett unter seinen Füßen, alles sah so unglaublich einfach aus bei ihm. Als dann auch noch Aris Mutter zurück in die Stadt kommt, wird ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt: Ist sie wirklich glücklich damit, dass sie immer als eine der Jungs gesehen wird? Und hat ihre Mutter eine zweite Chance verdient? Eva Rottmann schreibt einfühlsam über die Höhen und Tiefen des Teenagerlebens. Temporeiche und humorvolle Dialoge, nah an der Alltagssprache der Jugendlichen, machen Lust darauf, dieses Buch in einem Rutsch durchzulesen.

Eva Rottmann, geb. 1983 in Wertheim, lebt mit ihren Kindern in Zürich, schreibt Theaterstücke und Prosa, entwickelt eigene Performance- und Theaterprojekte, arbeitet als Literaturvermittlerin in Schulklassen und als Lehrbeauftragte an der Zürcher Hochschule der Künste. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt war sie mit ihrem Klassenzimmerstück Die Eisbärin für den KinderStückePreis der Mühlheimer Theatertage nominiert.

Eva Rottmann, geb. 1983 in Wertheim, lebt mit ihren Kindern in Zürich, schreibt Theaterstücke und Prosa, entwickelt eigene Performance- und Theaterprojekte, arbeitet als Literaturvermittlerin in Schulklassen und als Lehrbeauftragte an der Zürcher Hochschule der Künste. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt war sie mit ihrem Klassenzimmerstück Die Eisbärin für den KinderStückePreis der Mühlheimer Theatertage nominiert.

TAG 1


An dem es endlich nicht mehr regnet, es dafür High Noon schlägt, Champagner an der Tankstelle gekauft wird und ich knapp daneben werfe.


Ostermontag würde ein guter Tag werden, das wusste ich sofort. Ich wachte auf und sah, dass die Sonne schien. Das ganze Osterwochenende war verregnet gewesen. Am Karfreitag waren wir bei Teddy gewesen, hatten Musik gehört, Videos geguckt, dies, das, was wir eben so tun, wenn es regnet. Irgendwann war uns langweilig geworden und wir waren zu Bob in den Laden gegangen. Den Samstag hatten wir in der Kaufland-Tiefgarage verbracht, aber spätestens nach zwei Stunden in der abgestandenen Abgasluft kriegten wir Atemnot und mussten zurück an die frische Luft. Am Sonntagnachmittag hatte es aufgehört zu regnen, aber die Straßen waren noch bis zum Abend nass gewesen. Ich weiß, dass Regen wichtig ist. Die Natur braucht Regen. Landwirtschaft, Tiere und so weiter. Aber könnte man nicht einfach sagen, dass es nur dort regnet, wo es nötig ist? Die Menschen erfinden alle möglichen Sachen, selbstfahrende Autos, Bier ohne Alkohol, Raketen, die zum Mars fliegen können. Es sollte nicht so schwer sein, gewisse Bereiche, zumindest in Städten, regenfrei zu machen, oder? Ich meine, was für einen Sinn hat es, dass es auf Asphaltplätze regnet? Das ist im Prinzip eine gigantische Wasserverschwendung. Man könnte das ganze Wasser, das im Moment noch vollkommen umsonst auf Asphaltplätze fällt, sammeln und es dahin umleiten, wo es wirklich nötig ist. In die Sahelzone oder so. Asphalt muss nicht beregnet werden. Asphalt hat, zumindest in meinen Augen, nur einen einzigen wirklichen Zweck. Man braucht ihn, um zu skaten.

Noch während ich im Bett lag, piepste mein Handy, und ich wusste, ohne nachzusehen, dass es eine Nachricht von Yasin, Lou oder Teddy war, die garantiert genauso wie ich darauf brannten, in den Park zu gehen.

Der Park, wie wir ihn nennen, ist eine Skateanlage und für viele Jugendliche der heißeste Ort in der ganzen Stadt. Dort ist der Sommer, auch wenn es noch lange nicht Sommer ist, dort sind die Leute und das gute Leben. Es riecht nach Zigarettenrauch und nach Gras. Direkt neben dem Park ist der Fluss, und ab und zu weht eine kühle Brise über den Platz. Irgendjemand hat immer eine Boombox dabei. Auf den Bänken am Rand sitzen Mädchen und quatschen, Handy in der einen, Alcopop in der anderen Hand. Und wir fahren Skateboard.

