Cainstorm Island - Der Gejagte (eBook)
336 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43542-0 (ISBN)
Marie Golien, 1987 in Wiesbaden geboren, wollte schon immer ihre eigenen Geschichten erzählen, nachdem sie ihre Kindheit in den fantastischen Welten von Hergé und Winsor McCay verbracht hatte. Nach dem Abitur studierte sie Design mit dem Schwerpunkt interaktiven Medien, entwickelte Spiele-Apps und begann parallel zu schreiben. >Cainstorm Island - Der Gejagte< ist ihr Debüt als Romanautorin, für das sie gleich mehrfach nominiert und ausgezeichnet wurde, u.a. für den Paul-Maar-Preis für junge Talente und mit der Goldenen Leslie 2020. Mit dem zweiten Band >Cainstorm Island - Der Gefangene< findet der rasante Actionthriller nun seinen Abschluss.
Marie Golien, 1987 in Wiesbaden geboren, wollte schon immer ihre eigenen Geschichten erzählen, nachdem sie ihre Kindheit in den fantastischen Welten von Hergé und Winsor McCay verbracht hatte. Nach dem Abitur studierte sie Design mit dem Schwerpunkt interaktiven Medien, entwickelte Spiele-Apps und begann parallel zu schreiben. ›Cainstorm Island – Der Gejagte‹ ist ihr Debüt als Romanautorin, für das sie gleich mehrfach nominiert und ausgezeichnet wurde, u.a. für den Paul-Maar-Preis für junge Talente und mit der Goldenen Leslie 2020. Mit dem zweiten Band ›Cainstorm Island – Der Gefangene‹ findet der rasante Actionthriller nun seinen Abschluss.
1
Ich hocke mich vor das schiefe Holzkreuz mit den vertrockneten Blumen. Das Kreuz steht noch keine zwei Tage hier und ich fühle mich einen Moment unwohl bei dem Gedanken, diese tragische Geschichte auszuschlachten. Andererseits, der Eisverkäufer ist tot, oder nicht? Was kümmert es ihn? Also lasse ich meine Augen über die roten Flecken wandern, die sich wie Rost über den Boden ziehen. Jemand hat versucht, das Blut zu entfernen, und es dabei nur noch weiter verwischt, bevor die Sonne es in den Asphalt gebrannt hat. Ich hebe den Blick. Lasse ihn über die Hauswand schweifen.
»Seht ihr die riesigen Löcher? Sie haben ihn aus der Nähe erschossen!«
Eine Frau, die schräg neben mir hockt, schaut hoch und mustert mich neugierig. »Mit wem redest du, Junge?«
Ich hatte gehofft, dass sie mich nicht beachtet. Aber es ist auch nicht meine Schuld, dass sie sich ihren Sitzplatz genau dort ausgesucht hat, wo der Mord passiert ist. Ich ignoriere sie. Leuchtend gelbe Neonschnürsenkel halten das Kreuz zusammen, fest verknotet. Ich lese laut: »Fernando! Wir treffen uns wieder! Ruhe in Frieden!«
Wenn man genau hinschaut, sind auf dem grellen Neon kleine braune Punkte zu erkennen. Meine Zuschauer mögen diese Details. Ich lasse meinen Blick wieder zur Wand schweifen. Eine aufgesprühte schwarze Schlange starrt auf mich herab. Aufgerissenes Maul und nadelspitze Zähne. Böses, leicht irres Funkeln in den Augen und bereit, sich auf mich herabzustürzen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, obwohl die Schlange nur ein Graffiti ist. Möglichst verschwörerisch flüstere ich: »Wenn ›Las Culebras‹ jemanden hinrichten, sprühen sie diese Kobra über den Toten. Es ist eine Warnung an uns andere.«
Die Frau bohrt mit einem Stöckchen in den Löchern ihrer Schuhsohle und betrachtet mich belustigt. »Sind hier Leute, die ich nicht sehe, Sherlock?«
Sie sitzt auf einem ausgefransten Tuch, auf dem sie Elektroschrott zum Verkauf aufgehäuft hat. Zerbrochene Monitore, eine vergilbte Tastatur und PCs, aus denen sich Kabel winden. Daneben dösen ein paar Straßenhunde im Schatten und ein Kind mit Bauchladen läuft die flimmernde Straße herunter. Niemand ist in unserer Nähe. Die bleierne Nachmittagshitze hat die Stadt erobert und die meisten Leute in ihre Wohnungen getrieben. Rein äußerlich ist an mir nichts Seltsames zu sehen und ich werde ihr auf keinen Fall von denen erzählen, die gerade zuschauen und zuhören. Sie soll mich ruhig für durchgeknallt halten. Stimmen im Kopf. Ein Fall für die Psychiatrie. Außerdem habe ich keine Zeit für Erklärungen.
