Dreivierteltot (eBook)
352 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0478-3 (ISBN)
Christina Stein, geboren 1978 in Bonn, liebt es spannende, gleichzeitig aber auch romantische Jugendthriller zu schreiben. Für ihre Kurzgeschichten und ihr Romandebüt wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Eltville am Rhein.
Christina Stein, geboren 1978 in Bonn, liebt es spannende, gleichzeitig aber auch romantische Jugendthriller zu schreiben. Für ihre Kurzgeschichten und ihr Romandebüt wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Eltville am Rhein.
3.
Jon sitzt auf einem Stein, mit Blick auf die Weite des Sees. Des Loch Lomond.
»Den müssen wir noch komplett langlaufen«, sagt er, als ich mich langsam nähere. Es irritiert mich, dass er sich bei seinen Worten nicht umdreht. Als spürte er meine Anwesenheit auf mysteriöse Art und Weise.
Erschöpft sinke ich neben ihn. Seine kurzen Locken wirbeln im Wind umher – genau wie meine langen roten, die nie zu bändigen sind. Sein Profil hat etwas Weiches, gleichzeitig klar Geschnitztes.
Eigentlich will ich die Hand ausstrecken und seine Wange berühren, lasse es aber bleiben.
»Bist du noch sauer, Lotti?«
Ich verkneife mir ein Lächeln, fürchte aber, dass meine Grübchen mich verraten. Lotti Karotti. So hat er mich von Anfang an genannt. Genau wie dieses Kinderbrettspiel, bei dem der erste Hase am Ziel gewinnt. Und zwar eine große Karotte, leuchtend rot wie meine Haare.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht sauer bin. Nur überrascht.«
Und verletzt, füge ich in Gedanken hinzu.
Er verdreht wieder die Augen. Das macht er in letzter Zeit ständig. Als hätte er mit dem Abitur seine Mimik erweitert. Seine Iris verschwindet dabei fast ganz in den Höhlen, für ein paar Momente sieht man bloß noch das Weiß der Augäpfel. Totally scary. Und jedes Mal maule ich ihn deswegen an. Ich meine – er ist doch kein Zombie, oder?
»Nicht sauer, also? Schon klar …«
Unvermittelt steht er auf, will weiterlaufen. Löst man auf diese Weise seinen ersten Streit?
»Jetzt warte doch mal, Jon! Ich bin gerade erst angekommen! Ich will was essen!«
»Kim, ich warte schon seit fast einer Dreiviertelstunde! Wie lahm bist du denn?«
»Das wusstest du aber doch vorher, oder? Ich gehe nun mal langsam. Ich bin keine Läuferin.«
»Okay, dann iss jetzt halt. Aber beeil dich! Es liegen noch zwölf Kilometer vor uns!«
»Was, noch zwölf?«
»Wenn du nicht im Wald schlafen willst, dann ja.«
Widerstrebend setzt er sich wieder neben mich.
»Hast du keinen Hunger?«
»Nein. Habe schon alles aufgefuttert, als ich auf dich gewartet habe.«
»Alles? Obwohl noch zwölf Kilometer vor uns liegen?«
Er zuckt mit den Schultern, aber dieses Mal verraten seine Grübchen ihn.
»Ich habe übrigens diesen Typen getroffen, den wir am Bahnhof gesehen haben«, wechsele ich das Thema. »Der mit dem Hund.«
»Der Penner?«
»Na ja, so schlimm ist er auch wieder nicht. Jedenfalls ist es kein Penner.«
Jetzt legt er endlich eine Hand um meine Taille und kneift sacht hinein. Und plötzlich bin ich doch wieder vierzehn. Jedenfalls kichere ich für einen Moment genauso albern. Dann ist der Augenblick schon wieder vorbei, und ich stelle enttäuscht fest, dass der Kloß im Hals nicht wirklich kleiner geworden ist.
»Was ist denn mit dem?«, will Jon wissen.
Ich zucke mit den Schultern, bin unschlüssig, ob ich es erzählen soll. Verkohlt und in Stücke zerfetzt. Allein bei dem Gedanken wird mir so kalt, dass ich meinen Schal aus dem Rucksack krame.
