Die Gilde der Schatten (eBook)
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99946-5 (ISBN)
In Buxtehude, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen, nahm Nicole Gozdeks Leidenschaft für phantastische Geschichten ihren Anfang. Nach dem Germanistik- und Romanistikstudium mit Schwerpunkt auf Literatur und einem Abstecher in die Buchbranche arbeitet sie heute als Online Marketing Managerin. Mit ihrem All-Age-Fantasyroman »Die Magie der Namen« gewann sie 2015 den ersten #erzählesuns-Award des Piper Verlags und 2017 den Deutschen Phantastik Preis für das beste Romandebüt.
In Buxtehude, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen, nahm Nicole Gozdeks Leidenschaft für phantastische Geschichten ihren Anfang. Nach dem Germanistik- und Romanistikstudium mit Schwerpunkt auf Literatur und einem Abstecher in die Buchbranche arbeitet sie heute als Online Marketing Managerin. Mit ihrem All-Age-Fantasyroman "Die Magie der Namen" gewann sie 2015 den ersten #erzählesuns-Award des Piper Verlags und 2017 den Deutschen Phantastik Preis für das beste Romandebüt.
1
Brise
Unerwartet fuhr ihm der Wind ins Gesicht. Farisios Augen brannten. Es fühlte sich für ihn wie ein Schlag an. Der Wind forderte seine Aufmerksamkeit und entlockte ihm ein Seufzen.
Natürlich hätte es auch ein Nachkomme von Wirilat sein können, der voller Übermut seine Windmagie an ihm erprobte, doch Farisio glaubte das nicht. Dann hätte er nicht dieses leise Wispern vernommen: Hör zu!
Farisio schloss für einen Moment müde die Augen. Sein Magen knurrte und schmerzte vor Hunger. An diesem Tag hatte er noch nichts gefunden, mit dem er das Monster, das in seinen Eingeweiden zu hausen schien, hätte besänftigen können. Und auch nicht am Tag zuvor.
Er war Hunger gewohnt, genau wie Durst, Kälte, Müdigkeit, Furcht und Wachsamkeit. Man überlebte nicht auf den Straßen, wenn man nicht hart im Nehmen war. Und Farisio war ein echtes Stehaufmännchen. So jedenfalls hatte ihn Ybbydus immer genannt.
Trauer kam in ihm auf, als er an seinen verlorenen Freund dachte, der ihm mehr Vater und Mutter gewesen war, als sein ahnungsloser Erzeuger oder seine wahnsinnige Mutter es je gewesen waren. Sechs Jahre war Ybbydus nun bereits vermisst und er hatte einen Teil von Farisios Seele mitgenommen, als er verschwand.
Der Wind nahm an Stärke zu, bis er laut brüllte und ihn aus seinen Gedanken riss. Farisio zuckte zusammen, als er wieder an seine Umgebung erinnert wurde. Es war höchste Zeit für ein warmes Plätzchen, eine Mahlzeit und ein Nickerchen.
Inzwischen hatte der launische Wind seine Aufmerksamkeit anderen zugewandt. Er fuhr durch die schweren Stoffbahnen der Marktstände um Farisio herum, brachte die Flaggen und Fähnchen zwischen den Häusern zum Tanzen und die Windspiele an den Gebäuden zum Klingen, erfand mit spielerischer Leichtigkeit eine neue Melodie und gab den Luftschiffen der Wachen über der Stadt Brise einen kleinen Stups. Er erzählte ihnen allen etwas, doch Farisio merkte, dass niemand dem Wind zuhörte. Niemand außer ihm.
Vielleicht musste man einsam sein, um mit dem Wind zu sprechen. Er wusste es nicht. Manchmal vergingen Tage, ohne dass er mit einem anderen Kuftari sprach. Tage, in denen er das Wort nur an Tiere oder an den Wind richtete, die ihm wenigstens zuzuhören schienen und die nicht aufgrund seiner alten, abgetragenen und geflickten Kleidung misstrauisch vor ihm zurückwichen.
Ja, er hatte kein Geld. Aber er war kein Taschendieb, Mörder oder sonstiger Gauner. Dennoch gab ihm niemand eine Chance oder eine ehrliche Arbeit. Er hätte sich prostituieren können – Angebote von lüsternen Männern, denen sein junges Gesicht gefiel, bekam er genug –, doch lieber wäre er verhungert oder erfroren, als sich zu verkaufen.
Er hatte gehofft, dass sein Leben besser werden würde, wenn er erst einmal die verfluchte Domäne Ectorui hinter sich gelassen hatte, in der nichts je so blieb wie am Tag zuvor und jede Straße überall hinführen konnte, nur nicht wieder hinaus in eine der Nachbar-Domänen. Wie oft hatte er geglaubt, es endlich bis zum Übergang nach Gorgubi geschafft zu haben? Nur um zum Beispiel am nächsten Morgen in der Gestalt eines beinlosen Kriechtieres aufzuwachen, und sich mühsam Elle um Elle auf den Ausgang aus dem Irrgarten des Wahnsinns zuzubewegen? Und wie oft hatte er dann bei Sonnenuntergang erlebt, wie sich die wandernden Hügel wieder auf den Weg ans andere Ende von Ectorui machten und ihn mit sich nahmen? Häufig hatte er kurz davorgestanden, einfach aufzugeben, wenn er wieder einmal in der falschen Gestalt gefangen gewesen war oder sich hoffnungslos verirrt hatte. Es hatte viele Jahre gedauert, bis er dem Chaos, das Ectorui war, entkommen war. Doch selbst jetzt, einen Monat nach seiner Flucht, selbst nachdem er die Domäne Gorgubi durchquert hatte, war er noch nicht ruhiger und hatte immer noch Angst, dass die vergangenen Wochen nur ein Traum gewesen waren.
