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Das Jahr in der Box (eBook)

Ein faszinierendes Jugendbuch übers Erwachsenwerden - hautnah miterlebt, treffend erzählt
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-92676-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Jahr in der Box -  Michael Sieben
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Eine Geschichte über echte Freundschaft, krasses Mobbing, die erste Liebe und einen tragischen Tod - aufwühlend, berührend, fesselnd und ziemlich cool. Der Umzug muss sein, sagt Pauls Mutter. Aber Paul will nicht. Nicht packen. Nicht raus aus Opas alter Villa. Und vor allem nicht in die Box schauen, diese Schatulle voller Erinnerungen. Denn was er dort versteckt hat - die Superhelden-Story, die blöden Kondome, das Messer und mehr -, bringt nur das letzte Jahr zurück. Das harte Jahr, in dem so viel passiert ist. Ken, Mehmet, Mara. Die durchgeknallten Aktionen, das Mobbing und ... das völlig Unfassbare. Aber Wegsehen hilft nicht. Paul muss sich der Erinnerung stellen, Stück für Stück.   Kopfüber in dieses ganze verdammte Drama des Erwachsenwerdens: Der neue Roman von »Ponderosa«-Autor Michael Sieben - lässig erzählt und grandios konstruiert.

Michael Sieben, geboren 1977, studierte Wirtschaftswissenschaften in Mainz, Köln und Paris und lebt in Berlin. 2011 war er einer der Open-Mike-Finalisten. Für sein Debüt »Ponderosa« erhielt er u.a. das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium.

Michael Sieben, geboren 1977, studierte Wirtschaftswissenschaften in Mainz, Köln und Paris und lebt in Berlin. 2011 war er einer der Open-Mike-Finalisten. Für sein Debüt »Ponderosa« erhielt er u.a. das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium.

Heute

Die Box ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton. Sie ist aus Holz (irgendwas Edles, Mahagoni oder so), hat einen aufklappbaren Deckel und zwei Bügelgriffe an den Seiten. Theoretisch kannst du sie zuschließen, aber der Schlüssel ist bei unserem letzten Umzug verloren gegangen. Wenn ich sie aufmache, bleibt mir bestimmt wieder die Luft weg. Das ist jedes Mal wie ein Tritt in die Magengrube. Glaubt mir, seit ich in Wicker wohne, weiß ich, wie sich so was anfühlt.

Bille hat mir die Box vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt. Zuerst dachte ich, sie hat Geld oder einen Gutschein drin versteckt. Weil, welche Mutter kauft ihrem Sohn eine Holzschatulle zum Fünfzehnten? Aber da war nichts. Kein doppelter Boden, kein Geheimfach, nichts. Unser Gespräch ging ungefähr so:

Ich: Was soll ich mit dem Ding?

Bille: Da kannste Sachen reintun.

Ich: Danke. Auf die Idee wäre ich nie gekommen.

Bille: Das hab ich mir gedacht.

Der Silbereisen hat gemotzt, ich soll nicht so undankbar sein, das Teil wäre teuer gewesen. Die meiste Zeit hat mich der Silber­eisen ignoriert, aber ab und zu musste er einen auf Stiefvater machen, der Idiot. Ich konnte es kaum erwarten, dass Bille ihn abschießt. Es hat länger gedauert, als ich gedacht hatte, aber
auf Billes Beziehungsunfähigkeit ist Verlass. Seit der Trennung von meinem Vater hat sie es nie lange mit einem Typen ausgehalten.

– Bist du so weit?, ruft sie die Treppe hoch.

– Nein.

– Wenn der Van voll ist, machen wir uns mit der ersten Fuhre auf den Weg.

– Okay.

Draußen auf der Treppe brüllen sich die Umzugshelfer Anweisungen zu, höher, höher, noch ein Stück, stopp, die Decke, stopp! Irgendwas stößt krachend gegen die Wand, einer der Männer flucht. Mein Zimmer ist schon halb leer. Der Schreibtisch und die Couch sind weg, das Bett steht abgebaut vor dem Fenster.

Ich sitze mit der Box im Schoß auf dem Boden und traue mich nicht, sie zu öffnen. Weiß nicht, wie lange schon. Zehn Minuten bestimmt. Am liebsten hätte ich sie im Schrank gelassen, ganz hinten, bei den aussortierten T-Shirts, aber wir ziehen ja mal wieder um. Zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren. Nachdem Bille den Silbereisen abserviert hat, sind wir in einen Plattenbau in Berlin-Lichtenberg gezogen, dann hierher in Opas Haus, nach Wicker im Wickerland. Und jetzt, knapp dreizehn Monate später, der nächste Umzug, zwei Straßen weiter ins Neubaugebiet. Ich habe versucht, Bille davon abzubringen, aber keine Chance. Wenn die sich was in ihren Kopf gesetzt hat, ist nichts zu machen.