Schließlich entscheide ich, nicht weiter darauf einzugehen. Jon braucht nicht alles zu wissen. Und wenn er so affektiert die Augen rollt, schon gar nicht.
Noch während ich mir meinen Lieblingsschal umwickele, brummt mein Handy. Guten Empfang zu haben, ist auf diesem Trail eher eine Seltenheit, deswegen schaue ich gleich auf das Display. Es ist Emma, die mir schreibt. Meine liebe und zugleich ziemlich verrückte Freundin.
Em: Hey Kimmi. Nicht böse sein jetzt. Ich bin in Edinburgh. Wir sollten diesen Trip zusammen machen, findest du nicht? Ist doch besser so. Ich bin auch froh, wenn ich nicht alleine sein muss. Mir geht’s echt mies. Wo können wir uns treffen?
Okay …
Das wird Jon nicht wollen. Garantiert nicht. Ich meine, was denkt sie sich? Sie weiß genau, dass ich gemeinsam mit ihm reise. Dass wir einen Pärchenurlaub machen.
»Wer war das?«, will er prompt wissen.
»Äh – Emma.«
»Und? Neuen Kerl aufgegabelt?«
Sofort bin ich genervt. Muss er immer so abschätzig über sie sprechen? Als würde sie ständig irgendwelche Kerle aufgabeln. Sie probiert gerne was aus, stimmt schon, hat keinen festen Freund, will auch keinen haben. Zumindest nicht auf Dauer. Und so langsam frage ich mich, ob sie damit richtig liegen könnte.
»Sie ist in Edinburgh«, informiere ich ihn nüchtern. »Sie will mit uns laufen.«
Einen Moment betrachtet er mich ruhig. Sein Gesicht, eingerahmt von diesen unglaublichen Locken, seine Augen zwei braune warme Murmeln.
»Im Ernst?«
Ich nicke und halte ihm die Nachricht direkt unter die Nase. Dabei ärgere ich mich über mich selbst. Ich hätte mir erst im Stillen klarwerden sollen, wie ich auf die Message reagieren möchte.
Will ich überhaupt, dass Emma uns begleitet? Oder will ich diesen Trip mit meinem Freund lieber alleine machen?
Jon ist inzwischen aufgesprungen und hat seinen Rucksack an sich gerissen. Seine Bewegungen sind so fahrig, dass ich die Wut aus ihnen herauslesen kann.
»Mann, Kim! Ich hab nichts gegen Emma. Ehrlich. Aber ich muss mit deiner Häkelfreundin nicht unbedingt Urlaub machen!«
»Häkelfreundin? Echt jetzt?«
Wieder rollt er auf diese entsetzliche Art mit den Augen. Und wieder bekomme ich einen Schreck. Bis vor kurzem wusste ich gar nicht, dass so was überhaupt möglich ist. Anatomisch betrachtet. Für ein paar Wimpernschläge lang sieht er dabei tatsächlich wie ein Zombie aus.
»Jon, hör damit auf!«, brülle ich, und in diesem Moment ist es mir völlig egal, dass ich erstens viel zu laut bin und uns zweitens alle hören können. Diese Mimik ist einfach nur abartig. »Ich will das nicht mehr sehen!«
»Was denn?«
»Was denn? Was denn?«, äffe ich ihn nach. »Das mit deinen Augen! Es macht mir Angst!«
»Es macht dir Angst, wenn ich mit den Augen rolle? Really?«
Jetzt springe ich auf und fange an, hektisch meine Sachen zusammenzuraffen.
»Ich habe es dir schon oft erklärt! Deine Iris ist fast nicht mehr zu sehen, das sieht ekelhaft aus!«
Jetzt grinst er auch noch. Großartig.
»Hat Alex mir beigebracht. Nicht schlecht, oder?«
Meine Nase beginnt zu prickeln. Das tut sie immer, bevor die ersten Tränen fallen.
