Flusskind 2: Millilu und der Duft der Farben (eBook)
176 Seiten
Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
978-3-522-65564-4 (ISBN)
Geboren wurde Sabine Bohlmann in München, der schönsten Stadt der Welt. Als Kind wollte sie immer Prinzessin werden. Stattdessen wurde sie (nachdem sie keinen Prinzen finden konnte und der Realität ins Auge blicken musste) Schauspielerin, Synchronsprecherin und Autorin und durfte so zumindest ab und zu mal eine Prinzessin spielen, sprechen oder über eine schreiben. Geschichten fliegen ihr zu wie Schmetterlinge. Überall und zu allen Tages- und Nachtzeiten (dann eher wie Nachtfalter). Sabine Bohlmann kann sich nirgendwo verstecken, die Geschichten finden sie überall. Und sie ist sehr glücklich, endlich alles aus ihrem Kopf rausschreiben zu dürfen. Auf ein blitzeblankes, weißes - äh - Computerdokument. Und das Erste, was sie tut, wenn ein neues Buch in der Post liegt: Sie steckt ihre Nase ganz tief hinein und genießt diesen wunderbaren Buchduft.
Kapitel 2
Millilu saß auf der Bank und wartete. Von drinnen hörte sie eine Mädchenstimme: »Papa, schön, dass du wieder da bist, ich habe die Cessna landen hören. Hattest du einen guten Flug?«
Und Matheo antwortete: »Der Flug war nicht so sehr das Problem, aber die Landung! Auf unserer Bahn flogen noch so einige Vögelchen herum, die sich im letzten Moment retten konnten.«
Millilu legte sich zurück. Die Schürfwunde an ihrem Bein brannte immer noch. Wann würde sie wohl ihren Papajan, ihren Vater, wieder in die Arme schließen können? Sie vermisste ihn so sehr. Und sie beneidete dieses Mädchen. Ob sie wusste, wie gut sie es hatte? Ganz selbstverständlich spazierte ihr Vater zur Tür herein, und sie konnte mit ihm über Gott und die Welt plaudern.
Auf einmal trat aus dem kleinen Häuschen eine dicke Frau heraus. Sie rauschte an Millilu vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Wusch, und weg war sie. Millilu richtete sich auf und humpelte zur Haustür. Vielleicht hatte dieses Mädchen ja Lust, Vanille und Hennilotte kennenzulernen?
Drinnen war es stockdunkel. Aber hatte Millilu nicht eben noch Stimmen aus diesem Raum gehört? Sie tastete mit der Hand an der Wand entlang, um vielleicht eine Lampe oder einen Lichtschalter zu finden.
»Wer ist da?« Die Stimme des Mädchens ließ Millilu herumfahren.
»Und wer ist da?«, fragte Millilu direkt zurück, als sie sich von dem Schreck erholt hatte. Sie versuchte, ihre Augen angestrengt an das Dunkel zu gewöhnen.
»Papa!«, rief das Mädchen plötzlich. »Komm schnell her, hier ist ein fremdes Mädchen in unserem Haus.«
Matheo kam mit einem Glas Limonade aus der Küche. »Das ist das Vögelchen auf meiner Landebahn, von dem ich dir erzählt habe. Sie heißt Millilu.« Und an Millilu gewandt sagte Matheo: »Und das ist Marlene, meine Tochter.« Er zog die Vorhänge auf. An einem Tisch saß ein blondes blasses Mädchen. Etwa in Millilus Alter. Sie hatte die langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten und hielt eine Tube Klebstoff und eine Schnur in der Hand. Das Mädchen war zierlich, ihre dünnen Arme wirkten kraftlos. Kerzengerade saß sie auf dem Stuhl.
Millilu humpelte auf das Mädchen zu. »Hallo, du hast mich eben ganz schön erschreckt. Warum sitzt du auch im Dunkeln?« Marlene blickte Millilu nicht direkt an. Millilu streckte ihr die Hand entgegen, aber Marlene beachtete sie nicht weiter.
