Das Antiquariat der verlorenen Dinge (eBook)
352 Seiten
Verlag Carl Ueberreuter
978-3-7641-9307-2 (ISBN)
Daphne Mahr wurde 1990 in St. Pölten/Österreich geboren und hatte schon in frühster Kindheit den Traum, eines Tages Kinder- und Jugendbuchautorin von fantastisch-romantischen Büchern zu werden. Nach einem Germanistik- und Geschichtsstudium unterrichtete sie zwei Jahre lang als Lehrerin an einer Schule, bevor sie Buchhändlerin wurde und anfing, auch eigene Geschichten zu veröffentlichen. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in der Nähe von Wien.'
Daphne Mahr wurde 1990 in St. Pölten/Österreich geboren und hatte schon in frühster Kindheit den Traum, eines Tages Kinder- und Jugendbuchautorin von fantastisch-romantischen Büchern zu werden. Nach einem Germanistik- und Geschichtsstudium unterrichtete sie zwei Jahre lang als Lehrerin an einer Schule, bevor sie Buchhändlerin wurde und anfing, auch eigene Geschichten zu veröffentlichen. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in der Nähe von Wien."
1.
Bis zu meinem elften Geburtstag fuhr ich jedes Jahr Anfang August mit dem Zug von München nach Lyon. Meistens mit meiner Mutter, einmal mit Mama und Papa gemeinsam – und danach nie wieder. Dieses eine Mal vor dem Niewieder war die traurigste Frankreich-Sommerferienreise meines Lebens. Meine Eltern hatten mich nicht wie sonst einfach vom Gare de Lyon Perrache vorbei am Place Bellecour bis in die Rue Saint Jean in der Altstadt gebracht. Wir blieben nicht vor dem historischen Renaissancestadthaus stehen, in dessen Untergeschoss sich das Antiquariat der Familie Lombard befindet und wo im Dachgeschoss Papy Philippe wohnte. Mama drückte nicht den kleinen Messingknopf in der Steinmauer direkt neben dem winzigen Schild mit der verschnörkelten Aufschrift Atelier de relieur Chevalier, Buchbinderei Chevalier, und wartete nicht, bis Papy Philippe mit einer qualmenden Tabakpfeife im Mund und einem alten Buch in der Hand das Fenster öffnete, den Kopf herausstreckte und freudestrahlend rief: »Meine kleine Clara ist wieder da!« Und danach eilte mein französischer Großvater – mein lieber Grand-père, mein Papy Philippe – auch nicht so schnell wie möglich durch den Hinterhof bis zu der dunkelgrünen, schweren Holztür, um mit mir und Mama unsere traditionellen Begrüßungscrêpes in Raouls Crêperie zu essen. Ich glaube, diese eine Frankreichreise vor dem Niewieder war tatsächlich der Moment, in dem ich herausfand, dass man niemanden für immer hat. Vor allem nicht seinen Opa. Dass man jede Sekunde genießen muss, die gemeinsam bleibt, weil es irgendwann keine solchen gemeinsamen Sekunden mehr geben wird. Keine Schokoladencrêpes, keine Nächte in der Buchbinderwerkstatt mit den spannendsten Märchen der Welt, keine selbst gebundenen Glitzertagebücher, auf deren Einband mir mein Großvater in extragroßen Buchstaben CLARA CLAIRE BERNSTEIN geprägt hatte, keine Papy-Philippe-Croissants zum Frühstück und keine Frankreich-Sommerferien.
Das alles war gemeinsam mit Papy Philippe aus meinem Leben verpufft wie eine Seifenblase, die in den Himmel schwebt und in der Sonne platzt.
Nachdem wir also all die Dinge nicht taten, die für mich sonst zu jeder Lyon-Reise dazugehörten, fuhren wir zum Friedhof, und ich hielt die Hände meiner Eltern, während Papy Philippes Sarg in der Erde verschwand. Und die ganze Zeit lief keine einzige Träne über meine Wangen, weil es eine Art von Traurigkeit gibt, bei der man nicht einmal mehr weinen kann. Bei der einem einfach bloß ein dicker Kloß im Hals steckt und man glaubt, alle Gefühle hätten sich aus dem Körper verflüchtigt. Als hätte man sie verloren. Genauso wie den Menschen, von dem man dachte, man würde ihn niemals verlieren.
