Über den Dächern von Jerusalem (eBook)
368 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-93755-8 (ISBN)
Anja Reumschüssel, geboren 1983, arbeitet als Autorin und Reporterin in Deutschland und weltweit. Sie hat Publizistik, Soziologie und Theologie studiert, die renommierte Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg absolviert und längere Zeit in Israel gelebt und recherchiert. Als freie Journalistin schreibt und produziert sie Videos, unter anderem für den STERN, GEO Wissen, ze.tt und Spiegel Online. Für ihr Jugendsachbuch über 'Extremismus' wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Nach weiteren ebenfalls hochgelobten Sachbüchern für Jugendliche erscheint mit 'Über den Dächern von Jerusalem' ihr erster Roman.
Anja Reumschüssel, geboren 1983, arbeitet als Autorin und Reporterin in Deutschland und weltweit. Sie hat Publizistik, Soziologie und Theologie studiert, die renommierte Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg absolviert und längere Zeit in Israel gelebt und recherchiert. Als freie Journalistin schreibt und produziert sie Videos, unter anderem für den STERN, GEO Wissen, ze.tt und Spiegel Online. Für ihr Jugendsachbuch über "Extremismus" wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Nach weiteren ebenfalls hochgelobten Sachbüchern für Jugendliche erscheint mit "Über den Dächern von Jerusalem" ihr erster Roman.
Gegenwart – Karim
»Yalla, ya Karim, steig ein, wir greifen an!«, schrie Ahmed. Bis zur Hüfte hing er aus dem Beifahrerfenster des alten Volvos und fuchtelte mit den Armen. In einer Hand hielt er die wichtigste Waffe für ihren Angriff, eine Schnur, länger als Karim selbst, mit einem Stück Leder in der Mitte. Eine Schleuder.
Karim grinste. Ahmed war gut vorbereitet. Karim war einer der besten Schützen im Flüchtlingscamp, mit seiner Schleuder traf er einen Spatz aus zwölf Metern Entfernung. Jahrelang hatte er trainiert, seit ihm sein ältester Bruder seine erste Schleuder geschenkt hatte. »Jeder palästinensische Junge muss wissen, wie man damit umgeht«, hatte Mohammed gesagt. »Wir haben keine Panzer, keine Kampfbomber und keine Maschinengewehre. Wir haben nur unsere Schleudern und die Fotos, die Journalisten von uns machen, wenn wir Steine auf israelische Panzer werfen. Das sind unsere stärksten Waffen, die Fotos und die Schleuder. Also musst du lernen, wie man damit umgeht.« Karim hatte andächtig genickt und fortan bei jeder Gelegenheit Steine gesammelt und trainiert, hatte auf brach liegenden Grundstücken geübt, alte Autoreifen zu treffen und Metallstangen, die wie knorrige Finger aus Mauern ragten. Später, als er immer besser wurde, zielte er auch auf Vögel. Nicht um sie zu quälen, sondern um sie seiner Mutter zu bringen, die ihn lehrte, die kleinen Tiere auszunehmen und zu braten. Wie sie es einst von ihrem Vater gelernt hatte, der es wiederum von seiner Mutter gelernt hatte, damals im Krieg, als die Juden gekommen waren und sie fliehen mussten und Hunger litten. Noch immer sind sie Flüchtlinge, noch immer sind die Juden da, haben sogar einen eigenen Staat. Aber sie, die Palästinenser, haben noch immer keinen Staat, schießen noch immer mit Schleudern, aber meist nicht auf Vögel, sondern auf Soldaten, Panzer und Mauern. Auch heute wieder. Dabei war erst Donnerstag. Trotzdem rief Ahmed zum Kampf, die anderen waren sicher auch schon auf dem Weg. Der Motor des klapprigen Volvos ratterte hektisch, als könnte auch er es kaum erwarten, in die Schlacht zu ziehen.
Karim warf noch einmal einen Blick über das Land, das sich vor ihm ausbreitete. Er saß auf einem Mäuerchen am Straßenrand der Manger Street, zwischen dem Coffeeshop von Reem Al-Bawadi und dem Lebensmittelladen Bandak, von wo aus man bis nach Jordanien blicken konnte. Irgendwo in seinem Rücken, weit hinter den geduckten Hügeln im Westen versank gerade die Sonne im Mittelmeer und schickte ihre letzten Strahlen über das gelobte und gemarterte Land. In ihrem Licht erstrahlten die weißgelben Häuser auf den Hügeln um Bethlehem und warfen ihre Schatten auf Zypressen und Olivenbäume. Dahinter türmte sich die Landschaft noch einmal zu höheren Hügeln auf, gekrönt von kleinen Dörfern und Minaretten, um dann plötzlich zu verschwinden. Man könnte meinen, die Welt sei genau dort, hinter dem letzten Minarett, zu Ende, wenn nicht manchmal bei Sonnenuntergang ein blassrosa Gebirge wie eine Fata Morgana aus dem Dunst treten würde. Die jordanischen Berge.
Ab und zu, wenn die Berge im Dunst zu einer blassblauen Wand zusammenschmolzen, stellte Karim sich vor, es sei ein riesiger Tsunami, der heranbrauste, alles niederwalzte, dieses Land zwischen Jordan und Mittelmeer verschlang, bis von allen, den Flüchtlingen und Soldaten, den Wachtürmen und Mauern nichts mehr übrig blieb als ein friedliches, tiefblaues Meer, das im Sonnenschein glitzerte.
Hinter ihm dröhnte der Volvo unbarmherzig wie Kanonenfeuer. »Karim, hör auf zu träumen, wir brauchen jeden Mann!«, trieb Ahmed ihn an. Er war gerade mal dreizehn und sah aus wie zehn. Dass ausgerechnet er nach jedem Mann rief und damit sich selbst und Karim meinen könnte, brachte Karim zum Lachen. Eigentlich hatte er keine Lust, mitzukommen. Er war extra einen Umweg vom Markt in der Altstadt gegangen. Der direkte Weg nach Hause hätte zwischen Menschenmassen und Autos hindurch zur Kreuzung am Bab El-Zakak geführt und von dort an der Khalil Road entlang bis zum Flüchtlingslager. Stattdessen hatte Karim die schweren Plastiktüten mit Gurken, Tomaten und Auberginen durch die Gassen auf der anderen Seite der Altstadt geschleppt, um schließlich die Tüten neben dem Mäuerchen auf der Manger Street fallen zu lassen und sich noch ein wenig in der Ferne zu verlieren.
Aber er konnte Ahmed jetzt nicht hängen lassen, der ihn offenbar gesucht hatte und unbedingt dabeihaben wollte. Karim sprang von der Mauer, zerrte die Einkaufstüten auf die Rückbank des Volvos und knallte die Tür hinter sich zu. Ahmeds Bruder saß am Steuer und gab Gas.
Und bremste gleich wieder.
Als wüssten sie nicht, dass hier Kämpfer auf wichtiger Mission unterwegs waren, drängten sich die Autos auf der Straße und hielten sie auf. Alle wollten nach Hause. Es war Donnerstagabend, am Freitag begann das Wochenende. Ahmeds Bruder hupte Fußgänger von der Straße und brüllte den Fahrer im Wagen vor ihnen an. Der brüllte etwas zurück, aber schneller ging es trotzdem nicht. Karim blickte noch einmal aus dem Fenster auf die jordanischen Berge. Als der Volvo endlich weiterruckelte, verschwanden sie hinter Reems Coffeeshop.
Karim lehnte sich nach vorn. »Ist irgendwas passiert?«, fragte er. »Warum greifen wir die Israelis an?«
»Weil sie unser Land besetzen, unsere Väter töten und unsere Schwestern entehren!«, rief Ahmed über den Motorenlärm. Er hatte sich bereits in seine Mission hineingesteigert, die Israelis ausgerechnet an diesem Märzabend aus Palästina zu vertreiben.
»Ich meine, warum gerade heute?«, wiederholte Karim. »Ist jemand gestorben?«
»Bekommst du denn gar nichts mit?«, knurrte Ahmeds Bruder. »Letzte Nacht waren sie bei Jamals Familie. Sie wollten ihn verhaften, weil er Steine geworfen hat oder so. Er war aber nicht da. Die kleine Layla hat geschrien vor Angst. Wir dürfen uns das nicht mehr gefallen lassen!«
»Ist Layla etwas passiert?«, fragte Karim besorgt. Er kannte Jamal aus der Schule. Er war ein Jahr älter als Karim und lebte mit seinen Eltern und drei Schwestern in einer kleinen Wohnung ein paar Straßen hinter Karims Haus im Flüchtlingscamp. Karim hatte ihn schon länger nicht mehr gesehen. Weder im Camp, noch in der Schule und auch nicht in der Autowerkstatt seines Onkels, wo er sich mit Autowaschen ein paar Schekel verdiente.
»Hörst du nicht zu?«, erwiderte Ahmeds Bruder. »Die Soldaten haben Layla Angst gemacht! Sie standen mitten in der Nacht mit Gewehren in ihrem Zimmer, weil sie Jamal suchten! Was, wenn sie die Kleine erschossen hätten, damit sie still ist?«
»Wir müssen sie rächen«, pflichtete Ahmed ihm bei.