Ich kann mich nur noch dunkel an das Leben ohne mein Skateboard erinnern. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich mit all der Zeit gemacht habe. Ich hatte kaum Freund*innen, wahrscheinlich weil ich ziemlich leicht reizbar war und mich regelmäßig mit irgendjemandem prügelte. Die Mädchen aus der Siedlung hatten, glaube ich, ein bisschen Angst vor mir, meistens gingen sie weg, wenn ich irgendwo auftauchte. Ich wollte sowieso nicht Barbie oder Gummitwist oder Mutter-Vater-Kind mit ihnen spielen, das waren Spiele, die mich wirklich zu Tode langweilten. Aber dass es nicht besonders zur guten Laune beiträgt, wenn die Leute vor dir weglaufen, liegt irgendwie auf der Hand. Ich wurde immer wütender, mit sieben, acht Jahren rannte ich als eine Art Mini-Godzilla durch die Siedlung und suchte nach Gelegenheiten, diese unglaubliche Wut abzulassen, die sich in mir staute wie Elektrizität in einer Gewitterwolke. Bei den Jungs, die eigentlich immer Fußball spielten, durfte ich zwar mitmachen, allerdings stellten sie mich meistens im Tor ab. Von dort aus brüllte ich Befehle über den Platz, und wenn jemand aus meiner Mannschaft einen Fehler machte und ich ein Tor kassierte, wurde ich manchmal so aggressiv, dass die Jungs mich packten und vom Platz trugen. Dann ging ich nach Hause, legte mich auf mein Bett und starrte aus dem Fenster. In meiner Erinnerung liege ich ziemlich oft auf meinem Bett und starre aus dem Fenster.

Zu meinem neunten Geburtstag schenkte Bob mir mein erstes Skateboard. Es war ein Komplettboard von Baker, bereits fertig verschraubt, schwarz-weiße Schrift auf rotem Untergrund, das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe. Eigentlich war es viel mehr als ein Geschenk. Es war eine lebensrettende Maßnahme. Ich habe nie mit Bob darüber gesprochen. Aber ich glaube, er wusste ganz genau, was er tat, als er mir das Baker-Board schenkte. Erst als ich anfing zu skaten, fing mein richtiges Leben an. Anfänge. Da sind sie wieder. Das eine hat mich zum anderen geführt, hat Tom dazu gesagt. Wenn all die Wut und das Traurige und Schwere vorher nicht gewesen wären, dann wäre ich wahrscheinlich gar keine Skaterin geworden. Basishass, nannte er das. Man braucht einen gewissen Basishass, um zu skaten.

Tom. Ja, Tom.

Er tauchte am Ostermontag zum ersten Mal im Park auf. Und er hatte definitiv Basishass. Mehr als genug.

Es war kurz nach zehn Uhr, als ich im Park ankam. Außer mir waren erst ein paar kleine Kinder und ihre Eltern dort. Warum Leute mit ihren zwei- oder dreijährigen Kindern Ausflüge in einen Skatepark machen müssen, verstehe ich nicht. Es gibt so viele Spielplätze in der Stadt. Wer hat etwas davon, dass die kleinen Stöpsel mit ihren Plastikrollern in der Miniramp herumstehen? Und wenn überhaupt, dann sollten diese Eltern ihren Kindern wenigstens ein Skateboard vor die Füße legen. Roller sind meiner Meinung nach eine absolut überflüssige Erfindung. Im Park gibt es zwar ein paar Jungs, die ihre Roller Scooter nennen und ziemlich krasse Sachen damit machen. Aber in den meisten Fällen sehen Leute auf einem Roller eher peinlich aus. Am schlimmsten sind Erwachsene. Wenn ich in der Stadt einen von diesen Businesstypen sehe, die im schicken Anzug durch die Straßen rollern, könnte ich direkt sterben vor Fremdscham.

