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Scheißglitzertage (eBook)

Mitreißender, sommerlich-leichter Coming-of-Age-Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-96052-321-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Scheißglitzertage -  Antonia Michaelis
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Der Sommer, nach dem alles anders war. Wenn man jung ist, fühlt sich das Leben an wie eine Achterbahnfahrt der Gefühle: Dein Herz klopft so heftig, dass es einfach Liebe sein muss - oder doch Angst? Wer weiß das schon? Es ist heiß auf Usedom in jenem Sommer 2022, der Ostseestrand ist warm unter den Zehen und Finnley Kovalsky, 17, Förderschüler im letzten Schuljahr, will raus: aus der Platte, aus dem Grau, rein ins Abenteuer. Wie sein Freund Neil und der gutmütige Leif. Und plötzlich ist da auch das ukrainische Mädchen Ulja. Doch wohin verschwindet sie ständig? Und was hat es mit dem mysteriösen Oberst und immer mehr Militär auf der Insel auf sich? Mit den Gerüchten über einen bevorstehenden russischen Angriff? Während einer der Freunde die Insel militärisch verteidigen will, zweifelt der andere an den Behauptungen aus dem Netz. Und über all dem flirrt die Liebe zwischen Ulja und den Jungs in der Sommerluft - bis Finnley sich entscheiden muss, ob er bereit ist, für seine Überzeugungen alles aufs Spiel zu setzen. Was, wenn deine erste Liebe deine letzte ist? - Ein mitreißender Coming-of-Age-Roman über Fremdenfeindlichkeit, Freundschaft und Freiheit. - Finnley, Neil und Leif haben reale Vorbilder. - Voll authentisch: ein hochaktuelles Jugendbuch ab 14 Jahren. - Kennst du 'Tschick' oder 'Die Welle'? Dann wirst du diese Sommergeschichte lieben. - So hart wie bittersüß: Wer manipuliert, wer informiert, wer überlebt?

Antonia Michaelis studierte Medizin in Greifswald. Sie engagiert sich für Kinder in Madagaskar und hat zahlreiche Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht.

Antonia Michaelis studierte Medizin in Greifswald. Sie engagiert sich für Kinder in Madagaskar und hat zahlreiche Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht.

1


Es war der Sommer, in dem Neil seinen Hut beerdigte.

Neil: korrekt wie immer, wenn er auf dem Friedhof arbeitete, mit den schwarzen Lackschuhen und dem langen Mantel, der ihn so erwachsen aussehen lässt, viel älter als siebzehn.

Es war der Sommer, in dem ich einen Regenbogen auf einen Pick-up der Bundeswehr malte, obwohl ich Regenbögen früher nie mochte. Der Sommer, in dem Ulja auftauchte und auf mysteriöse Weise wieder verschwand.

Der Sommer, in dem der russische Kämpfer uns in die Arme fiel und die Welt unterging, der Sommer, in dem der Sturm kam und die Fische sprangen.

Der Sommer, in dem wir lernten, wie man eine Jolle bei Gewitter segelt. Was Liebe bedeutet.

Und wie man geht und trotzdem bleibt.

Aber all das greift zu weit vor. Beginnen wir dort, wo es begann.

 

An einem Samstagnachmittag Ende Juli.

Sommerhitze auf der Insel, Stau an der Brücke, Touristen. Sonne auf dem Asphalt.

Und ich hinter dem Eiswagen: dieser Wagen, auf altmodisch gemacht, mit seinen großen Rädern, mit denen er nie irgendwohin fuhr. Er stand nur an der Seebrücke, mit mir dahinter: alberne weiße Schürze, weiße Mütze, weiße Handschuhe – und immer lächeln, du darfst das Lächeln nicht vergessen.

Irgendwann tut dir das Gesicht davon weh.

Irgendwann verschwimmen die bunten Farben, auf die du ständig starrst, erdbeervanillechocolatecookieblauerschlumpf.

Wenn ich konnte, sah ich aufs Meer hinaus, zum Horizont weit, weit hinten: eine blaue Glitzerlinie, hinter der die Welt begann. Ich träumte mich dahinaus, in die Ferne, wo es keine Touristen gab und kein Chocolate-Cookie-Eis und auch keine kleine Wohnung, in die du jeden Abend zurückmusst. Eine Ferne ohne den Geruch von Küchenabwasch und Enge und Zigaretten und trocknender Wäsche. Da draußen, hinter der Glitzerlinie, war alles anders.

Über allem lag ein Gefühl des Aufbruchs.

Eigentlich lag da auch noch ein Jahr Schule vor mir herum, aber ich war mir nicht sicher, ob ich das machen würde. Klar, ohne richtigen Abschluss ist Mist, sagt Mama. Sie hat auch keinen.