Ich zucke mit den Schultern: »Manchmal denke ich laut.«
Meine Zuschauer interessieren sich nicht für die Frau, die ihre Augenbrauen jetzt in einer ›Ich glaube dir kein Wort‹- Manier nach oben zieht. »Wer war der Tote? Warum wurde er erschossen?«, wollen sie wissen. Mord und Totschlag ziehen bei ihnen immer. Inzwischen kenne ich sie gut. Für ein paar blutige Geschichten an einem langweiligen Donnerstagnachmittag sind sie immer zu haben. Echtes Drama aus sicherer Entfernung.
Herzchen und Inschriften sind um das Kreuz auf den befleckten Boden gekritzelt. Mit geübter Langsamkeit lasse ich meinen Blick darübergleiten. Ich habe bei dem ermordeten Typen ein paarmal Eis gekauft. Wasser mit Farbstoff. Netter Kerl, aber high wie ein Astronaut, mit Pupillen groß wie Münzen. Ich kann mir denken, wie die Sache mit Las Culebras abgelaufen ist: Schulden, Versprechungen, Sucht, Drohungen und schließlich ein elender Tod neben seinem Eisstand. Aber das ist eine zu langweilige Geschichte.
»Er hieß Fernando und war in ein Mädchen verliebt, das Mitglied bei Las Culebras war«, erfinde ich.
Die Frau an der Mauer zieht die Augenbrauen so hoch, dass sie fast ihren Haaransatz berühren. »Echt jetzt?«, fragt sie skeptisch.
»Es war ein Geheimnis. Niemand wusste davon.«
Ich gebe ihr keine Zeit, auf meine Lügen zu reagieren, sondern überquere die schmale Straße und beginne, mich an einer stabil aussehenden Regenrinne nach oben zu hangeln, während ich die Geschichte weiterspinne: »… Fernando war in einer anderen Gang und die Schlangen konnten natürlich nicht akzeptieren, dass er mit einer von ihnen zusammen ist. Also haben sie ihn hier in einen Hinterhalt gelockt und erschossen. Als seine Freundin davon hörte, ist sie ausgerastet. Sie hat alle Waffen in ihr Auto gepackt, die sie finden konnte. Ein Maschinengewehr, Messer. Sogar Handgranaten. Damit ist sie zum Hauptquartier von Las Culebras gefahren und hat so viele Schlangen erschossen, wie sie konnte. Ihre eigenen Leute! Danach hat sie sich ins Meer gestürzt.«
»OMG. Traurig und romantisch. Wie im Film«, schreibt einer der User. Andere schicken ganze Brigaden weinender Katzen-Emojis.
Zufrieden stelle ich fest, dass sie meine Story gekauft haben. Ich ziehe mich aufs Dach und wische mir den Schweiß von der Stirn. Dann schaue ich nach unten und sehe in das schockierte Gesicht der Frau, die zwischen ihrem Elektroschrott sitzt. Dass die Verrückten Regenrinnen hochklettern, scheint ihr neu zu sein.
Meine Zuschauer kommentieren hämisch: »Jetzt musst du dir nur noch Flügel wachsen lassen, dann fallen ihr die Augen aus dem Kopf.«
Ich beginne zu rennen. Die Wellblechplatten unter meinen Füßen biegen sich und federn mit einem scharfen Surren zurück. Der Rand des Daches kommt auf mich zu. Der Abgrund ist breiter, als ich ihn in Erinnerung habe, und ich erhöhe mein Tempo. Mit aller Kraft stoße ich mich ab und springe. Unter mir verschwimmen spielende Kinder zu bunten Punkten. Ich erwische die Regenrinne des Nachbarhauses mit den Händen und knalle mit den Turnschuhen unerwartet heftig gegen die Wand. Die Rinne ächzt empört, als hätte ich sie aus ihrem Mittagsschlaf gerissen, und ihre Kante schneidet unangenehm in meine Finger. Ich bete, dass sie mein Gewicht hält.
Entsetzte Emojis mit weit aufgerissenen Augen und Mündern flimmern vor meinem inneren Auge. »Oh nein, fall nicht! Gleich bist du Matsch!« Dahinter weitere Bildchen von Totenköpfen und etwas, das aussieht wie eine zerplatzende Qualle.
Mit zusammengebissenen Zähnen ziehe ich mich nach oben und rolle mich ab.