»Lass es einfach«, zische ich, weil es mir inzwischen doch peinlich ist, dass Jim und Jeanne besorgte Blicke in unsere Richtung werfen. Und sie sind nicht die Einzigen, die uns anstarren.
»Ich will einfach nicht, dass sie uns begleitet, das ist unser Urlaub. Ich find’s total aufdringlich! Rufe sie an und sag ab!«, kommt er wieder zum Thema zurück.
»Nein«, entscheide ich. »Sie ist meine Freundin, und anscheinend geht es ihr nicht besonders. Natürlich kann sie uns begleiten.«
»Meinst du das ernst? Kimmi, sie ist immer wegen irgendwas fertig! Wegen ’nem Kerl, ihrer Mum, ’nem Job, was weiß ich!«
»Ja und? Freunde sind dazu da, zuzuhören.«
»Ja, aber das ist unser Urlaub!«
»Dachte ich auch. Aber jetzt ist es eben so. Ich kann sie nicht wegschicken, Jon. Ich verstehe ja, dass es dich nervt. Aber was soll ich machen? Ihr schreiben, dass sie zurück nach Deutschland fliegen soll?«
»Ja.«
»Du bist echt egoistisch. So kenne ich dich gar nicht!«
»Demnächst ziehe ich um. Nach München. Bis dahin will ich die Zeit mit dir alleine verbringen!«
Für einen Moment lasse ich den Blick hinunter auf den See gleiten. Habe ich den Ausblick überhaupt schon bewusst wahrgenommen?
Der Himmel strahlt – in jenem tiefen und grenzenlosen Blau, das nur der Sommer zusammenmischen kann. Nur wenige Wolken treiben träge darin. Loch Lomond erscheint wie eine Spiegelung des Horizonts, nur dass statt der Watteklekse kleine Inseln im See feststecken. Dann verschwimmt alles zu einem Himmelsblaubrei, und es fallen tatsächlich die ersten Tränen.
»Dass du jetzt weinst, ist nicht fair, Lotti«, bemerkt Jon, setzt sich aber endlich wieder neben mich.
»Es ist nur, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du weg willst. Wir hatten ja sogar schon mal überlegt, zusammenzuziehen!«
Schon zieht er seinen Arm wieder fort.
»Und genau das ist es! Mir geht das einfach zu schnell. Wir sind erst neunzehn, Kimmi. Wir sollten nicht so glucken!«
»Müssen wir ja auch nicht. Und tun wir doch gar nicht!«
Obwohl es mir ernst ist, setzt er seine Tirade, mit der er bereits gestern begonnen hat, weiter fort. Seine Aussagen haben etwas von einem Manifest. Er hat sich seine Argumente logisch zurechtgelegt:
1. Er will zurück nach München. Dort ist er aufgewachsen, dort wohnen seine besten Freunde. Dass seine Eltern und sein jüngerer Bruder inzwischen in Mainz leben, ist einerlei. Ihn zieht es zurück in seine Heimatstadt.
2. Er liebt mich. Vom ersten Moment an, in dem er mich sah. (»Ich war so geflasht, dass ich nur glotzen konnte. Dass ich kaum atmen konnte. Nie zuvor hatte ich ein Mädchen mit so vielen Sommersprossen gesehen.«) ABER: Er will das, was wir haben, nicht verbrauchen. Er will es irgendwie aufsparen. Indem er uns auf Abstand hält.
Mag sein, dass seine Argumente logisch sind, irgendwie. Aus seiner Sicht. Ich sehe das aber ganz anders. Wir freuen uns seit Monaten auf den gemeinsamen Studienstart. Wir haben uns bereits den Campus angeschaut, sind in die Mensa essen gegangen (wo...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2022 |
---|---|
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Abiball • Abitur • Beste Freundin • Bücher wie Erebos • Bücher wie One Of Us Is Lying • Erebos • Geschenk Mädchen ab 14 • One of us is lying • Psychothriller • unheimliche Begegnungen • West Highland Way • Whatsapp |
ISBN-10 | 3-7336-0478-4 / 3733604784 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0478-3 / 9783733604783 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich