Nur ein Wort mit sieben Buchstaben (eBook)
352 Seiten
Loewe Verlag
978-3-7320-2037-9 (ISBN)
Ava Reed wird schon immer von Büchern begleitet. Das Haus ohne etwas zu lesen verlassen? Unvorstellbar. Während des Studiums entdeckte sie schließlich auch das Schreiben und Bloggen für sich und kann sich nicht vorstellen, je wieder damit aufzuhören. Ava Reed lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Frankfurt am Main. Weitere Informationen unter www.avareed.de und auf www.instagram.com/avareed.books.
Ava Reed wird schon immer von Büchern begleitet. Das Haus ohne etwas zu lesen verlassen? Unvorstellbar. Während des Studiums entdeckte sie schließlich auch das Schreiben und Bloggen für sich und kann sich nicht vorstellen, je wieder damit aufzuhören. Ava Reed lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Frankfurt am Main. Weitere Informationen unter www.avareed.de und auf www.instagram.com/avareed.books.
2
Mika
Über Hoffnungen, Träume und Wirklichkeiten.
»Wo ist das verschissene Bier?« Die aggressive, lallende Stimme meines Vaters dröhnt durch das ganze Haus und lässt mich zusammenzucken.
Gestern wollte ich nicht in der Schule sein, heute wünsche ich mir, ich wäre es. Nur, damit ich diesem Albtraum hier entfliehen kann. Wenn auch bloß für wenige Stunden.
»Verfluchter Dreck, Mika! Wo bist du? Bring mir endlich mein Bier. Sofort!«
Etwas kracht. Etwas bricht. Das ist nichts Neues. Es ist jeden Tag dasselbe. Und das schon so lange, dass ich manchmal vergesse, dass es einmal anders war. Dass es einmal anders gewesen sein muss. Auch wenn ich mich kaum daran erinnern kann, sind meine Eltern und ich irgendwann glücklich gewesen. Das beweisen die unzähligen unsortierten Fotos in einer der verstaubten Kisten im Keller, auf denen wir lachen oder lächeln, und das nur, weil wir zusammen sind. Sie verliebt und ich als kleines Kind.
Scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein …
Seufzend lege ich meine zerfledderte Ausgabe von Die unendliche Geschichte weg und erhebe mich von meiner in die Jahre gekommenen Matratze, unter der das Bettgestell jedes Mal laut quietscht, sobald ich mich bewege. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte fliehen. In ein anderes Leben. In eine andere Welt. Aber da das wohl niemals passieren wird, höre ich besser auf zu träumen und komme der geschrienen Aufforderung meines Vaters so schnell wie möglich nach.
Es zu tun, obwohl es scheiße ist, ist besser als die andere Konsequenz. So viel habe ich gelernt.
»Komme schon!«, rufe ich, während ich auf dem Weg nach unten zwei Stufen auf einmal nehme. In dem Holz der Treppe sind unzählige Kratzer und Macken, die mich an meine Oma erinnern. Bis vor elf Jahren war es ihr Haus, und obwohl ich noch ein kleines Kind war, erinnere ich mich an sie. Wenn sie wüsste, was aus ihrem Sohn geworden ist – es würde ihr das Herz brechen. Sie würde es nicht glauben wollen, das konnte ich schließlich auch lange Zeit nicht. Doch jeder Tag, der bis heute verging, hat mir gezeigt, dass es meinen Vater nicht mehr gibt. Nicht wirklich.
Ich eile durch den Flur, in die Küche und hole zügig ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Im selben Moment, als ich meine Finger um den Flaschenhals lege, höre ich Schlüssel klimpern und kurz darauf die Haustür zuschlagen. Wenige Sekunden später steht meine Mutter im Zimmer. Sie sieht abgespannt aus. Müde. Ringe zeichnen sich unter ihren Augen ab, ihre strohblonden Haare sehen ungepflegt aus, ihre Haut fahl, ihr Gesicht eingefallen.
Ich sehe ihr die letzten Jahre an. Die Jahre nach dem Tod meiner Oma und die Jahre nach dem einen Augenblick, der meinen Vater für immer verändert hat. Es ist so lange her, dass es mich kaltlassen müsste, aber es tut immer noch weh.