»Marlene ist blind«, antwortete Matheo, »für sie ist es egal, ob es dunkel ist oder nicht.«
»Wie?«, fragte Millilu. »Du kannst überhaupt nichts sehen? Auch nicht ein ganz kleines bisschen?«
Marlene schüttelte den Kopf: »Nicht das kleinste bisschen!«
Millilu atmete laut aus. Darüber musste sie erst einmal nachdenken. Das Mädchen, das sie eben noch beneidet hatte, tat ihr plötzlich leid.
Als könnte Marlene ihre Gedanken lesen, sagte sie: »Ich will kein Mitleid. Ich bin das so gewöhnt. Ich kenne es nicht anders.«
Millilu starrte Marlene an. Sie sah ganz normal aus, nur ihre Augen waren anders. Sie schienen ins Leere zu blicken, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren.
Millilu wollte noch etwas erwidern, aber Matheo holte sie aus ihren Gedanken: »Willst du vielleicht noch mit uns essen? Ich habe gerade Wasser für Nudeln aufgesetzt.« Millilu nickte. »Sehr gern, wenn ich darf!«
Matheo ging zurück in die Küche, und Millilu war mit Marlene allein.
Sie sah sich im Zimmer um. Auch hier war es sehr ordentlich. Nichts lag einfach so herum. An den Wänden hingen wunderschöne Bilder. Große und kleine. Sie waren nicht gemalt. Sie waren geklebt. Hauptsächlich aus Schnüren, die in Spiralenform oder in wilden Mustern auf dem Untergrund aufgeklebt waren. Millilu strich mit den Fingern über die Oberfläche.
»Was tust du?«, fragte Marlene.
»Diese Bilder, sie sind wunderschön.« Millilus Finger fuhren eine Spirale entlang.
»Ich mache sie selbst!«, sagte Marlene.
Millilu war beeindruckt. »Echt?« Und sie fuhr weiter mit dem Finger eine Schnur entlang. »Das fühlt sich an wie ein Irrgarten für Finger. Oder für irgendwelche Käfer. Stell dir vor, ein kleiner Käfer landet hier auf diesem Bild, wie der sich freut! Er läuft und läuft die kleinen Wege entlang und kommt irgendwann in der Mitte an. Ich wette, er fliegt sofort zu seiner Familie, um sie zu holen. Und kurze Zeit später kommt die ganze Käferfamilie angeflogen und spielt Fangen und Verstecken.«
»Eigentlich«, antwortete Marlene, »soll es unseren Garten darstellen. Der Weg, vielleicht hast du ihn bemerkt, führt in so eine Spirale. Ich gehe ihn jeden Tag einmal vormittags und einmal nachmittags.«
Millilu erinnerte sich an den aufgeräumten Garten und das Geländer. Jetzt verstand sie. Daran konnte Marlene sich festhalten und allein spazieren gehen. Und es durfte nichts auf den Wegen herumliegen, damit sie nicht darüber stolpern konnte.
»Und was machst du sonst noch so?«, fragte Millilu, die der Gedanke, jeden Tag zweimal eine Spirale entlangzulaufen, irgendwie traurig machte.
»Bilder!«, antwortete Marlene. »Ich klebe Bilder, lese Bücher und sehe mit meinem Kindermädchen fern.«
Millilu wunderte sich. »Wie kannst du denn lesen und fernsehen, ohne etwas zu sehen?«
»Schlag mal das Buch dort auf der Kommode auf. Siehst du die kleinen Punkte in den Seiten?« Millilu hielt das Buch in den Händen und tastete über die Punkte. »Das ist Blindenschrift«, erklärte Marlene weiter. »Ich fühle über die Punkte, und jede Punktkombination ist ein Buchstabe. So kann ich Geschichten lesen. Diese Schrift nennt man die Brailleschrift, weil sie vor vielen, vielen Jahren von Louis Braille, einem Franzosen, erfunden wurde. Er ist selbst blind gewesen. Leider gibt es nicht viele Bücher in dieser Schrift. Was sehr schade ist, denn ich liebe Bücher.«
Millilu betrachtete das Regal neben dem Sofa. Auch diese Bücher waren zur Hälfte mit der seltsamen Punktschrift geschrieben. Millilu war fasziniert. Sie schnappte sich ein Buch aus dem Regal und versuchte, die Geheimschrift zu entschlüsseln. »Wie funktioniert das?«, fragte sie Marlene.