Aber Mama verstand das Aufbruchsgefühl nicht.

Dieses Gefühl, dass das große Leben vor dir liegt, du hast einen Job, du verdienst was, eigentlich bist du unabhängig. Alt genug, im Edeka das Bier selbst zu kaufen.

Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass etwas passieren würde, ich wartete darauf, dass es passierte, jeden Tag. Aber als es passierte, hatte ich nicht damit gerechnet. Ich hatte mich weggeträumt wie immer, zum Horizont.

»Erdbeer-Cookie. Einmal, bitte.«

Ich zuckte zusammen und blinzelte, und da stand sie vor dem Eiswagen, den Kopf schief gelegt, und sah konzentriert die Eiswannen an, mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne. Ihre Augen waren braun mit hellen Sprengseln und befanden sich hinter einer kleinen runden Brille, durch die sie sehr groß wirkten, groß und irgendwie permanent erstaunt. Als wäre die Welt um sie herum ein einziges großes, verwunderliches Wunder. Ihre Wangen waren voller Sommersprossen, dicht aneinander wie Sandkörner vom Strand.

»Erdbeer-Cookie«, wiederholte ich, und es klang ziemlich bescheuert.

»Ja«, sagte sie.

Ihre Haare waren wellig und hatten die Farbe von Schokoladeneis, eine Sekunde, bevor es schmilzt.

»Warte«, sagte ich. »Erdbeer-Cookie gibt es nicht. Es gibt Chocolate-Cookie oder Erdbeer.«

»Erdbeer-Cookie«, wiederholte sie, sehr bestimmt.

Sie hatte einen Akzent, sie war keine Deutsche.

Zwischen ihren Sommersprossen waren Flecken, die anders aussahen. Röter. Dunkelrot.

Wie winzige Blutspritzer.

Quatsch, sagte ich mir, natürlich war das kein Blut. Farbe vielleicht, Spritzer von Sprayfarbe. Ich kannte die Sprayer in der Gegend, aber natürlich nicht alle, und sie war von woanders, Polen oder so. Konnte doch sein, sie war für einen Tag hier, um irgendwo Tags zu verteilen.

Obwohl sie danach gar nicht aussah.

»Erdbeer-Cookie. Ich kann’s versuchen«, sagte ich und tauchte den Eislöffel erst in das Chocolate-Cookie- und dann in das Erdbeereis, was eine seltsame Mischung aus rosa und braunem Matsch zur Folge hatte.

Sie nickte ernst und nahm die Waffel entgegen.

Dann legte sie sorgfältig einen kleinen Turm von Zehncentstücken auf die Theke des Eiswagens, obendrauf zwei Fünfcentstücke. Ganz genau abgezählt. Und dann trat sie zurück und musterte mich einen Moment. Nur so einen Moment. Nachdenklich.

Es ist ein Bild, das in meinem Gedächtnis eingebrannt ist: wie sie da steht und irgendwie vorsichtig an dem Eis leckt. Und mich ansieht. Und tausend Dinge denkt, die man aber nicht sehen kann.

Die Schlange schob sich weiter, ich musste Leute bedienen. Vanille, Mango, Karamell.

Als ich wieder hinsah, war sie verschwunden.

Verschwunden im Gewühl der Leute auf der Promenade, an einem Samstagnachmittag im Juli, zwischen Kindern mit Sandeimern und Paaren mit Selfieblick, unter einem schlumpfeisblauen Himmel. Und in der Ferne glitzerte immer noch der Horizont.

 

An diesem Tag flogen die Hubschrauber wieder. Ich hasste es, wenn die Hubschrauber flogen. Sie dröhnten den ganzen Himmel kaputt, das Blau zerfetzt in kleine Stückchen, und die Leute standen am Strand und guckten, manche mit Ferngläsern. Und du konntest die Nervosität spüren, die durch die Menge lief. Draußen holten sie irgendjemanden von einem Schiff, Evakuierung von Kämpfern. Es war eine Übung, klar, es war immer nur eine Übung. Sagten sie.

Ich schabte Kugeln aus dem Madeira-Eis. Komisch, meine Hände zitterten.

Nur eine Übung.

Ich streute bunte Zuckerstreusel über sattes Gelb und kassierte Scheine und tippte mir an die Mütze, höflich, und wusste, dass Mama zu Hause am Fenster stand, bei uns oben im Fünften, und die Hubschrauber ansah. Und gleichzeitig auf Facebook Gerüchte las. Und sich Sorgen machte.

Die Russen kommen.

Und du konntest die Uhr danach stellen, eine halbe Stunde nach Beginn der Hubschrauberübung kam die SMS von Mama: Jetzt kommen sie wirklich.

