Hannas Regen (eBook)
192 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-93606-3 (ISBN)
Susan Kreller, 1977 in Plauen geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als freie Journalistin und Autorin. Susan Kreller ist Gewinnerin des Kranichsteiner Literaturstipendiums, wurde bereits vier Mal für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und hat ihn 2015 für ihren Roman »Schneeriese« gewonnen.
Susan Kreller, 1977 in Plauen geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als freie Journalistin und Autorin. Susan Kreller ist Gewinnerin des Kranichsteiner Literaturstipendiums, wurde bereits vier Mal für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und hat ihn 2015 für ihren Roman »Schneeriese« gewonnen.
1
Hanna beginnt im Regen. Sie hört auch im Regen wieder auf, später, nicht jetzt, kein Grund zur Eile. Es ist ein nasser Oktobermorgen, als sie zum ersten Mal in meinem Leben auftaucht, aus heiterem Himmel, obwohl der Himmel an diesem Tag bedeckt ist. Grau hängt er über der Stadt und lässt alles noch trostloser als sonst erscheinen, die Bushaltestellen und die Häuser und die Menschen und die alte Mosterei, sogar die protzigen Türme von Future Technology Inc., alles auf meinem Schulweg sieht so verschwommen aus, als wäre es gar nicht dafür gedacht, von irgendwem gesehen zu werden.
Der Regen verwischt alle Spuren.
Alle Menschen verwischt er.
Hanna, aber sie heißt noch gar nicht so, geht ein paar Meter vor mir durch den strömenden Regen, stampft durch die Pfützen und wird von überall verflucht, das kann ich an den Bewegungen der überall Fluchenden sehen. Was sie rufen, weiß ich nicht, denn der Regen ist lauter, fällt auf alle Geräusche, weicht sie auf.
Hanna kann die Flüche bestimmt verstehen, doch sie kümmert sich nicht darum, sondern trampelt weiter über den nassen Bürgersteig und spritzt jeden, der nicht bei drei in der Nachbarstadt ist, genüsslich voll. Vielleicht kommt es mir aber auch nur so vor, als würde sie das mit Absicht tun, denn eigentlich sieht sie eher so aus, als wäre dieser Regen für sie überhaupt nicht vorhanden und als würden wir anderen uns das ganze Wasser bloß einbilden wie eine Krankheit am kleinen Zeh oder einen Einbrecher in der Nacht oder eine ganz gewöhnliche Fata Morgana.
Das ist es.
Sie geht so gleichgültig durch den Regen, als wäre der Morgen in Wirklichkeit nur nicht ganz streifenfrei geputzt worden, sie wischt nicht über die Schlieren, sie lässt sie so. Hanna ist auch die Einzige auf meinem Weg, die keinen Schirm und keine Regenjacke trägt, sie trägt da ja noch nicht mal einen Namen und ist einfach nur ein Mädchen, das ich noch nie zuvor gesehen habe und das sich vor meinen Augen nass regnen lässt, ein fremder, begossener Pudel, der mir Angst macht und der jeden Moment rechts abbiegen und aus meinem Blickfeld stampfen könnte und danach für absolut immer verschwunden wäre.
Aber es stimmt nicht.
Hanna taucht nicht in meinem Leben auf.
Sie taucht von Anfang an unter.
Es stimmt auch nicht, dass sie so tut, als wäre dieser Regen gar nicht vorhanden. Der Regen, er scheint für sie viel mehr als nur Wasser zu sein, das kann ich sogar von hinten erkennen, dafür muss ich ihr Gesicht gar nicht sehen. Nein, Hanna bewegt sich nicht gleichgültig durch den Regen, das ist ja das Merkwürdige, in Wahrheit beachtet sie ihn mehr als jeder Andere, versteckt sich in ihm, hüllt sich in ihn ein wie in einen Mantel.
Während die Tropfen wie ein knisterndes Scheunenfeuer auf meinen Schirm prasseln und in der Ferne eine Sirene zu hören ist, wird Hanna, die immer noch vor mir geht, eins mit dem Regen, gibt ihre Ränder her und hält den Kopf dabei gerade. Sie duckt sich nicht wie all die Anderen, obwohl die durch ihre Schirme und Regenjacken geschützt sind. Sogar die Autos, die ihr Scheinwerferlicht auf die nasse Straße fließen lassen und an mir vorbeirauschen, sehen irgendwie vornübergebeugt aus.
