All that's left (eBook)
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99937-3 (ISBN)
Sarah Raich wurde 1979 geboren und ist im ländlichen Niedersachsen und Tirol mit viel Weite und Natur aufgewachsen. Sie studierte in Berlin Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und arbeitete danach als Kreative in Agenturen. Sie lebt mit ihrer Familie in München, hat aber noch ein Stück ihres Herzens in Berlin und San Francisco. In ihrem Romandebüt »All that's left« geht es um Aufbruch und Reise einer starken jugendlichen Heldin in einer zerstörten Welt.
Sarah Raich schreibt Geschichten, seit sie Buchstaben zusammensetzen kann, mit dem drei Sätze langen Debüt "Der Waderzirkus" (sic), veröffentlicht im Treppenaufgang ihres Elternhauses. Studiert hat sie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften. Gelernt hat sie von vielen klugen Schreibenden und Lesenden. Sie lebt mit ihrer Familie in München, hat aber noch ein Stück ihres Herzens in Berlin und San Francisco. In ihrem Romandebüt "All that's left" geht es um Aufbruch und Reise einer starken jugendlichen Heldin in einer zerstörten Welt.
I DAS HAUS
Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht so richtig, wo ich anfangen soll. Ich weiß ja auch gar nicht, wer du bist, was dich interessiert, was du schon weißt. Was du erlebt hast. Wer weiß, vielleicht hast du dir die ganze Zeit auf irgendeinem Südsee-Atoll die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, kühle Drinks geschlürft und im Fernsehen zugesehen, wie hier alles zusammengebrochen ist. Vielleicht tust du das ja auch immer noch. Vielleicht gibt es noch immer diese Orte, wo es einfach nett ist. Ohne fiese Krankheiten, Dürre und Tod. Vielleicht liegst du da jetzt, hörst meine Geschichte und denkst dir: O Mann, die Arme. Was für ein trauriges Leben, buhuhuuu, und dann schlürfst du ein bisschen Ananas-Saft, bevor du ins klare Meer springst und ein paar Züge schwimmst. Vielleicht hört mich ja auch nie jemand.
Aber das bin ich gewöhnt. Ist ja niemand hier. Da kann ich auch gleich mit mir selbst reden. Oder mit Herrn Meyer da drüben. »Hallo, Herr Meyer, wie geht’s denn so? Wollen Sie nicht mal wieder Ihr Auto putzen? Nein? Hmm. Sie waren aber auch schon mal gesprächiger!«
Ich versuche sonst eigentlich, nicht so sehr zu ihm zu schauen. Mittlerweile geht’s, jetzt ist er ein Skelett. Aber eine Zeit lang sah es wirklich fies aus. Als die Haut an den Armen langsam schwarz wurde … es war mir gar nicht klar, wie ekelig der Tod sein kann. Ich hab darüber nicht so viel nachgedacht. Ich meine, über den Tod hab ich schon viel nachgedacht. Sehr viel. Aber das Vermodern danach. Das war mir nicht so bewusst. Es tut mir auch leid, dass ihn keiner begraben hat. Aber Papa hat gesagt, das machen wir auf gar keinen Fall. Das Risiko ist viel zu hoch. Da können wir uns anstecken. Oder überfallen werden.
Nun ist er da also noch immer, ein Haufen Knochen, der über dem Lenkrad seines geliebten Autos hängt. Sieht nicht so crispy aus, der Herr Meyer. Nicht dass er je crispy aussah.
Früher hab ich übrigens nie »crispy« gesagt. Jedenfalls nicht vor anderen. Höchstens so für mich. In mir drinnen. Wenn ich mir vorgestellt habe, wie die Dinge sonst sein könnten. Wie sich ein anderes Leben anfühlen würde, eines mit Freunden und Partys.
Zu Hause will Papa solche Worte nicht hören. Das findet er ganz schlimm. »Als hätten wir nicht schon eine schöne, funktionierende Sprache, mit der man alles sagen kann, was zu sagen ist.«
Und in der Schule? Niemals. In der Schule kannst du »crispy« sagen, wenn du »crispy« bist. Sonst hältst du besser die Fresse. Und wenn du doch was sagen musst, dann sag bitte so wenig wie möglich, so unauffällig wie möglich. Wenn du ein Wort in den Mund nimmst, das die Coolen benutzen – dann bist du fällig. Justus zwei Klassen über mir hat mal »killer« benutzt. Zwei Tage später kam er heulend vom Klo. Auf seiner Stirn und den Wangen stand mit Edding: »Ich bin killer scheiße.«
Ich frag mich, was mit dem ist. Mit dem Justus. Ob der noch lebt? Ich glaub nicht. So verstrahlt, wie der war. Obwohl. Ich bin ja auch noch hier. Und wenn jetzt überhaupt irgendwer an mich denkt, dann bestimmt: Die olle Mariana? Die ist doch schon lange abgekratzt, so blöd, wie die war.