Verstohlen musterte er die Kuftari in seiner unmittelbaren Umgebung. Viele von ihnen lachten oder unterhielten sich fröhlich mit ihren Bekannten oder Nachbarn, ohne zu ahnen, welch ein Glück sie hatten. Wirilat erschien ihm wie eine Oase der Zufriedenheit und des Wohlstands nach den langen Jahren des Chaos in Ectorui. Er wollte es ihnen gleichtun, doch er hatte das Lachen verlernt.
Sein Blick fiel auf eine Frau um die sechzig, die gerade mit ihrem schwer beladenen Einkaufskorb zwischen den Marktständen auf ihn zukam. Ihr junges Gesicht erschien ihm freundlich, sodass er einen Schritt vortrat und sie ansprach: »Bitte, Herrin, haben Sie etwas zu essen für mich?«
Sie zuckte überrascht zusammen. Farisio bemerkte, wie ihr Blick blitzschnell über seine hagere Gestalt und sein kantiges Gesicht fuhr, das durch seinen großen Hut zum Teil im Dunkeln lag. Zurückhaltung lag nun in ihrer Miene und sie zog den Einkaufskorb dichter an ihren Körper, bevor sie stumm den Kopf schüttelte.
»Verschwinde, Bettler«, rief einer der Marktstandbesitzer wütend und schwang drohend die Faust in Farisios Richtung. »Sonst hole ich die Wachen!«
Der rundliche Händler griff zur Trillerpfeife, die um seinen Hals hing. Ein einfacher Weg für die ehrenwerten Bürger der Stadt Brise, um die Wachen zu rufen, die mit ihren Luftschiffen in einigen Metern Entfernung über ihren Köpfen oder zu Fuß in den Straßen patrouillierten. Ein gellender Pfiff und Farisio würde eine unangenehme Nacht im Gefängnis bevorstehen.
»Ich gehe ja schon«, sagte er leise. Sein Magen knurrte laut und übertönte seine Stimme, doch noch nicht einmal das rief etwas Mitgefühl bei den Marktbesuchern hervor, geschweige denn bei den Verkäufern.
Farisio verlor den Mut. Er wandte sich um und ging. Das Verrückte war, dass er noch nicht einmal arm war. Er besaß lediglich kein Geld. Doch niemand, dem er die geerbten Schmuckstücke seiner Mutter zeigte, glaubte ihm, dass er sie nicht gestohlen hatte. Pfandleiher und Juweliere bekamen ein gieriges Funkeln in den Augen beim Anblick der wertvollen Ketten, Armbänder, Ohrringe und Ringe, die seine schöne und berühmte Mutter von ihren Verehrern geschenkt bekommen hatte. Zwei hatten ihn bestohlen und drei weitere hatten es versucht. Jedes Mal war es ihm nur dank seiner flinken Füße gelungen, ihnen und ihren Schergen zu entkommen. Das eine Mal, als er den Diebstahl angezeigt hatte, hatten die Wachen ihm nicht geglaubt und er hatte eine Nacht im Gefängnis verbringen müssen wegen Verleumdung unbescholtener Bürger.
Unbescholtene Bürger, pah!
Farisio verzog das Gesicht. Er hatte ehrlichere Diebe und Huren kennengelernt als manch angesehene Bürger, die unter dem Deckmantel von Reichtum und Ehre die verabscheuungswürdigsten Verbrechen begingen und diejenigen bestahlen oder ermordeten, mit denen sie kurz zuvor noch diniert oder höflich Konversation gemacht hatten.
Er merkte, dass er erneut gefährlich unaufmerksam gewesen war, als er plötzlich vor einer Wand aus Ziegeln stand und nicht wusste, wie er dorthin gekommen war. Erschrocken sah er sich um. Überall um sich herum entdeckte er hohe Mauern, die von abblätterndem Putz, Dreck und Wasserflecken überzogen waren. Farisio befand sich in einer dunklen Gasse. Einer Sackgasse ohne Fluchtweg, so wie es den Anschein hatte, und ihm wurde der Magen flau, als er sich ausmalte, was hätte geschehen können. Nur durch Glück war es helllichter Tag und die Gasse war leer.
Seine Augen brannten und er zwang sich, tief durchzuatmen. Er würde jetzt nicht weinen.
Doch langsam war er am Ende seiner Kräfte. Er musste etwas tun, etwas ändern. Viel länger hielt er das nicht mehr durch.
Der Junge schlang die Arme um sich und schluckte gegen den Kloß in seiner Kehle an, während seine Gedanken panisch rasten. War es ein Fehler gewesen, sich älter zu machen? Hätte die junge Marktbesucherin ihm vielleicht etwas zu essen oder ein paar Geldstücke gegeben, wenn man ihm sein Alter angesehen hätte?
In Gorgubi hatte er es nicht gewagt, sein wahres Alter, seine Haare oder sein ungeschminktes Gesicht zu zeigen. Jung, allein unterwegs und hübsch waren dort nur Synonyme...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
Schlagworte | Abenteuerroman • All Age • Assassinen • Diebe • fantasy ab 12 • Göttermythos • Götterwelt • Young Adult |
ISBN-10 | 3-492-99946-8 / 3492999468 |
ISBN-13 | 978-3-492-99946-5 / 9783492999465 |
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Größe: 3,6 MB
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