Nur Hanna nicht.
Und ich meine, es gibt fast dreizehn Millionen Arten, durch den Regen zu gehen, im Pfützenslalom, mit unruhigem Trippeln oder verärgerten Meterschritten. Mit der gefalteten Morgenzeitung überm Kopf. Auf Zehenspitzen. Mit schiefen zerrupften Schirmen aus dem Sonderangebot. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. Mit dünnen Regenmänteln, die wie große Mülltüten aussehen. Mit schwenkenden Armen, hochgezogenen Hosenbeinen.
Es gibt unendlich viele Arten, durch den Regen zu gehen, und fast alle sind sie schnell oder wasserabweisend. Aber Hanna entscheidet sich ausgerechnet für die eine Art, die langsam und nass ist. Sie entscheidet sich dafür unterzutauchen, aufrecht, in einem Mantel aus lauter Regen, und ich merke, wie erleichtert ich darüber bin, dass ich dieses Mädchen, das da vor mir läuft und sich im nassen Bürgersteig spiegelt wie eine traurige alte Königin, nicht kennen muss.
»Das ist Hanna«, flüstert Frau Mattai, sie sagt es, weil sie meine Klassenlehrerin und für die Rettung neuer, tropfender Schülerinnen zuständig ist. Warum sie es flüstert, weiß ich nicht. »Hanna Kiesow ist das«, raunt sie mir zu. »Hat heute ihren ersten Tag bei uns. Josefin, ich verlass mich auf dich.«
In der Klasse ist es laut, Erdkunde hat noch nicht begonnen, trotzdem scheint einer der Jungen etwas mitgekriegt zu haben und brüllt quer durchs Zimmer: »Leute, mal herhören! Josefin hat den Hauptgewinn gezogen!«
Leider ist er der Einzige, der mal herhört. Der sich selber zuhört. Alle Anderen schauen nur verschlafen zu uns herüber, ein paar lachen leise, und ich frage mich, ob Frau Mattai Hanna später noch richtig vorstellen wird oder ob sie das lieber bleiben lässt, um niemanden in der Klasse auf Ideen zu bringen, auch wenn das überhaupt keinen Sinn ergibt, denn sie bringt uns ja nie auf Ideen.
Ganz egal auf welche.
Der Hauptgewinn, der jetzt einen Namen hat, steht vor meinem Tisch und regnet. Hanna muss bis auf die Haut durchnässt sein, das Wasser rinnt ihr von den schweren, dunklen Haaren übers Gesicht und tropft aus ihren Jackenärmeln heraus, sie lässt sich im Regen stehen.
In ihrem eigenen Regen.
Schon jetzt hat sich unter ihr eine Pfütze gebildet, das kann ich sehen, und Frau Mattai sieht es auch, denn sie verschwindet schnell wieder und wischt sich auf dem Weg nach vorn verstohlen ein paar Tropfen vom Rock.
Hanna setzt sich polternd neben mich, wühlt in ihrem Rucksack und zieht dann mit einem einzigen wütenden Ruck ein Buch heraus, ein zerfleddertes Taschenbuch, das sie vor sich auf den Tisch wirft, aber offenbar nicht lesen will, Gotische Kirchen bei Lichte besehen. Die Kirchen scheinen bequem zu sein, denn das Buch ist ein Kissen, auf das Hanna jetzt ihren triefend nassen Kopf legt, ihr Rücken schläft grau und krumm, das Regenwasser deckt sie zu.
Kein einziges Mal hat sie mich angesehen, und das ist besser als nichts, das ist fast, als wäre sie gar nicht da. Beinahe das, was ich mir vorhin auf meinem ungemütlichen Schulweg gewünscht habe. Wie wenig sie nicht da ist, merke ich aber erst, als der Unterricht begonnen hat und Frau Mattai uns in die Wüste schickt, ein Fünftel der Erde besteht aus Wüste, leider auch ein viel zu langes Fünftel des Erdkunde-Schuljahrs.