»Keine Angst, das Krankenhaus steht heute nicht auf meiner To-do-Liste!«
Neben Storys von Morden lieben meine Zuschauer die Gefahr. Zumindest, wenn ich sie erlebe und sie durch meine Augen dabei zuschauen dürfen. Das Klettern und Springen ist mein zweites Talent, neben dem Geschichtenerfinden. Lügen ist sicher nicht meine beste Eigenschaft, aber wenn man zwischen Dieben, Mördern und Gestalten, die nur nachts aus ihren Löchern kriechen, aufwächst, ist es manchmal der einzige Weg, um zu überleben. Solange man sich merkt, welche Lüge man wem erzählt hat. Geklettert bin ich schon seit meiner Kindheit. Ich liebe es, die steilsten Hauswände zu erklimmen oder von Dach zu Dach zu springen. Hauptsache Adrenalin. Und wenn ich dafür auch noch Geld bekomme, umso besser.
Eine struppige Katze hat in der Sonne geschlafen. Von meinem Lärm aufgeschreckt, verschwindet sie mit einem bösen Fauchen. Die hohen Häuser über mir werfen ihre Schatten über den schmalen Hinterhof.
»Okay! Seid ihr bereit für was richtig Gefährliches?«
»Jap, jap!« Lachende Katzen mit Popcorn in den Händen. »Wir sind bereit!«
Aus der Ferne höre ich schrille, sirenenartige Warnsignale, die durch die engen Straßen und Häuserwände tausendfach zurückgeworfen werden. Der Boden vibriert unter meinen Füßen.
»Dann macht euch auf die unglaublichste, gefährlichste und atemberaubendste Bahnfahrt aller Zeiten gefasst!«
Ich steige über aufgeplatzte Müllsäcke. Der Hinterhof ist heruntergekommen. Schwarze Schatten huschen davon.
»Iiiiih! Ratten?«, lese ich.
»Ja, überall! Es gibt so viele, man kann nicht mal eine rauchen, ohne dass eine von denen vorbeikommt und einen Zug will. Aber noch schlimmer ist der Geruch! Seid froh, dass ihr nichts riechen könnt.« Ich ziehe mir den Pulli über die Nase und erkläre: »Es gibt hier keine Müllabfuhr. Entweder die Leute bringen ihren Müll selbst weg oder er bleibt in den Höfen und auf den Dächern liegen und verfault.«
»Was ist denn das da in der Ecke? Bitte schau da noch mal hin!!«, schreibt jemand.
Ich drehe mich um und sehe zwei zusammengekrümmte Gestalten auf grauen Pappen liegen. Der Stoff ihrer Decken ist so fleckig und verschlissen wie der Boden. Koffer, umwickelt mit Seilen, sind in einer Ecke gestapelt. Daneben sitzt, winzig und still, ein Kind. Vielleicht zwei Jahre alt. Es beobachtet mich, während seine schmutzigen kleinen Fäuste im Dreck kneten. Die Kommentare rasen so schnell an meinem inneren Auge vorbei, dass ich sie kaum noch lesen kann:
»Das arme Kind, OMG furchtbar!«
»Es ist so krass, in welcher Armut ihr lebt. Unvorstellbar.«
Es ist die gleiche Reaktion wie immer, wenn ich ein besonders heruntergekommenes Kind oder einen verzottelten Hund sehe. Für mich gehören diese Bilder so sehr zur Stadt, dass ich sie bisher kaum bewusst wahrgenommen habe. Aber meine Zuschauer kommen nicht von hier. Ihre Heimat liegt hinter dem Meer, auf einem Kontinent namens Asaria. Dass es bei ihnen weder Straßenkinder noch Straßentiere gibt, weiß ich mittlerweile.
Ich blinzele einmal lang, sodass die Kommentare und die traurigen Emojis aus meinem Sichtfeld gewischt werden und ich den Blick frei zum Klettern habe.
»Ich hab leider nichts, was ich dem Kind geben könnte«, sage ich mit Bedauern und blicke nach oben, wo sich die viereckigen Häuser wie unordentliche Schuhkartons...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2019 |
---|---|
Reihe/Serie | Cainstorm Island-Reihe | Cainstorm Island-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • action • Actionthriller • Arm und Reich • auf der Flucht • Dystopie • Dystopie für Jugendliche • Erebos • Eyevision • Fortnite • für Jungen ab 13 Jahre • Gangs • Gewalt • Jugendbuch ab 13 Jahre • Jugendbuch Neuerscheinung 2021 • Jugendthriller • kulturpass • Lets Play • Livestream • Medienkritik • Megacity • Menschenjagd • Near future • Near-Future-Serie • Notwehr • Parkour • Slums • Social Media • Spannung • Straßengangs • Thriller • Überwachung • Überwachungsstaat • Ursula Poznanski • Voyeurismus • youtube • Zukunft • Zukunftsvision |
ISBN-10 | 3-423-43542-9 / 3423435429 |
ISBN-13 | 978-3-423-43542-0 / 9783423435420 |
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