Meine Mutter ist abgestürzt und gealtert, schnell und ohne Kontrolle. Ohne dass ich es hätte verhindern können. Mein Vater hat sie mitgerissen, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Zumindest rede ich mir das ein, damit der Schmerz in mir nicht zu groß wird, zu einnehmend. Letzten Endes weiß ich nicht, ob ich mehr hätte tun können, egal, ob ich noch ein kleines Kind war oder nicht. Nicht, dass das meine Aufgabe war, aber manche Gedanken verschwinden nicht, egal, was man tut. Heute bete ich einfach nur jeden Tag, er möge schnell vorübergehen, und hoffe, meine Eltern kaum anzutreffen. Oder zumindest meinen Vater. Ich versuche, das Ganze durchzustehen und nicht zu viel darüber nachzudenken, was ich tue oder was er tut.
»Alles okay?«, frage ich meine Mutter trotzdem, die sich mit ihrer bleichen Hand ein paar Strähnen aus der Stirn schiebt und sich danach auf einen der zwei Küchenstühle mit der abgeblätterten hellblauen Farbe niederlässt. Tränen sammeln sich in ihren Augen, ihre Unterlippe bebt und ich wünschte, wie so oft, ich wäre gegangen und hätte nicht gefragt. Ich wünschte wirklich, es wäre leichter, sich nicht für all das hier zu interessieren oder keine Hoffnung mehr zu haben. Doch das ist es nicht. Meine Mutter ist der einzige Grund, warum ich noch nicht loslassen konnte. Und jetzt kann ich nicht mehr anders – ich halte sie fest und diesen kleinen beschissenen Funken an Hoffnung auf … Ich schnaube. Keine Ahnung. Auf alles. Denn alles ist besser als das hier.
»Mama?«, hake ich nach. Als ihr Blick meinen findet, ahne ich, was sie antworten wird.
»Hab meinen Job verloren.« Ihre Stimme klingt rau. Gebrochen. Das kennt sie schon, das Brechen. Sie und ich …
Und anstatt meine Mutter nach all den Jahren endlich mal anzuschreien, ihr wieder und wieder verzweifelt ins Gesicht zu brüllen, dass die Drogen und der Alkohol sie kaputtmachen – genau wie ihr Mann –, oder sie zu fragen, wie man drei simple Minijobs in einem Monat verlieren kann, kneife ich die Lippen zusammen. Ich nicke, als würde ich es verstehen. Was bleibt mir auch anderes übrig, als es hinzunehmen?
Es ist Samstag. Ihr letzter Job war der einer Putzkraft bei Privatkunden, bei denen sie flexibel auch am Wochenende gearbeitet hat. Der davor war in einem Laden, in dem sie beim Klauen erwischt wurde, und der andere in einer Tankstelle. Leider erschien sie dort für drei Schichten hintereinander nicht, weil sie zugedröhnt auf der Couch lag … ohne sich wenigstens abzumelden. Ich will gar nicht wissen, was sie dieses Mal für einen Scheiß gebaut hat. Aber so zugedröhnt, wie sie gestern war, so schlecht, wie es ihr ging, wundert es mich nicht, dass sie heute noch neben sich steht. Vermutlich ist sie immer noch berauscht.
»Es tut mir leid, Mika«, flüstert sie. Das sagt sie jedes Mal. Vier leere Worte – und meinen Namen. Ob es stimmt oder nicht, spielt keine Rolle, denn ich glaube es ihr nicht mehr, obwohl ich es gern würde.
Aber auch das spreche ich nicht aus. Keinen einzigen Gedanken werfe ich ihr entgegen. Wie immer schlucke ich es runter, weil es keinen Unterschied macht.
Stattdessen nicke ich erneut. Es ist eine Art Automatismus. Das Abspielen einer von vielen Regungen, die mein Körper im Umgang mit meinen Eltern verinnerlicht hat.
Erst als ich ein lautes Fluchen und energische Schritte höre, die näher kommen, erinnere ich mich an das kalte Bier in meiner Hand und an meinen Vater, der bereits viel zu lange darauf wartet. Scheiße.
Ich blicke auf in Richtung Wohnzimmer. Mit verschleierten Augen und geröteten Wangen stürmt er leicht humpelnd in die Küche. Sein Haar steht kreuz und quer von seinem Kopf ab, sein Gesicht ist zu einer widerlichen Fratze verzogen.
»Wieso stehst du hier rum? Wo ist mein Bier?« Mit jedem Wort wird er lauter und meine Mutter auf dem Stuhl kleiner, das erkenne ich aus dem Augenwinkel. Währenddessen schlägt mir seine Fahne, gemischt mit dem säuerlichen und strengen Geruch nach Erbrochenem, entgegen. Nur mit Mühe kann ich ein Würgen unterdrücken. »Und was machst du schon hier, verfluchte Scheiße?« Jetzt zeigt er mit seinem vor Wut zitternden Finger auf meine Mutter.