»Komm her, ich zeige es dir«, sagte sie und winkte Millilu zu sich.
Millilu setzte sich zu Marlene an den Tisch. Marlene schlug das Buch auf und fuhr mit den Fingerspitzen über die Punkte. »Soll ich dir vorlesen?«, fragte sie, und Millilu nickte. Noch einmal stellte Marlene ihre Frage: »Soll ich dir vorlesen?«
»Äh, ja, gern.« Millilu war erst jetzt eingefallen, dass Marlene ihr Kopfnicken ja gar nicht sehen konnte.
Marlene begann: »Es war einmal ein sehr gelehrter Mann, der konnte alle Sprachen der Welt und kannte alle Wunder der Schöpfung. Er hatte ein großes dickes Buch, das war in schwarzes Leder gebunden und mit einem eisernen Schloss verschlossen und an den Ecken mit Eisen beschlagen und dazu noch an einem Tisch angekettet, der am Fußboden festgemacht war. Und wenn er in dem Buch lesen wollte, schloss er es mit einem eisernen Schlüssel auf, und außer ihm durfte niemand darin lesen, denn es enthielt alle Geheimnisse der Geisterwelt ...«
Marlene las, ohne zu stocken. Ihre Finger bewegten sich in einer Geschwindigkeit über die Punkte des Buches, dass Millilu schwindelig wurde. Es war wunderschön, Marlene zuzuhören. Sie hatte eine feste melodische Vorlesestimme und betonte so gekonnt, dass man immer mehr hören wollte und einem das Zuhören überhaupt nicht schwerfiel. Die Geschichte handelte von einem Zauberer und seinem Lehrling.
Während Marlene las, deckte Matheo den Tisch. Er lächelte Millilu zu. Denn er war froh, dass seine Tochter, die das Vorlesen so sehr liebte, eine so aufmerksame Zuhörerin hatte.
»... und genau in dem Augenblick, in dem das Wasser dem Schüler bis ans Kinn reichte, trat er ins Zimmer und sprach ...«
»Nudeln sind fertig!« Gerade war Matheo mit einer dampfenden Schüssel hereingekommen.
Millilu kicherte. »Ein Zauberer, der mit Nudeln zaubert, ist mir auch noch nie untergekommen!« Dann lachte Millilu ihr lautes Lachen, das unglaublich ansteckend war.
»Das ist gut«, freute sich Matheo. »Lachen ist sehr selten in diesem Haus!« Und er sah mit ernstem Gesicht zu seiner Tochter hinüber.
Als die Nudeln auf den drei Tellern verteilt waren, meinte Millilu: »Du liest schön. Man möchte dir am liebsten immer weiter zuhören, Marlene.«
»Ich möchte bei einem Blindenvorlesewettbewerb mitmachen. Deshalb übe ich täglich«, sagte Marlene schüchtern.
Millilu bemerkte Matheos ärgerlichen Blick. »Mäuschen, darüber haben wir doch schon oft genug gesprochen. Dazu müsstest du nach Paris fliegen, das ist viel zu anstrengend für dich. So etwas schaffst du nicht. Also schlag dir diese Träumereien aus dem Kopf. Du musst keinen Wettbewerb gewinnen....
Erscheint lt. Verlag | 20.10.2023 |
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Reihe/Serie | Flusskind | Flusskind |
Illustrationen | Simona Ceccarelli |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Wummmelies wunderbare Welt - Freiflug mit Huhn |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • Achtsamkeit • Behinderung • Beste Freundin • Bestseller • Blind • Diversität • Familie • Fantasie • Fliegen • Freunde • Freundschaft • Glück • Glücklich • Hausboot • Hexe • Huhn • Inklusion • Integration • magisch • Natur • Suche • Tiere • verhext • Wald • Willow • Ziege |
ISBN-10 | 3-522-65564-8 / 3522655648 |
ISBN-13 | 978-3-522-65564-4 / 9783522655644 |
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