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Broken World (eBook)

Wie willst du leben?

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
384 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491435-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Broken World -  Jana Voosen
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Was bist du bereit zu opfern für eine bessere Zukunft? Ein mitreißender Roman über Gerechtigkeit und die Macht des Helfens von Jana Voosen. Yma wusste schon immer, dass sie anders ist. Sie kann Mitleid empfinden. Und das ist hochgefährlich. Denn in Vahvin überleben nur die Starken und Gesunden. Den Schwachen zu helfen ist unter Höchststrafe verboten. Yma muss ihre Emotionen sorgsam unter Kontrolle halten. Doch dann verschwindet ihre beste Freundin. Auf der Suche nach ihr begegnet Yma dem geheimnisvollen Len. Was er ihr zeigt, stellt Yma vor eine harte Entscheidung: Wer will sie sein? Wie will sie leben? Und was wird sie riskieren für eine gerechtere Welt?

Jana Voosen beschloss im Alter von sieben Jahren, entweder Schauspielerin oder Schriftstellerin zu werden. Nach dem Abitur studierte sie Schauspiel in Hamburg und New York und schrieb zeitgleich ihren ersten Roman. Seitdem war sie in zahlreichen TV-Produktionen zu sehen (z.B. »Tatort«, »Homeland«) und veröffentlichte erfolgreiche Romane (z.B. »Für immer die Deine«). Jana Voosen lebt mit ihrer Familie in Hamburg. »Broken World« ist ihr Debütroman für junge Erwachsene.

Jana Voosen beschloss im Alter von sieben Jahren, entweder Schauspielerin oder Schriftstellerin zu werden. Nach dem Abitur studierte sie Schauspiel in Hamburg und New York und schrieb zeitgleich ihren ersten Roman. Seitdem war sie in zahlreichen TV-Produktionen zu sehen (z.B. »Tatort«, »Homeland«) und veröffentlichte erfolgreiche Romane (z.B. »Für immer die Deine«). Jana Voosen lebt mit ihrer Familie in Hamburg. »Broken World« ist ihr Debütroman für junge Erwachsene.

4


Ich versuche, den Gedanken an Adriel und unsere eventuellen Nachkommen beiseitezuschieben, um dem Unterricht zu folgen. Geschichte ist eines meiner Lieblingsfächer.

Mit der Fernbedienung schaltet Nita Icho die elektronische Tafel ein.

»Eure Prüfungen nahen«, sagt Nita Icho, »und deshalb wollen wir in den nächsten Stunden ein bisschen Basiswissen wiederholen.«

Ein Aufstöhnen geht durch die Reihen, von dem sich unsere Lehrerin nicht aus der Ruhe bringen lässt. Sie lächelt. »Ja, ja, es mag euch langweilig, vielleicht sogar unnötig vorkommen, aber ihr werdet überrascht sein, wie viel Wissen aus den unteren Jahrgangsstufen ihr mittlerweile vergessen habt. Also, nehmen wir mal an, die Prüfer sind euch wohlgesonnen, dann stellen sie euch vielleicht eine lächerlich einfache Frage wie die folgende: Beschreiben Sie den sogenannten Sozialstaat der Postmoderne und seinen Niedergang anhand seiner primären Merkmale.«

Ihr Blick schnellt suchend zwischen den Schülern umher. Ganz automatisch hebe ich den rechten Arm, obwohl sie mich vermutlich sowieso nicht drannehmen wird. Und richtig.

»Aluna«, sagt sie. Ich wende mich um und stelle fest, dass meine sonst stets fröhliche Klassenkameradin rot geweinte Augen hat. Jetzt starrt sie Nita Icho an wie ein hypnotisiertes Kaninchen die Schlange.

»Nun?«, fragt die Schlange ungeduldig, und Aluna erhebt sich im Zeitlupentempo. Zieht geräuschvoll die Nase hoch, versucht sich zu sammeln.

»Ich …«

»Ja?«

»Ähm. Der Sozialstaat der Postmoderne …« Aluna starrt auf die Tischplatte ihres Pults, als könne sie darauf die Antwort auf die Frage ablesen.

Komm schon, Aluna, denke ich, reiß dich zusammen. Aber das tut sie nicht. Stattdessen rinnt ihr ganz langsam eine Träne die Wange herunter, bleibt zitternd an ihrem Kinn hängen und fällt auf das helle Holz, wo sie in winzige Tröpfchen zerplatzt. Was ist denn bloß los mit ihr?

»Setzen«, sagt Nita Icho schneidend, ohne den Tränen ihrer Schülerin Beachtung zu schenken. Dann sieht sie sich im Raum um. »Irgendjemand hier, der eine Karriere oberhalb des Kloputzens anstrebt und diese wirklich einfache Frage beantworten kann?«

Ich ziehe den Kopf ein, aber ausgerechnet dieses Mal ruft Nita Icho mich auf.