Der Zusammenbruch ist jetzt etwa zwei Jahre her. Obwohl ich das nicht so richtig benennen kann, wann das war, der Zusammenbruch. War das, als die Schule aufgehört hat? Erst mal auf Zeit und dann einfach für immer? Oder war es, als es keine Nachrichten von der Regierung mehr gab? Oder als die Leichen auf der Straße liegen blieben, weil sie keiner mehr beerdigt hat? Mir hat nie jemand gesagt: So, Mariana, das war’s jetzt. Die Welt, die du kanntest, die ist jetzt wirklich erledigt.
Mir war es schon klar, dass das nichts mehr werden konnte. Ich hab nur auf den Knall gewartet. Aber geknallt hat es nie. Es ist einfach so alles zerbröselt. Wahrscheinlich ist das eine unserer vielen Schwächen. Von uns Menschen, meine ich, dass wir immer denken: Bevor es vorbei ist, bekommen wir noch eine letzte Warnung, damit wir wissen: Jetzt ist wirklich Schluss! Aber so ist die Welt nicht. Da muss man nur der Natur zusehen. Riesen-Bambus zum Beispiel. Der kann 70 Zentimeter am Tag wachsen. Aber SEHEN kannst du es trotzdem nicht.
Ich glaube, als ich geboren wurde, war bei uns noch alles ganz fein. Also in Europa, Deutschland. Vielleicht noch USA. Alle hatten Essen, 50 Fernsehkanäle, jeden Tag fünf heiße Duschen, wenn man wollte. Die Leute lagen an Schwimmbecken und tranken ständig irgendwelche tollen Getränke, solche mit Obst am Glas und Schirmchen, die nach irgendwas schmeckten, oder aßen ein Eis.
Im Rest der Welt war’s da schon nicht so toll. Aber wenn ich meinen Geschichtslehrer richtig verstanden habe, dann war das eine ganze Weile so. Europa war okay für die meisten, Nordamerika im Großen und Ganzen auch. Der ganze Rest: großer Mist für quasi alle. Und jetzt ist halt großer Mist überall. Soweit ich das beurteilen kann jedenfalls. Denn die Wahrheit ist: Ich weiß nichts über den Rest der Welt. Ich weiß eigentlich nur, dass ich hier in diesem Haus sitze und keinen dran kriege an dieses blöde Funkgerät. Und meine Eltern sind seit drei Wochen verschwunden. Meine Mutter seit 21 Tagen und fünf Stunden, mein Vater seit 20 Tagen und 18 Stunden. Seitdem habe ich keinen lebenden Menschen mehr gesehen. Es könnte also auch sein, dass genau niemand mehr da ist. Gar niemand. Dass ich der letzte Mensch bin auf diesem verdammten Planeten. Und ich sitze hier in diesem Haus, gieße das Gemüse im Keller, kontrolliere die Belüftung, die Wasserfilter, die Sicherheitsschleusen und hoffe, dass alles gut geht.
Mein Vater sagt immer: Funk kommt von Geduld. Weil man stundenlang dasitzen muss und hören muss und was sagen muss und wieder hören und wieder Frequenz verstellen. Immer so weiter. Das dauert halt.
Theoretisch kann ich auch mit Leuten in Australien sprechen. Wenn denn da jemand ist, wenn er dieselbe Frequenz hätte wie ich und er oder sie mir antworten würde. Bisher hat noch keiner geantwortet. Immer nur Rauschen und Zirpen. Manchmal glaube ich, dass ich da eine Stimme höre, ganz weit weg, zwischen dem Zirpen, im Zirpen drin, fremde Sprachen, die mir etwas zuflüstern. Papa hat immer gesagt, das ist Unsinn. Das Zirpen sind atmosphärische Störgeräusche. Und, hat er gesagt, selbst wenn es Stimmen sind, ist es egal. Denn du verstehst sie nicht, Mariana. Du kannst nicht mit ihnen sprechen, also ist es nutzlos.
Ehrlich gesagt, ich finde es nicht egal. Wenn ich wüsste, dass in dem Zirpen Stimmen sind, dann wüsste ich, da ist jemand. Irgendwo. Ob die nun Kisuaheli sprechen oder Urdu – das wäre mir erst mal nicht so wichtig. So ist es aber nur die Stille, die mal kurz zuckt.
