Ein finsterheller Tag (eBook)
240 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-5138-1 (ISBN)
David Almond ist einer der bedeutendsten britischen Gegenwartsautoren für Kinder- und Jugendliteratur und vielfach preisgekrönt. Er wurde unter anderem mit der Carnegie Medal (1998), dem Hans Christian Andersen-Preis (2010) und dem Guardian Children's Fiction Prize (2015) ausgezeichnet.
David Almond ist einer der bedeutendsten britischen Gegenwartsautoren für Kinder- und Jugendliteratur und vielfach preisgekrönt. Er wurde unter anderem mit der Carnegie Medal (1998), dem Hans Christian Andersen-Preis (2010) und dem Guardian Children's Fiction Prize (2015) ausgezeichnet. Alexandra Ernst , geboren 1965, studierte Literaturwissenschaft und war als Presse- und Werbeleiterin in einem Verlag tätig. Seit 2000 arbeitet sie als Journalistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin von historischen Romanen, Fantasy und Jugendliteratur. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Alexandra Ernst lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Mainz.
»Er liegt im Schutt«, sagt Gosh. »Wo das alte Gemeindezentrum abgerissen wird.«
Er schaut Davie in die Augen, als ob er darauf warten würde, dass Davie etwas sagt, aber Davie weiß nicht, was er sagen soll.
»Bist du sicher, dass er tot ist?«, fragt er schließlich.
»Aye. Ich hab das Messer gesehen.«
»Das Messer?«
»Aye. Das, mit dem er umgebracht wurde. Da war Blut und alles, Davie.«
Davie versucht es mit Fluchen, weil er denkt, dass man so etwas in einer solchen Situation tun muss.
»Wer ist es?«, will Davie wissen.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Gosh. »Ich hab die Leiche gesehen und fast einen Herzanfall gekriegt. Ich hab mich nicht getraut, näher ranzugehen. Aber ich glaube, es ist Jimmy Killen.«
»Häh? Wieso Jimmy Killen?«
»Der Tote hatte dieselben knallengen Jeans an wie Jimmy Killen. Und das grünkarierte Levis-Hemd.«
Davie versucht wieder zu fluchen.
»Jimmy Killen«, flüsterte er.
»Aye. Und wenn es wirklich Jimmy Killen ist, dann ist der Mörder bestimmt Zorro Craig.«
Gosh nickt und grinst und macht große Augen.
»Aye«, fährt er fort. »Zorro Craig. Das ist doch offensichtlich, nicht wahr? Wer soll es sonst gewesen sein? So musste das Ganze ja enden.«
»Musste es?«
»Aye. Du weißt doch, wie sie waren. Du weißt doch, dass sie sich gehasst haben, wie alle Craigs die Killens hassen und alle Killens die Craigs.«
»Ich dachte, das wäre längst vorbei.«
»Vielleicht isses nicht so einfach. Und die beiden waren doch die schlimmsten von allen, richtig? Wie die Tiere.«
Gosh hat recht mit den Killens und den Craigs. Das geht schon seit Jahren so, seit Davies Dad ein kleiner Junge war. Sein Dad hat das nie verstanden. Davie versteht es auch nicht. Wie kommt es, dass sich zwei Familien derartig in so etwas reinsteigern? Haben Sie es nicht allmählich satt, sich gegenseitig zu hassen? Aber konnte es wirklich dazu kommen? Ein Mord? Ist Zorro Craig wirklich ein Mörder? Klar, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber das?
»Also«, sagt Gosh, »ich renne zur Polizei und erzähl’s dem Wachtmeister dort. Er fragt, ob ich mir sicher bin und mir die Sache nicht bloß eingebildet habe. Als ob er denkt, dass so was hier gar nicht passieren kann, oder vielleicht auch, dass Gosh Todd alles erzählen würde, um die Leute an einem verschlafenen, sonnigen Morgen aufzuscheuchen. Aber trotzdem weiß er, dass er nachgucken muss, besonders, wenn es womöglich um die Craigs und die Killens geht. Also kommt er mit. Tja, und dann schickt er nach dem Arzt und dem Priester. Sie haben mir eingeschärft, dass ich niemand was sagen darf, aber jetzt hab ich’s dir gesagt. Willst du mitkommen und gucken?«
Davie zögert.