Ich meine, Bille hat echt einen Knall. Was Besseres als Opas Haus kannst du dir nicht ausdenken: Es ist so groß, dass jeder von uns eine eigene Etage hat, ich die erste, Bille die zweite. Dann der Hobbykeller, das ist ein richtiger Bunker, in dem kannst du die Musik bis zum Anschlag aufdrehen, ohne dass die Nachbarn was hören. Vom Balkon hast du einen Blick über die halbe Innenstadt, du kannst den Wickerwald sehen und die beiden Türme der Theine-Brauerei. Außerdem gibt es einen monstergroßen Garten hinterm Haus, in dem alles kreuz und quer wächst wie im Dschungel, weil sich seit Opas Tod niemand mehr drum gekümmert hat. »Villa Stelter«, sagt Ken immer. Mir gefällt der Name, auch wenn er als Witz gedacht war. In Wicker wohnt fast jeder in einem Haus mit Garten, deshalb kapieren die meisten Leute nicht, dass das eigentlich ein mega Luxus ist.

Bille findet jedenfalls, dass die »Villa« zu groß ist für zwei Personen und zu marode. Man müsste das Haus von Grund auf sanieren und dazu hat Bille weder Geld noch Lust. Die will in einen Neubau, wo die Fenster ordentlich isoliert sind, wo die Dielen nicht knarzen und die Türen schließen, ohne zu quietschen. Was richtig schön Spießiges halt.

– Wir fahren los, ruft sie. – Sind in ein bis zwei Stunden wieder da. In der Küche sind belegte Brote und Croissants.

– Okay.

Unten im Flur rumpelt es. Aus dem Pfirsichbaum vor meinem Fenster flattert eine Krähe auf und verschwindet in Palinkas’ Garten. Bevor wir hergezogen sind, wusste ich nicht, dass in Deutschland Pfirsiche wachsen. Ich dachte, die kommen aus Italien oder Spanien oder so. Jedenfalls kannst du im Sommer von meinem Fenster aus Pfirsiche pflücken. Da, wo wir hinziehen, gibt es keinen Garten und keinen Pfirsichbaum, nur einen hundebeschissenen Grünstreifen hinterm Haus. Und vorne Hecken. Diese dunkelgrünen stacheligen, die sogar im Sommer trostlos aussehen.

Manchmal versuche ich mir einzureden, dass ein weiterer Neustart vielleicht gar nicht schlecht ist, nach allem, was letztes Jahr passiert ist. Für einen richtigen Cut müssten wir allerdings raus aus Wicker, in eine andere Stadt, in der nicht hinter jeder zweiten Ecke fiese Erinnerungen lauern, am besten in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent. Ein Umzug ins Neubaugebiet wird kaum helfen.

Silbereisen hat mir gestern eine Mail geschickt. Ich solle mich wegen des Umzugs nicht grämen. Ja, er hat ohne Scheiß grämen geschrieben. So was kann doch kein Mensch ernst nehmen. Ich meine, grämen, das klingt wie aus dem vorvorletzten Jahrhundert. Aber egal, ich solle mich also nicht grämen, es gäbe Schlimmeres auf der Welt. Gut, dass er mir das schreibt, sonst hätte ich es nicht begriffen. Mal ehrlich, wie kann man so bescheuert sein? Silbereisen weiß doch, was passiert ist, Bille und er telefonieren seit Neustem ja wieder regelmäßig. Und trotzdem glaubt er mir sagen zu müssen, es gäbe Schlimmeres als den Umzug. Der hat sich doch nur gemeldet, weil er sich wieder Hoffnungen bei Bille macht und deswegen mit mir Frieden schließen will. Aber da wird nichts draus, Kollege. Silbereisen oder ich, das weiß Bille ganz genau.

Eigentlich müsste ich den Schrank ausräumen, damit sie ihn nachher runtertragen können, Bille hat den Van nur für einen Tag gemietet. Die meisten Klamotten habe ich schon raus, aber als ich auf die Box gestoßen bin, war erst mal Schluss mit dem Aktionismus. Seitdem sitze ich hier und fühle mich, als hätte ich einen Behälter waffenfähiges Plutonium in den Händen. Pack das Ding weg und mach weiter, du musst fertig sein, wenn Bille zurückkommt, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Die Stimme kann mich mal. Irgendwann muss ich reinschauen, da komme ich nicht drum rum. Das bin ich Marko schuldig.