»Yma.«

Mit leisem Widerwillen erhebe ich mich. »Der Sozialstaat der Postmoderne hatte die soziale Gerechtigkeit und Sicherheit jedes einzelnen Bürgers zum Ziel. Dieses verwirklichte er mit entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen sowie materiellen Unterstützungsleistungen. Alle sogenannten benachteiligten Bürger – Kranke, finanziell Schwache und anderweitig schutzbedürftige Personen – wurden vom Staat unterstützt. Lebensrisiken und ihre sozialen Folgewirkungen wurden abgefedert. Zu den sozialen Leistungen zählten Arbeitslosengeld, Wohngeld, Renten, Entschädigungszahlungen, Krankenversicherung und vieles mehr. Lange Zeit galt diese Staatsform als die einzig moralisch vertretbare. Das Sozialstaatsprinzip war bis zu seiner Aufhebung vor hundertfünfzig Jahren im Grundgesetz verankert«, leiere ich herunter, so schnell ich kann.

»Und warum wurde er aufgehoben? Das klingt doch eigentlich ganz nett«, fragt meine Lehrerin, noch bevor ich mich wieder setzen kann.

»Kurz vor den Reformen stand das System vor dem Zusammenbruch. Es herrschte eine enorme Überbevölkerung. Die Bevölkerung vergreiste, man ließ die Alten und Kranken nicht sterben, sondern verlängerte ihr Leben auf teilweise unwürdige Art und Weise. Die Verlierer der Gesellschaft, die sich nicht selbst versorgen konnten und unter natürlichen Bedingungen gestorben wären, wurden durch das System mitversorgt. So überlebten sie nicht nur, sondern konnten sich sogar vermehren. Dadurch stellte sich der Mensch selbst ein Bein. Er stoppte nicht nur die eigene Evolution, sondern er überforderte auch den Planeten, auf dem er lebte. Die Natur wehrte sich durch den Ausbruch einer Pandemie. Ein Virus umrundete die Welt und forderte viele Menschenleben. Die Regierungen der einzelnen Länder versuchten, das Virus durch strenge Lockdowns einzudämmen. Die daraus resultierende wirtschaftliche Not vieler sollte durch den Staat aufgefangen werden. Doch kaum war das erste Virus besiegt, folgte eine zweite, noch tödlichere Pandemie. Die Welt versank im Chaos, und die Machthaber des ehemaligen Europas erkannten, dass nicht jeder gerettet werden konnte. Sie schlossen sich zum heutigen Vahvin zusammen. Heute leben wir nach den Naturgesetzen. Die Starken überleben. Die Schwachen sterben.«

»Danke, Yma.« Nita Icho nickt mir zu und wendet sich wieder an Aluna. »Und kannst du mir wenigstens sagen, worin die Reformen durch unseren verehrten Ersten Präsidenten bestanden?«

»Die Abschaffung staatlicher Unterstützungsleistungen und jeglicher medizinischer Versorgung«, antwortet diese leise.

»Ganz recht. Die Zahlen sprechen für sich. Unser Bevölkerungswachstum ist negativ, und da sich hauptsächlich die Elite erfolgreich fortpflanzen kann, wird unser Volk mit jeder Generation gesünder und leistungsfähiger. Sogar das Einwanderungsproblem wurde gelöst. Wir brauchen dafür nicht einmal Mauern oder Stacheldraht, wie es in der Alten Welt der Fall war. Niemand kommt auf einen Kontinent, in dem er keine Hilfe erwarten kann. Wolltest du noch etwas sagen, Aluna?«

Die Angesprochene beißt sich auf die Lippen. »Aber wie kann man einfach danebensitzen, wenn jemand stirbt?«, platzt es aus ihr heraus.

Nita Ichos Blick wird eisig. »Du musst ja nicht danebensitzen.«

 

Nach der Stunde verlässt Aluna mit gesenktem Blick den Kursraum. Ich beeile mich, meine Sachen zusammenzupacken, und folge ihr.

»Aluna?«, frage ich, nachdem ich sie eingeholt habe. Sie bleibt nicht stehen.

»Ich muss weg«, murmelt sie, ohne mich anzusehen.