Ich legte meinen Rucksack ab und nickte den Eltern zu, die auf den Sitzbänken am Rand saßen und ihren Kindern beim Herumstehen zusahen. Dann wählte ich meine Reggae-Playlist an und drehte mit Bob Marley auf den Ohren meine erste Runde durch den Park. Ich machte ein paar Ollies zum Aufwärmen, das Brett fühlte sich gut an unter meinen Füßen. Die Sonne strahlte vom Himmel, die Luft war mild, es roch so sehr nach Frühling, ich hätte schreien können vor Glück. Ich nahm Anlauf und flog mit meinem Brett über den Kicker, ein kleiner Junge riss die Augen auf und rief: »Woooow!!«

Als Yasin und Lou etwa eine Stunde später in den Park kamen, war ich schon schweißnass. Die Kleinkinder und ihre Eltern waren mittlerweile nach Hause gegangen, der Park füllte sich langsam mit unseren Leuten. Natürlich waren wir nicht mit jedem Kind befreundet, das mit einem Rollbrett im Park erschien. Aber wenn ein Typ über zwölf Jahre alt war und regelmäßig Skateboard fuhr, dann kannten wir ihn. Wir hätten auch die Mädchen gekannt. Aber es gab keine. Es gab nur einen Haufen Jungs, mich und Lou. Seit ein paar Wochen tauchte ab und zu eine Gruppe von jüngeren Mädchen im Park auf, der Ari-Fanclub, wie Teddy sie nannte. Sie waren etwa zehn Jahre alt, genau in dem Alter, in dem auch ich zum ersten Mal auf einem Skateboard gestanden hatte. Ich hoffte, dass sie dranbleiben und in ein oder zwei Jahren dafür sorgen würden, dass der Park nicht mehr so ein Boysclub war. Ich weiß, dass es anderswo viele Mädchen und Frauen gibt, die Skateboard fahren, manche richtig professionell. Ich sehe sie jeden Tag auf Social Media, sie werden gesponsert, machen heftige Videoparts, nehmen an den Olympischen Spielen teil und alles. Aber in unserer Stadt kann man den Eindruck kriegen, dass wir noch im 18. Jahrhundert leben. Im Park sind natürlich auch Mädchen, Leyla und ihre Freundinnen zum Beispiel, und ab und zu lassen sie sich von einem der Jungs Unterricht geben. Unterricht in Anführungszeichen. Weil – natürlich geht es nicht ums Skateboardfahren. Das wird schon an der Art und Weise klar, wie sie kichern und ihre langen Haare zwischen den Fingern drehen. Ehrlich, ich könnte kotzen, wenn ich das sehe. An dem Tag, an dem ich meine Haare zwischen den Fingern drehe, darf man mich standrechtlich erschießen.

Leyla war an diesem Ostermontag auch im Park. Sie kam fast zeitgleich mit Yasin und Lou an und setzte sich zu ihren Freundinnen auf eine Parkbank, einen großen Bubbletea-Becher in der Hand. Ich konnte Leyla nicht leiden und winkte nur kurz zu ihr rüber. Yasin und Lou dagegen gingen zu ihr und begrüßten sie mit Umarmung und Küsschen, noch bevor sie mir hallo sagten. Yasin war scharf auf Leyla, das wussten wir alle, obwohl er es nicht zugeben wollte. Ich konnte nicht verstehen, was er an ihr fand, in meinen Augen befanden sie sich an zwei entgegengesetzten Polen der Weltordnung. Yasin cool, Leyla scheiße. Um es vereinfacht auszudrücken.

Nachdem sie Leyla und ihre Freundinnen abgeküsst hatten, rollten Lou und Yasin zu mir rüber und warfen ihre Rucksäcke neben meinen auf die Sitzbank.

»Hey Ari«, sagte Lou.

»Was geht ab«, sagte Yasin.

»Easy«, sagte ich.

Wir begrüßten uns mit Handschlag. Wie wir das immer taten. Wenn ich plötzlich auch eine Umarmung und ein Küsschen gefordert hätte,...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Arsch der Welt • Coming-of-age • Erwachsenwerden • Geschlechteridentität • Identitätssuche • Kleinstadt • Skateboard • Skate-Szene • Skating • Szene
ISBN-10 3-96428-232-4 / 3964282324
ISBN-13 978-3-96428-232-3 / 9783964282323
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