Ich gebe mir einen Ruck und mache den Deckel auf. Diesmal ist es weniger ein Tritt in den Magen als das Gefühl, jemand würde mich von hinten umklammern und so fest zudrücken, dass mir schwindelig wird. Ich klappe den Deckel wieder runter und atme tief ein. Jesus, das war eine Scheißidee.

Ich stelle die Box zur Seite und stehe auf. Am besten lasse ich sie in einer der großen Umzugskisten verschwinden. In den Kartons mit den Büchern ist noch viel Platz. Bücherkisten darfst du allerdings nie ganz vollpacken, sonst werden sie zu schwer zum Tragen und am Ende reißt der Boden. Also in die Kleiderkiste? Oder einfach auf den Müll damit? Warum eigentlich nicht, ist ja nichts Wertvolles drin, außer … mir wird schon wieder schwindelig, wenn ich daran denke.

Um mich abzulenken, nehme ich ein Buch aus einer der Kisten und blättere darin herum. »111 Gründe, Vegetarier zu sein«. Das hat Bille vorhin auch schon in der Hand gehabt, als wir das Bücherregal ausgeräumt haben. »Das ist eine Laune, das geht vorbei«, habe ich gesagt und sie hat sich halb totgelacht. Der Satz ist ein Running Gag zwischen uns. »Das ist eine Laune, das geht vorbei« war Tante Miriams Antwort gewesen, als Bille ihr erzählt hatte, dass ich kein Fleisch mehr esse. Das hat mich damals megagenervt. Ich war gerade vierzehn geworden und wollte ernst genommen werden und nichts von Launen hören, die vorbeigehen wie Fieber oder Zahnschmerzen. Eine Woche lang habe ich nicht mit Bille geredet, weil sie Tante Miriam nicht widersprochen hat. Allein schon um es den beiden zu zeigen, habe ich seitdem kein Gramm Wurst oder Fleisch oder Fisch gegessen, höchstens mal eine Fliege beim Fahrradfahren verschluckt, und da kann ich jetzt echt nichts für.

– Wir sind jetzt we-heg!

O-kay-hay.

Bille muss sich immer dreimal verabschieden, bevor sie geht. Die Absätze ihrer Cowboystiefel poltern über die Dielen, die Tür fällt ins Schloss und auf einmal ist Ruhe im Gebälk. Kein Möbelgerücke mehr, keine fluchenden Umzugshelfer. Beinahe lautlos landet die Krähe wieder im Pfirsichbaum.

Ich kann nicht anders, als mich wieder vor die Box zu setzen. Mein Psycho-Doc hat mal gesagt, ich soll die Erinnerungen, die mich überfallen, in eine ausgedachte Kiste packen, sie zuschnüren und wegstellen. Ich soll der Bestimmer sein, ich soll entscheiden, wann ich die Kiste wieder hervorhole und aufmache. Yo, habe ich gedacht, nette Idee, aber ganz so easy ist das nicht, meine Gedanken lassen sich nicht einfach einfangen und wegsperren, die kommen und gehen wie sie wollen. Ich habe es dann einfach mit einer echten Box probiert, nämlich mit Billes Geburtstagsgeschenk. Ich habe alle Sachen reingetan, die mich auch nur entfernt an Marko erinnern, und es hat tatsächlich geholfen. Das war im November, also vor neun Monaten, und seitdem habe ich nicht mehr reingeschaut. Zwei, drei Mal habe ich es probiert, bin aber nie viel weiter gekommen als gerade eben.

Heute ist etwas anders. Heute lässt mich die Box irgendwie nicht los. Also gut. Genug davongelaufen, Paul Stelter. Nächster Versuch: 321. Ich kneife die Augen zusammen und öffne...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2020
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Kinder- / Jugendbuch Sachbücher
Schlagworte Ärger Schule • Bücher für Jungs • Coming-of -Age • coole Jungs • Die Mitte der Welt • Erinnerungen • Erinnerungskapsel • Erste Liebe • Erwachsenwerden • Familie • Fotos • Freundschaft • Gefährliche Freunde • Geheimnis • Graffiti • Jugendbuch • Jugendbücher für Jungen • Jugendbuch Gewalt • Jugendbuch Mobbing • Jugendbuch schwieriges Thema • Jugendbuch Selbstwertgefühl • Jugendbuch Teenageralter • Kranichsteiner Jugendbuch-Stipendium • Liebe • Messer • Mobbing • Open Mike • ponderosa • Ruine • Tod • tschick • Umzug
ISBN-10 3-646-92676-7 / 3646926767
ISBN-13 978-3-646-92676-7 / 9783646926767
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