»Hier ist dein Bier«, sage ich so vorsichtig, als wolle ich ein wildes Tier beruhigen, nicht meinen eigenen Vater, »und ich war gerade dabei, es dir zu bringen. Komm mit ins Wohnzimmer, ich kann dir auch noch etwas zu essen holen.« Ich muss ihn ablenken, er soll seine Wut und seinen Frust auf mich projizieren. Nicht auf sie. Vermutlich weiß er, irgendwo tief in sich drin, dass er nicht auf mich oder seine Frau wütend ist, sondern auf sich selbst. Weil er vor Jahren in seinem Leben die falsche Abzweigung genommen hat. Er hat sogar deutlich mehr als einmal eine falsche Entscheidung getroffen und das verfolgt ihn. Weil es kein Zurück mehr gibt.
Nicht für ihn – daran glaube ich nicht.
»Willst du mir etwa sagen, was ich zu tun habe?«
Ich hebe abwehrend die Hände und schiebe mich so unauffällig wie möglich zwischen ihn und meine Mutter. »Natürlich nicht. Das war ein Vorschlag. Damit du dich ausruhen kannst.« In dem Moment, in dem mir die Worte über die Lippen kommen, erkenne ich meinen Fehler und halte unwillkürlich die Luft an. Scheiße, scheiße, scheiße.
»Mich ausruhen«, nuschelt er und hebt die Augenbrauen, bevor er anfängt zu lachen. Laut, fast bellend. Ein Geräusch, das mir durch Mark und Bein geht, als wolle es sich in jedem einzelnen Winkel meines Körpers festsetzen.
Bis er ruckartig stoppt, sich seine Miene und seine Augen verfinstern. Für eine Sekunde ist es viel zu still.
»Du denkst wohl, ich sei zu nichts anderem mehr fähig, als mich auszuruhen?«, zischt er mir ins Gesicht und kommt mir mit dem erhobenen Zeigefinger drohend nahe, bevor er mich zur Seite schubst. Selbst nach all der Zeit, nach den Drogen und dem Alkohol, ist er noch kräftig. Obwohl ich damit gerechnet habe, schwanke ich, torkle ein paar Schritte und kann mich gerade so an der Küchentheke festhalten, statt ganz über meine Füße zu stolpern und zu Boden zu gehen. Das Bier schwappt trotzdem über und verteilt sich auf meinem Shirt und vor mir auf den Fliesen. Ich hasse diesen Geruch. Genauso sehr, wie ich es hasse, mich hilflos zu fühlen. Nein, hilflos zu sein. Ich bin ihm unterlegen, und das über meinen Vater denken zu müssen, hasse ich am allermeisten.
»Du hast deinen Job wieder verloren, was? Du faules, unnützes Stück.« Er achtet nicht mehr auf mich, sondern baut sich vor seiner Frau auf. Ich hasse, was er aus und mit uns macht.
»Lass sie in Ruhe!«, rufe ich, doch mein Vater hat längst seine Hand erhoben und sie auf meine Mutter niedersausen lassen. Das Klatschen von Haut auf Haut, von seiner Hand auf ihrer Wange, hallt von den Wänden wider, lässt mich erzittern und für eine...
Erscheint lt. Verlag | 9.11.2023 |
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Verlagsort | Bindlach |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Adoption Jugendbücher • Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen • Ava Reed Jugendbücher ab 14 Jahren • Bücher für Jugendliche ab 14 Jahren • Bücher wie Alles. Nichts. Und ganz viel dazwischen. • Bücher wie Colleen Hoover • Bücher wie Den Mund voller ungesagter Dinge • Bücher wie Die Stille meiner Worte • Bücher wie Nur noch ein einziges Mal • Bücher wie Wir fliegen • Drogensucht bei Jugendlichen • Familie Jugendbücher • Family of choice Jugendbücher • Found family Jugendbücher • Jugendbücher ab 14 Jahren • Liebesgeschichte für Jugendliche • Liebesromane für Jugendliche • Spiegel-Bestsellerautorin Ava Reed Jugendbücher • Umgang mit Drogensucht • wenn wir fallen |
ISBN-10 | 3-7320-2037-1 / 3732020371 |
ISBN-13 | 978-3-7320-2037-9 / 9783732020379 |
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