Inzwischen lag das fünf Jahre zurück.
Heute war der dritte August.
Gestern war ich sechzehn Jahre alt geworden.
Und heute hatte sich dieses Niewieder in ein Dochwieder verwandelt. Zum ersten Mal seit damals stand ich am Bahnsteig des Gare de Lyon Perrache. Nun jedoch ohne Mama und Papa, denn meine Eltern fanden, dass eine Sechzehnjährige das Recht hatte, die Welt allein zu erkunden. Sie stellten sich das wie in Büchern oder Filmen vor, in denen Jugendliche die verrücktesten Abenteuer erleben und darüber erwachsen werden.
Wäre das hier wirklich ein Film gewesen, dann würde das Bild nun langsam auf ein Mädchen mit von der Sonne ausgebleichten roten Chucks an den Füßen zoomen, das sich fieberhaft umsah. Dazu trug ich ein blaues Sommerkleid mit weißen Pünktchen, das weder cool noch neu noch praktisch noch sonst was war, denn von solchen Dingen hatte ich keine Ahnung, und das war auch noch nie anders gewesen. Meine rabenschwarzen Haare hatte ich zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden – nichts ahnend, dass sie in diesem Sommer eine wichtige Rolle spielen würden. Genauso wie meine dunkelbraunen Augen und der viel zu große Leberfleck auf meiner linken Wange in diesem Sommer eine wichtige Rolle spielen würden.
Mein moosgrüner Trolley war ganz schön schwer, und ich hielt in der rechten Hand ein eierschalenfarbenes Papierkärtchen, das ich unter keinen Umständen verlieren wollte. Denn darauf stand eine mit schwarzer Tinte gekritzelte Nummer, die ich anrufen sollte, falls ich die Frau mit dem langen blonden Flechtzopf nirgendwo entdecken konnte. Und ich entdeckte sie nirgendwo. Was nicht daran lag, dass ich Yvette Lombard nicht gekannt hätte. Im Gegenteil. Ich hatte Tausende Erinnerungen an die Antiquarin aus der Rue Saint Jean. Obwohl wir kein bisschen miteinander verwandt waren, fühlte es sich so an, als wäre sie meine Tante. Sie schickte Weihnachtskarten, Geburtstagskarten und war stets zur Stelle, wenn man sie brauchte. So war sie zum Beispiel, als Mama die Zwillinge bekommen hatte, extra nach München gereist, um meine Eltern zu unterstützen. Wie eine richtige Tante das eben tat. Vor allem aber erinnerte ich mich an ihre Besuche in Papy Philippes Buchbinderwerkstatt und die vielen staubigen Bücher, die sie ihm immer gebracht hatte, damit er sie rettete. Und an die rosaroten Bonbons aus den Taschen ihrer Strickwesten, die sie mir, als ich noch ganz klein gewesen war, mit den Worten »Sieh mal, Clara, dir wachsen pinke Perlen hinter den Ohren. Ein eindeutiges Anzeichen für Feenblut!« aus dem Kragen gezaubert hatte.
Normalerweise hätte ich Yvette Lombard also ganz bestimmt nicht übersehen. Doch heute wimmelte es im Gare de Lyon Perrache so sehr von Menschen mit Koffern und Rucksäcken, die hinaus in die Stadt drängten, dass ich mich vor lauter Trubel kaum orientieren konnte. Es wurde gerempelt, gestoßen, geschoben und manchmal ein wenig geflucht. Doch nichts kam gegen das Herzklopfen an, das in meiner Brust polterte. Vielleicht war das hier der aufregendste Tag meines Lebens. Jedenfalls dachte ich das. Clara Bernstein, einen aufregenderen Tag wird es nie wieder geben!, schoss es mir andauernd durch den Kopf. Wahrscheinlich sind das normale Gedanken, wenn man zum ersten Mal alleine eine so weite Reise macht.