Dass israelische Soldaten kleine kreischende Mädchen erschießen, damit sie still sind, hatte Karim noch nie gehört. Dafür genug andere Geschichten darüber, wie israelische Soldaten mitten in der Nacht palästinensische Häuser durchsuchten und Menschen verhafteten. Meist Jugendliche und junge Männer, die angeblich Steine geworfen hatten oder verdächtigt wurden, Terroristen zu sein. Obwohl, für die Israelis war ja jeder Palästinenser ein Terrorist, dachte Karim und umklammerte seine Schleuder mit der Faust.
Endlich hatten sie den Wachturm erreicht. Er stand genau an der Kreuzung, wo die Manger Street in die Hebron Road mündete. Einst hatte sich die Hebron Road ungehindert die Berge hinauf mitten ins Zentrum von Al-Quds gewunden, das die Juden Yerushalayim nannten und alle anderen Jerusalem. Doch seit dem zweiten Aufstand der Palästinenser gegen die Israelis ein paar Jahre vor Karims Geburt versperrte eine neun Meter hohe Betonmauer die Straße. Die Mauer wand sich zu beiden Seiten um die nördliche Grenze Bethlehems herum, um das Aida-Flüchtlingscamp auf der einen und die östlichen Ausläufer der Stadt auf der anderen Seite. Hinter der Mauer führte die Hebron Road am Grab Rahels vorbei, der zweiten Frau des biblischen Erzvaters Jakobs, die von gläubigen Juden verehrt wurde. Von da aus schlängelte sie sich hinauf zur Altstadt von Al-Quds. Karim war noch nie dort gewesen. Palästinenser wie er durften nicht auf die israelische Seite. Daran hinderten sie die Grenzübergänge mit ihren Soldaten, die Mauer und die Wachtürme, die alle paar hundert Meter aus der Mauer ragten.
Vor einem dieser Türme standen sie jetzt. Bunte Graffiti, Kleckse von Farbbomben und Löcher von Steinen und Kugeln prangten im Beton. Er hatte schon einiges an palästinensischer Wut abbekommen.
»Steigt aus, ich muss weiter«, riss Ahmeds Bruder Karim aus seinen Gedanken.
»Machst du nicht mit?«, fragte Ahmed enttäuscht.
»Nein, ich hab noch was vor.«
»Du willst ja nur wieder zu Fatma«, motzte Ahmed, stieg aus und knallte die Tür so heftig zu, dass der alte Volvo wackelte.
Auch Karim war ausgestiegen. Er wuchtete die Einkaufstüten vor den City Mart, in dem er nie einkaufen durfte, obwohl es dort Eis am Stiel und Schokoriegel gab. Zu teuer, sagte seine Mutter. Er platzierte die Tüten so an der kleinen Mauer vor dem Laden, dass sie nicht umkippen konnten. Hier, etwa vierzig Meter vom Turm entfernt, müsste das wertvolle Gemüse vor Steinen und Tränengas sicher sein.
»Karim, jetzt bring schon Munition her!«, brüllte Ahmed. Karim schreckte auf. Munition? Da bemerkte er den Haufen Bauschutt vor dem Haus, das eine Baustelle war, solange er denken konnte. Er stapelte ein paar Brocken auf seinen Arm und rannte zu Ahmed, der mit einigen anderen Jungen hinter einer kleinen Mauer kauerte und Steine aufschichtete. Karim lud seine Munition ab, reichte rasch Mohammed, dem Ältesten, die Hand und nickte den anderen Jungen zu. Einige waren jünger als er. Sie schleppten am eifrigsten Steine...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | 75 Jahre Israel Buch • Buch Jugendliche ab 14 Jungen • Buch Jugendliche ab 14 Mädchen • Buch über Freundschaft • Buch über Krieg • Buch zu Flucht und Vertreibung • Familiengeschichte • Flucht Buch • flüchtlinge buch flüchtlingscamp • geschenke für jugendliche mädchen jungs ab 14 • gute bücher für jugendliche ab 14 jahren • heimat buch • israel buch • Israel Konflikt • israel palästina konflikt • israel palästina konflikt buch • jerusalem buch • Jugendbücher ab 14 Jahren • Nahostkonflikt Buch • nahostkonflikt buch familiengeschichte • Palästina Buch • Verfolgung Buch |
ISBN-10 | 3-646-93755-6 / 3646937556 |
ISBN-13 | 978-3-646-93755-8 / 9783646937558 |
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