Internet war praktisch. Jedenfalls, als es noch richtig funktioniert hat. Als ich noch zur Schule gegangen bin, sind immer mehr Server-Farmen ausgefallen, die Stromspargesetze haben dem Internet auch geschadet, sagt Papa, aber sie haben dennoch nur beschleunigt, was kommen musste.
Mein Vater hat im Keller ein paar Server stehen. Da ist eine Menge drauf von dem, was mal das Internet war. Er hat immer gesagt, Mariana, das ist das Wichtigste. Das Wissen aufheben. Damit es weitergeht. Deshalb haben wir auch einen Kellerraum voller Bücher. Und einen voller Filme, Fotos, Zeitungen.
Vielleicht denkst du jetzt: komischer Typ, der Vater. Ich weiß nicht, kann sein. Meine Mutter sagt immer, total einen an der Klatsche, dein Vater. Und ein bisschen hat sie vielleicht auch recht. Mein Papa hat sich nie für das interessiert, was die anderen gut fanden. Aber deshalb bin ich überhaupt noch hier.
Er hat es kommen sehen. Er hat dieses Haus so gebaut, damit wir hier alles überleben können. Dass wir wie eine Insel sind, im verseuchten Meer.
Bis es aber so weit war, war ich nur die bekloppte Mariana mit dem noch bekloppteren Vater. Und als es so weit war, ist auch keiner mehr gekommen und hat gesagt: Sorry, Mariana. Dein Vater hatte ja doch recht. Und ach so: Tut uns leid, dass wir dich in die Kloschüssel gesteckt haben. Ach ja, wir hätten dich vielleicht auch mal zum Geburtstag einladen sollen. Und der Spitzname FETTI-Ana war natürlich auch nicht okay. Nee, hat leider keiner gesagt. War dann eben so. War dann eben vorbei. Recht haben hilft irgendwie auch nicht.
Und jetzt sitz ich hier und hangel mich von Fiepsen zu Fiepsen in diesem Monsterkasten. Bis nach Australien. Wow. Dabei wüsste ich eigentlich gern, ob hier in der Gegend noch jemand ist.
Papa hat gesagt, bei den meisten geht es schnell. Wenn das Wasser aus ist und sie rausgehen, sind sie erledigt. Da machen die Bakterien ganz schnell. Wir haben vor der Schleuse vier ABC-Anzüge hängen. Na ja, mittlerweile nur noch zwei.
Ja, in den ersten Monaten, nachdem uns Papa eingeschlossen hat, liefen dann immer mal solche an unserem Haus vorbei. »Weg von den Fenstern, sofort!«, hat Papa dann immer gesagt. Und dann sind wir für zwei Stunden in den Keller, haben einen Film geschaut oder so. Ich hab mich immer gefragt, was das soll. Ich meine, wir haben Panzerglas-Fenster, wir haben Stahlplatten in den Türen. Wir haben sogar ein Maschinengewehr auf dem Dach. Für alle Fälle. Wir haben die besten Luftfilter, die es auf der Welt gibt. Wir haben also gar nichts zu befürchten.
Einmal bin ich dann geblieben und hab nachgesehen, wer da ist. Und dann hab ich gewusst, warum mein Vater immer wollte, dass wir uns verstecken.
Es war eine Frau. Schon ziemlich angeschlagen. Die Haare fielen aus, und die Blasen hatten schon angefangen. Sie schleppte sich die Straße entlang. Hinter sich zog sie einen Bollerwagen. Fotoalben, eine Plane, ein paar Konserven. Sachen halt, die Menschen zu brauchen glauben. Und dann sah sie mich. Ich weiß noch, wie ihr Blick mich...
Erscheint lt. Verlag | 29.7.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
Schlagworte | Buch • Bücher • climate fiction • Coming-of-age • deutsche Fantasy • Dystopie • dystopie Bücher • Dystopie mit deutschem Setting • Fantasy Jugendbuch • Fridays For Future • Hoffnungsvolle Dystopie • Hopepunk • Jugendbuch • Jugendbuch ab 14 Jahren • Jugendbuch Dystopie • Jugendbuch für Mädchen • Jugendbuch Neuerscheinung 2021 • junge erwachsene bücher • Klima Dystopie • Klimakrise • Klimathriller • Klimawandel • München • near future thriller • Postapokalypse • Prepper • Umweltkatastrophe |
ISBN-10 | 3-492-99937-9 / 3492999379 |
ISBN-13 | 978-3-492-99937-3 / 9783492999373 |
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