»Mach schon, Mann«, sagt Gosh. »Das ist erst eine halbe Stunde her. Vielleicht isser immer noch da.«
Davie zögert. Wie es wohl ist, einen Toten zu sehen? Noch dazu einen Toten, der ermordet wurde? Zorro Craig? Jeder weiß, dass er ein Monster ist. Aber würde er auch töten?
»Mach schon, Mann«, sagt Gosh. »So eine Chance kriegt man nicht jeden Tag.«
Gosh betrachtet seine Buntstifte und den Zeichenblock.
»Und du musst zugeben, dass das ein bisschen interessanter ist, als Bildchen zu malen.«
Davie zuckt mit den Schultern. Er muss hingehen, er muss hingucken. Er steckt die Stifte und den Block in den Rucksack, den er sich über die Schulter wirft, und dann marschieren sie los.
Natürlich haben mittlerweile eine Menge Leute mitbekommen, dass da unten etwas los ist. Als sie den Platz überqueren und die High Street entlanggehen, sind viele Menschen in die gleiche Richtung unterwegs. Sie machen ratlose Gesichter und flüstern und zucken mit den Schultern.
Mrs Keen, eine Nachbarin von Davie aus Nummer 6, die früher Lehrerin war, hält ihn fest, als er und Gosh an ihr vorbeilaufen wollen.
»Was ist passiert, Davie?«, fragt sie mit zitternder Stimme.
Gosh stößt Davie mit dem Ellbogen an, damit er weiß, dass er nichts verraten darf.
»Ich weiß nicht«, antwortet Davie. »Vielleicht gar nix.«
Sie schnalzt mit der Zunge.
»Sag nicht nix, Davie«, sagt sie. »Das klingt so grob. Es heißt nichts.«
»Tut mir leid, Mrs Keen«, sagt Davie. »Ich weiß.«
Sie gehen weiter.
Das alte Gemeindezentrum befindet sich hinter der Kirche. Seit etwa einem Monat wird es abgerissen. Zum Glück, denkt Davie. Hier hat er einige der langweiligsten Momente seines Lebens verbracht. Gebetsstunden, Kirchenlieder singen und das Gerede über Leib und Seele, und ob es eine Sünde ist, an Mädchen zu denken. Unglückliche, langweilige Typen in Schwarz erzählen Kindern, sie sollen ihre Seelen zum Herrgott erheben und sich von den Abgründen fernhalten, die geradewegs in die Hölle führen. Gott, wie er diesen ganzen Kram hasst. Weg damit. Reißt alles nieder.
Auf der High Street stehen ein Löschfahrzeug und ein paar Streifenwagen. Hinter dem Tor zum Gemeindezentrum hat ein Krankenwagen geparkt. Neben dem Tor steht ein bulliger Polizist, PC Poole, der die Leute anweist, zurückzubleiben. Die Leute unterhalten sich leise. Niemand weiß irgendetwas Genaues, aber etwas muss durchgedrungen sein, denn sie flüstern über Tod und Mord und Blut. Davie sieht ein paar Jugendliche, die er kennt. Shona Doonan ist dabei, sie trägt ein knallrotes Kleid. Die Doonans sind eine Familie von Sängern und Musikern. Sie haben nach der Beerdigung ein paar der Lieblingslieder von Davies Dad im Columba Club gesungen. Waters of Tyne, Felton Lonnen und Bonny at Morn. Vielleicht war sie es, die vorhin gesungen hat. Sie winkt ihm zu.
Schüchtern winkt er zurück. Er schaut zur Kirche gleich nebenan. Er blinzelt und sieht, wie der Sarg seines Dads hineingetragen wird. Er sieht, wie man ihn herausbringt. Er sieht den Leichenwagen und die ganzen schwarzgekleideten Trauergäste. Er sieht sich selbst, wie er den Arm seiner Mam hält. Er sieht sie, wie sie ihn hält.
»Mach schon, Davie.«
Gosh packt Davie am Arm. Er zieht ihn durch die Schaulustigen zu PC Poole, der die Hand hebt, als würde er den Verkehr regeln. Gosh duckt sich unter der ausgestreckten Hand hindurch, stellt sich auf die Zehenspitzen und flüstert dem Polizisten etwas zu, wie er vorhin Davie zugeflüstert hat.
»Ich bin der, der die Leiche gefunden hat«, sagt er.
Poole verengt die Augen.
»Ich bin der, der die Polizei geholt hat«, sagt Gosh. »Es ist Jimmy Killen, nicht wahr?«
Poole sagt nix. Es kommen immer mehr Leute. Sie drängen sich am Tor.