Ich lege ihr eine Hand auf den Unterarm. »Jetzt warte doch mal«, bitte ich, und sie hält tatsächlich inne. Sieht mich an. Widerwillig. »Was ist denn? Ich hab doch gesagt, dass ich keine Zeit habe.«

Ich betrachte sie mitleidig. Aus der Nähe ist deutlich zu erkennen, dass sie in letzter Zeit viel mehr Tränen vergossen hat als nur die eben im Klassenzimmer. Ihre Augen sind gerötet, die Lider geschwollen. Es scheint ihr schlecht zu gehen.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, bricht es aus mir heraus. Sie sieht mich erschrocken an. Hilfe – das Unwort von Vahvin. »Ich meine«, korrigiere ich mich sofort, »kann ich dich unterstützen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, danke.«

Ich trete noch ein Stück näher an sie heran. »Jemand aus deiner Familie?«, flüstere ich, damit niemand der um uns herumwuselnden Schüler etwas mitbekommt.

Sie nickt. »Mein Vater«, antwortet sie erstickt, und schon wieder glitzern die Tränen in ihren Augen.

»Das … oh nein, ich meine … tut mir leid«, stammele ich unbeholfen.

»Ja. Mir auch.«

»Was hat er denn?«

Sie strafft die Schultern, ihre Miene vereist. »Spielt das eine Rolle? Ist doch vollkommen egal. Wahrscheinlich hat er eine Krankheit, die man vor hundertfünfzig Jahren hätte heilen können. Durch eine Operation. Oder ein paar Tabletten.«

Ihre Stimme ist lauter geworden, und ich sehe mich unbehaglich um, ob jemand unser Gespräch mit anhören kann. Aber zum Glück scheint sich niemand für uns zu interessieren.

»Du solltest leiser sprechen«, sage ich trotzdem.

»Es geht ihm so schlecht«, ihre Augen füllen sich mit Tränen, »jeder Atemzug ist eine Qual. Und ich soll einfach dabei zusehen, wie er stirbt? Ich verstehe nicht …« Sie bricht ab, und sie muss auch gar nicht weitersprechen. Ich weiß, welche Worte sich hinter ihren fest zusammengepressten Lippen aufstauen. Was sie am liebsten laut herausschreien würde. Wie soll das gehen? Woher kommt der Impuls in mir, den Schwachen helfen zu wollen? Bin ich nicht normal, oder seid ihr es?

Ich denke an den kleinen Jungen, sehe vor meinem inneren Auge, wie meine Hand mit dem Getränk sich ganz automatisch in seine Richtung streckt.

»Aber was soll man machen?« Beinahe flehend sieht Aluna mich an. Und ich kann nichts anderes tun, als mit den Schultern zu zucken.

Man kann nichts machen. Man darf nichts machen. Unsere Blicke kreuzen sich, dann sieht sie schnell zu Boden.

»Ich muss los.«

»Natürlich.« Ich nicke. »Dann also …«

Sie wendet sich ab und läuft schnellen Schrittes davon. Betreten sehe ich ihr hinterher und frage mich, wie es sich anfühlt, den Vater an eine Krankheit zu verlieren. Einen Vater, den man gekannt hat. Der einem Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen und das Radfahren beigebracht hat. Der für einen der Held, der Beschützer, der stärkste Mensch der Welt gewesen ist. Es muss schrecklich sein, wenn dieses Bild zerbricht. Wenn man erkennt, dass er schwach ist. Zu schwach zum Überleben. Trotzdem, und ich schäme mich für den Gedanken, beneide ich Aluna für einen kurzen Augenblick. Immerhin hatte sie einen Vater. Von meinem habe ich nicht einmal mehr eine bewusste Erinnerung. Nur ein Foto, auf dem er in die Kamera lacht und ein kleines, rothaariges Mädchen mit Sommersprossen auf dem Arm hat. Mich. Ich bin noch nicht einmal zwei Jahre alt.

 

Ein Stoß trifft mich an der Schulter und reißt mich aus meinen trüben Gedanken. Kimi. Natürlich. Sie folgt meinem Blick, sieht Aluna am Ende des langen Korridors um die Ecke biegen.

»Es ist ihr Vater«, sagt sie im Plauderton, hakt mich unter und zieht mich den Gang entlang. »Sieht nicht gut aus.«

»Was hat er denn?«

»Keine Ahnung. Er ist halt...

Erscheint lt. Verlag 25.8.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Ausgrenzung • bessere Welt • Beste Freundin • Darwinismus • Dystopie • Equilibirium • Europa • Future Fantasy • gerechtere Welt • Geschenk • Katastrophe • Klima • Liebe • Mitleid • Ophelia Scale • Ostern • Rebellin • Schauspielerin • Soziale Gerechtigkeit • starke Heldin • Umwelt • Vahvin • vortex • Was ist mir wichtig? • Weihnachten • Young Adult • Zukunft
ISBN-10 3-10-491435-4 / 3104914354
ISBN-13 978-3-10-491435-0 / 9783104914350
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