Gerade als ich dazu ansetzte, das Smartphone aus meiner Stoffumhängetasche zu nesteln, um die Tinten-Kritzel-Nummer zu wählen, hörte ich es.
»CLARA!!!«
Ein paar Leute drehten sich verwundert um. Ich sah von meinem Handy auf. Mit weit in die Höhe gereckten Armen stand Yvette neben dem Bahnhofseingang und winkte, als wäre sie ein überdimensionaler Scheibenwischer. »Clara! Clara! Clara!«, brüllte sie. Ganz ehrlich, hätte jemand wie meine Mutter irgendwo in der Öffentlichkeit eine ähnliche Show abgezogen, wäre ich vor Scham im Erdboden versunken. Aber bei Yvette war das anders. Bei ihr musste ich grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Yvette gab es eben nur in speziell. Da genügte ein Blick auf ihre Klamotten. Obwohl die Augustsonne vom Himmel knallte, trug sie eine hellgrüne, hüftlange Strickweste zu einer knallgelben Bluse und einer kirschroten Leinenhose. Ihr Zopf hing locker nach vorn über die linke Schulter und mir fiel sofort wieder ein, wieso Mama und Papa ihr irgendwann heimlich den Spitznamen »Flip« verpasst hatten. Mit ihrem schlanken, hochgewachsenen Körperbau und den langen Beinen erinnerte sie wirklich an die nette Heuschrecke aus Biene Maja. Fehlte nur der Hut.
Vielleicht war es die Art, wie Yvette meinen Namen aussprach, mit den lang gezogenen A, genau wie Papy Philippe es immer getan hatte, sodass man hätte glauben können, ich würde Claaraa heißen, oder weil sie sowieso Französisch sprach und dann auch noch »Ma chère!« rief – jedenfalls wurde mir zum ersten Mal, seit ich heute Morgen um sechs Uhr in München in den Zug gestiegen war, so richtig bewusst, dass ich gerade nicht träumte. Ich war wirklich hier! In Frankreich! In Lyon! Und ich würde den ganzen Sommer bleiben!
Für einen Moment vergaß ich sogar, wie tonnenschwer mein Trolley war. Ich steckte mein Handy weg, packte den Koffergriff und bahnte mir, so schnell ich konnte, einen Weg durch die Menschenmassen.
Auf halber Strecke kam mir Yvette entgegengelaufen. »Clara!«, rief sie ein letztes Mal, dann zog sie mich ruckartig an sich, sodass der Trolley hinter mir mit einem Rums umkippte. »Es ist so schön, dich zu sehen!«, murmelte sie mir in die Haare.
»Es ist so schön, dass ich kommen durfte«, murmelte ich auf Französisch zurück. Und urplötzlich verwandelte sich das aufgeregte Flattern in meinem Bauch in einen brennenden Druck, der von meiner Brust bis in meine Augen wanderte. Ich blinzelte und blinzelte. Doch es ließ sich nicht mehr verhindern: Tränen kullerten mir über die Wangen. Ganz von selbst. Auch wenn das vielleicht ein bisschen verrückt klingt. Wahrscheinlich lag es an Yvettes Geruch, dieser Mischung aus Bleistift, Staub und alten Büchern, die sich in der Wolle ihrer Strickweste festgesetzt hatte, und die mich unendlich an Papy Philippe erinnerte. Mit dem Unterschied, dass Papy Philippe immer auch noch etwas nach Pfeifentabak gerochen...
Erscheint lt. Verlag | 21.6.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Alte Bücher • Antiquariat • Bibliophil • Buch für Mädchen ab 12 • Buchhandlung • Buchliebe • Erste Liebe • fantastische Liebesgeschichte • Fantasy • Frankreich • Fundstücke • Geheimnis • Humor • Jugendbuch ab 12 Jahren • Lyon • Magie • Roadtrip • Romantasy • verlorene Dinge |
ISBN-10 | 3-7641-9307-7 / 3764193077 |
ISBN-13 | 978-3-7641-9307-2 / 9783764193072 |
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Größe: 2,2 MB
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