Nein, tippte ich, ist ’ne übung.

Glaubst du doch selbst nicht, schrieb Mama.

Ich machte das Handy aus.

Ich hatte keine Zeit zum Schreiben, die Eisschlange war länger denn je, die Leute beobachteten die Hubschrauber und aßen Eis, es war eine komische Stimmung.

Als ob sie alle noch schnell möglichst viele Zuckerstreusel und Rumrosinen und Chocolate-Cookie-Stückchen in sich hineinschaufeln müssten, ehe die Welt unterging, ehe dies alles vorbei war, ehe niemand mehr auf dieser Insel Urlaub machen würde, ehe die Promenade nur noch von marschierenden Soldaten benutzt würde.

Ein Stück weiter war sie bereits abgeriegelt, da durfte keiner mehr hin, da gab es nur noch Camouflagegrün. Und ich sah durch die Menge die Panzer hinter der Absperrung, wahrscheinlich waren sie wieder auf dem ganzen Strand hinter Zinnowitz bis Koserow.

Ein kleines Mädchen mit einem riesigen regenbogenfarbenen Lolli saß auf den Schultern seines Vaters und winkte den Hubschraubern, als seien es Vögel.

Und dann hat man so komische Gedanken wie: Wenn du mal groß bist, sieht hier vielleicht alles ganz anders aus, und die Eisschilder sind auf Russisch.

Die Hubschrauber flogen bis sechs. Danach lösten sie die Sperrung langsam auf, und ich entkrampfte meine Hände. Der Abend kam, und die Touristen sickerten weg. Gingen in ihre Hotels, wo sie auf gepolsterten Stühlen vor kunstvoll gefalteten Stoffservietten sitzen und aus dem Fenster aufs Meer sehen würden.

Zum Horizont, den das Abendlicht fraß.

Sieben Uhr: Feierabend, Schichtende.

Ich deckte die Eiswannen ab und schob den Wagen rein: die einzigen zehn Meter, die diese Räder je zurücklegten. Die Wannen mussten im Hotel unten in den Gefrierschrank, elende Schlepperei. Endlich keine Schürze mehr, keine Handschuhe, frei. Ich hängte das Eisverkäuferlächeln an einen Haken. Mein Basecap wartete auf mich, ich zog den Schirm tief ins Gesicht, Schutz vor der Welt. Hände in die Taschen, niemand muss nach Feierabend noch gerade und aufrecht stehen, ich hatte alles Recht der Welt, in mich zusammenzusacken, zu entspannen: Kapuze auf gegen den Abendwind, es wurde frisch jetzt.

Der Wind ärgerte mich und ließ mich die Zigarette erst beim dritten Versuch anzünden.

Am Bahnhof warteten die Züge: Zeit, nach Hause zu fahren. Aber meine Füße trugen mich noch einmal hinaus zur Seebrücke. Das Sieben-Uhr-fünfzehn-Licht lag rosa auf dem Meer wie Himbeersahne.

Und da stand sie. Am Geländer der Brücke, angelehnt, und guckte zum Horizont, zu meinem Horizont. Ich stellte mich neben sie und guckte auch.

»Hey«, sagte ich.

Sie drehte sich um, aber nicht erstaunt. So, als hätte sie gewusst, dass ich kommen würde.

»Hey.«

»Machst du Urlaub hier?«, fragte ich.

Sie lachte einmal kurz und hell auf, dann schüttelte sie den Kopf. Dann nickte sie. Und dann sagte sie, mit ihrem irgendwie singenden Akzent: »Ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht, ob du Urlaub machst?«

Sie stieß sich vom Geländer ab und begann, die Seebrücke entlangzugehen, hinaus aufs Meer, und ich ging neben ihr her. »Leben kann Urlaub sein, vielleicht«, sagte sie. »Macht man immer Urlaub, also.«

»Woher kommst du denn?«, fragte ich, und wir gingen weiter, einfach immer weiter, über die Holzplanken, zwischen den Geländern voller Möwenschiss.

Sie zeigte in Richtung Grenze. »Von da.«

»Polen?«

Ein Kopfschütteln. »Ukraine. Kommen alle jetzt von da, nein?«

»Ach so«, sagte ich. Klar, Ukrainer waren überall. Aber ich hatte noch nie wirklich mit einem ukrainischen Mädchen geredet. Komisch,...

Erscheint lt. Verlag 6.7.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 14 • Bestsellerautorin • Coming of Age • Flüchtlinge • Förderschule • Freundschaft • Krieg • Liebe • Ostdeutschland • Querdenker • Sommerroman • Spannung • Ukrainekrieg • Usedom
ISBN-10 3-96052-321-1 / 3960523211
ISBN-13 978-3-96052-321-5 / 9783960523215
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