Der Polizist wird sauer.
»Immer langsam!«, fährt er die Leute an.
»Ich hab recht, nicht wahr?«, sagt Gosh.
Davie und Gosh blicken an dem Polizisten vorbei. Gosh informiert Davie, dass der Krankenwagen die Stelle verdeckt, wo der Tote liegt. Davie lehnt sich zur Seite und versucht, an dem Krankenwagen vorbeizublicken, aber es gelingt ihm nicht. Alles, was er sieht, ist Schutt. Keine Leiche.
»Ich glaube, ich weiß, wer’s getan hat«, sagt Gosh.
Wieder macht Poole schmale Augen.
»Was getan?«, fragt er.
»Den Mord begangen«, sagt Gosh. »Es war doch Mord, oder nicht?«
Poole sagt nix.
»Ganz bestimmt«, sagt Gosh. »Und ich weiß, wer’s war. Mein Kumpel hier weiß es auch.«
Poole schaut Davie an. Davie merkt, wie er rot wird.
»Aye«, sagt Gosh. »Also sollten Sie uns vielleicht durchlassen, damit wir ein Wörtchen mit dem Wachtmeister reden können.«
Poole wirkt unsicher.
»Zurückbleiben, wenn ich bitten darf!«, sagt er zu den Schaulustigen. »Zeigen Sie gefälligst etwas Respekt.«
»Sie sollten uns wirklich durchlassen«, wiederholt Gosh. »Der Mörder könnte schon meilenweit weg sein.«
»Jede Minute zählt«, sagt Davie.
Er hält den Atem an. Er hat eigentlich gar nichts sagen wollen, aber jetzt ist er sehr zufrieden mit sich.
Gosh ebenfalls.
»Was Davie sagt, stimmt«, sagt er.
»Was, wenn er bereits sein nächstes Opfer ins Visier genommen hat?«, sagt Davie.
»Was, wenn er bereits wieder gemordet hat?«, sagt Gosh.
Der Polizist schaut hinter sich, wo unsichtbar der Wachtmeister steht.
»Okay«, sagt er zu den beiden Jungs. »Geht durch.«
Sie umrunden den Krankenwagen. Am Steuer sitzt der Fahrer mit der Zeitung vor sich und raucht eine Zigarette, ganz ruhig, als ob hier jeden Tag ein Mord geschieht. Neben ihm sitzt eine Frau, wahrscheinlich eine Krankenschwester. Hinter dem Krankenwagen steht der Wachtmeister, der alte Dr. Drummond und der verrückte Vater Noone. Jetzt kann Davie einen Großteil der Leiche sehen: Beine in Jeans, spitze schwarze Schuhe, ein grünkariertes Levis-Hemd. Darin hat Davie Jimmy herumlaufen sehen. Er hätte gerne auch so eins. Er fragt sich, was mit dem Hemd passieren wird, jetzt, wo Jimmy tot ist. Es ist ein Blutfleck drauf, Knallrot auf Grün. Davie überlegt, ob man den Fleck wieder herausbekommt. Der Priester kniet neben dem Toten. Er wiegt sich beim Beten vor und zurück, und zwischen den Bewegungen kann Davie das Gesicht der Leiche sehen. Ja, es ist Jimmy Killen. Der Priester hat ein kleines Kruzifix in der Hand, das er auf Jimmys Stirn drückt. Dabei murmelt er leise und sanft ein paar Worte.
Davie starrt. Er hat noch nie einen Toten gesehen. Seine Mam hatte gesagt, er könnte in die Kapelle gehen, um seinen Dad ein letztes Mal zu sehen, aber er konnte es nicht. Jimmy sieht tot genauso aus wie lebendig, Davie kann keinen großen Unterschied...
Erscheint lt. Verlag | 28.4.2021 |
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Übersetzer | Alexandra Ernst |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Abschied von der Kindheit • book award • Carnegie Medal • Coming of Age • England • Erwachsenwerden • Freundschaft • Geister • Jenseits • Jugendbuch ab 12 • Kleinstadt • Mord • Mörder • Preisgekrönter Autor • Preisträger • Sommer • Tod • Trauer • Trauerbewältigung |
ISBN-10 | 3-7336-5138-3 / 3733651383 |
ISBN-13 | 978-3-7336-5138-1 / 9783733651381 |
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