Denn während da vorn von Steinwüsten die Rede ist und von Felswüsten, von Salzwüsten und von Sandwüsten der trockensten Art, bewegt sich von rechts eine Wasserlache auf mich und meine Sachen zu. Wie eine kleine Sturmflut arbeitet sie sich unter Hanna hervor, fließt bedrohlich über den Tisch auf meinen Hefter und mein Erdkunde-Buch zu und zieht eine wässrige Grenze zwischen mir und diesem sonderbaren Mädchen, das jetzt nur noch ein großer grauer Stein ist, ihre Oberfläche besteht aus Felsen und Gesteinstrümmern.
Wir sitzen ganz hinten in der Ecke, gleich am Fenster, und ich schiebe mich und meine Sachen so weit von Hanna weg, dass ich fast an der Scheibe klebe, gegen die von außen weiterhin der Regen prasselt, ich weiß jetzt, was der Radiomoderator heute Morgen mit Starkregen gemeint hat. Draußen sind nur Wasser und Lichtflecken und Schattengestalten zu sehen, ein Wind, der mir vorhin noch nicht aufgefallen ist, wühlt sich in die schwarzen Bäume, die gesprenkelte Welt hinterm Fenster hat sich in ein großes Rauschen verwandelt, auf den Gesteinen kann man oft Wüstenlack erkennen.
Auf dem Tisch ist Hannas Starkregen zum Halten gekommen, nur manchmal, wenn sie sich leicht bewegt, löst sich ein gefräßiges Rinnsal aus der Wasserlache, fließt zu mir herüber und hält Ausschau nach meinen Sachen aus Papier. Ich sehe noch etwas anderes: Hannas Hand, die aus diesem ganzen zusammengeknüllten Menschen herausguckt und fünf unterschiedlich lange Fingernägel hat.
Trotzdem glaube ich nicht, dass sich Hanna verfeilt oder verschnitten hat. Denn trotz der kleinen weißen Flecken und der unterschiedlichen Länge sehen diese Nägel perfekt aus, ohne Nagellack, aber rosa und mit abgerundeten Enden. Die Fingernägel sehen aus, als wüsste ihre Besitzerin ganz genau, was sie will, oder schlimmer, als wäre ihre Besitzerin eine, die sich nie, in keiner einzigen Sekunde, wünscht, ein anderes Leben zu haben als das eigene. Die sich nie danach sehnt, ein völlig anderer Mensch zu sein, oder auch nur ein annähernd anderer Mensch. Hauptsache, nicht sie selber.
Als ich das begreife, fange ich an, mich vor Hanna zu schämen, vor einer Fremden, die ich beinahe nicht wiedergesehen hätte, wenn sie, ja: wenn sie vorhin nicht an der falschen Stelle rechts abgebogen wäre, nämlich genau dort, wo irgendwer zufällig mal unsere Schule hingebaut hat. Ich schäme mich, weil Hanna neben mir sitzen muss, dem langweiligsten Mädchen der ganzen Klasse, das es noch nicht mal zu einem Spitznamen gebracht hat.
Bei meinem Namen ist das besonders tragisch, einem Namen, der eigentlich nur dafür erfunden wurde, damit ihn Andere behutsam in Spitznamen zerhacken, in Josi oder Finchen oder sonst irgendwas Liebevolles. Aber nicht mal meine Eltern nennen mich anders als Josefin, weil sie kurz vor meiner Geburt in einem Buch gelesen haben, dass Spitznamen ein Kind nur kleiner machen, nicht größer.
Bei meinem jüngeren Bruder Carlo, der eigentlich Carl heißt, haben sie das Buch vermutlich schon wieder vergessen, aus der Josefin-Nummer bin ich dann aber trotzdem nicht...
Erscheint lt. Verlag | 29.9.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Ausgezeichnet • Bücher für Mädchen ab 12 • Deutscher Jugendliteraturpreis • DJPL • empfohlene Jugendbücher • Jugendbuch ab 12 • Jugendbuchpreis • Jugendliteraturpreis • Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis • Lektüreempfehlung • Mädchenbuch ab 12 • Nominiert • Preisgekrönt • Schneeriese |
ISBN-10 | 3-646-93606-1 / 3646936061 |
ISBN-13 | 978-3-646-93606-3 / 9783646936063 |
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