Das Geheimnis der Gruselmühle (eBook)
136 Seiten
periplaneta (Verlag)
9783959960397 (ISBN)
Ferien!“, rief Hagen Sauerbrei, so laut er konnte. „Endlich Ferien!“ Die Sonne lächelte freundlich und warm vom Himmel herab. Ein Super-Sommer sollte es werden. Einen Jahrhundert-Sommer versprachen die Wetterfrösche. Er sprintete die Treppen hinauf, öffnete die Wohnungstür und lief in sein Zimmer. Vorsichtig stellte er den Rucksack mit den Schulsachen auf den Teppich, sodass dieser nicht umfallen konnte. Er holte tief Luft, trat drei Schritte zurück, nahm Anlauf, zielte und gab ihm einen kräftigen Tritt. Im hohen Bogen flog der Rucksack durch das Zimmer und landete in der Ecke.
„Tooooor! Tooor für Deutschland! Unglaublich! Hagen Sauerbrei schießt in der letzten Sekunde der Fußballweltmeisterschaft das alles entscheidende Tor. Deutschland wird Weltmeister!“, kommentierte er den fantastischen Schuss und sank auf die Knie. Erst dann fiel ihm ein, dass sein Zeugnis noch im Rucksack war, und kramte es schnell hervor.
Zufrieden schaute er sich das verbeulte Papier an. Fast alles Zweien und ein paar Einsen. Wenn bloß die blöde Vier in Mathe nicht wäre. Selbstverständlich hatte er in Sport die Bestnote erhalten. Im Sport war er unschlagbar. Bester Torwart der Schule. Später würde er Fußballprofi werden oder Reporter oder beides. Fußballreporter. Profifußballreporter.
Dass er mit zwölf Jahren genau wusste, was er wollte, hielt die Erzeugerfraktion – wie er seine Eltern gerne nannte, wenn sie ihn gar nicht verstehen wollten – für eine kindliche Träumerei. Manchmal nahmen sie ihn einfach nicht ernst. Schon allein der Name - Hagen? Wie waren sie nur darauf gekommen. Es gab Dörfer, die Hagen hießen. Er trug den Namen eines Dorfes. Es war zum Heulen.
Ab Sonnabend musste er für drei Wochen nach Klein Polkewitz zur Großmutter. Auch so ein Dorf. Vor zwei Jahren war er das letzte Mal da gewesen. Für ein Kind ist das eine feine Sache. Aber heute? Er war ein angehender Jugendlicher. Quasi ein Erwachsener in Lauerstellung. Was sollte er bitteschön bei seiner Oma?
Die Erzeugerfraktion behauptete, es sei unmöglich, diesen Sommer in den Urlaub zu fahren. Angeblich könnten sie vor lauter Arbeit nicht geradeaus denken. Was das mit Verreisen zu tun hatte, blieb Hagen ein Rätsel. Dass er in den Ferien allein zu Hause blieb, lehnten sie aber auch rigoros ab. Aus drei Gründen.
Erstens: Vor knapp einem Monat hatte er vergessen, das Badewasser für die Wanne auszustellen, was zu einer beträchtlichen Überschwemmung in der eigenen, wie auch in der Wohnung unter ihnen geführt hatte.
Zweitens: Vor drei Wochen hatte er den Wohnungsschlüssel auf dem Küchentisch vergessen. Eigentlich nichts Weltbewegendes. Dummerweise hatte ihn die Polizei dabei beobachtet, wie er am Regenrohr in die erste Etage geklettert war, um durch das Toilettenfenster in die Wohnung zu kommen.
Vater Sauerbrei musste Hagen vom Polizeirevier abholen, da man ihn für einen Einbrecher hielt. Sauerbrei Senior schwieg auf dem Rückweg bis nach Hause. Statt zu schimpfen, schüttelte er ungläubig den Kopf. Dreiundvierzigmal! Ein neuer Rekord. Dass Hagen immer das Regenrohr hochkletterte, wenn er den Schlüssel vergessen hatte, erwähnte er vorsichtshalber mit keinem Wort. Sonst wäre das womöglich mit dem Kopfschütteln bei seinem Vater ein Dauerzustand geworden.
Aber der dritte Grund, den die lieben Eltern aufzählten, war von allen der schlimmste: Frische Landluft hat noch niemandem geschadet!
Das Dorf Klein Polkewitz lag an der Elbe und hatte höchstens dreihundert Einwohner. Hagen nannte das Nest verächtlich Groß Langweilshausen, weil es hier nichts gab, was einen Zwölfjährigen ansatzweise interessieren könnte. Oma Charlotte lebte dort zusammen mit Dr. Schmidt auf einem kleinen Bauernhof mit Hühnern, Kaninchen und Gemüsebeeten – der Sauerbrei-Hof.
Dr. Schmidt war das Ergebnis einer stürmischen Nacht zwischen einer Mopsdame und einem Dalmatiner. Also ein reinrassiger Mopatiner. Dr. Schmidt war der einzige Hund, den Hagen kannte, der wie ein Rollbraten mit Punkten aussah. Als Wach- oder Jagdhund war das kurzbeinige Rollkommando völlig ungeeignet. Natürlich mochte Hagen Schmiddi, wie er ihn liebevoll rief, auch wenn der nur ans Fressen dachte. Garantiert hätte er jedem Einbrecher schwanzwedelnd den Weg zum Kühlschrank gezeigt.
Zwar freute sich Hagen auf Oma Lottchen, wie er Oma Charlotte nannte, doch drei Wochen Groß Langweilshausen waren eindeutig eine Zumutung. Unendlich öde!
Früher war er immer gerne in den Sommerferien aufs Land gefahren, aber doch nicht wegen der frischen gesunden Landluft. Wegen der Tiere auf dem Bauernhof selbstverständlich. Damals war das super und aufregend, aber heute? In den letzten zwei Jahren waren seine Eltern gemeinsam mit ihm in den Urlaub geflogen. Ans Meer, nach Ägypten und Lanzarote. Er hatte ernsthaft geglaubt, diese Sache mit „Ferien bei Oma“ hinter sich zu haben. Außerdem war er zwölf! Und gleich nach den Sommerferien wurde er dreizehn. Die Erzeugerfraktion wollte sein Erwachsenwerden einfach nicht einsehen. Morgen also holten ihn seine Großmutter und Dr. Schmidt vom Bahnhof ab. Beide würden ihn abschlecken, Oma Charlotte ihn zusätzlich in die Wange kneifen und ein bisschen herumwundern: „Du bist aber groß geworden! Richtig erwachsen! Du siehst deinem Vater so was von ähnlich!“
Und es würde noch schlimmer kommen: Allen dreihundert Dorfbewohnern würde sie erzählen, dass es ihrem Enkel in diesem Jahr sicherlich gelinge, den Schatz vom alten Gruselmüller zu finden. Megapeinlich! Angeblich gab es in den Ruinen der alten Mühle unermesslich viel Gold und Edelsteine. Ein Märchen, auf das er früher hereingefallen war. Da war er noch klein oder jung oder altersbedingt minderbemittelt gewesen. Aber heute doch nicht mehr.
Tatsächlich hatte er noch vor zwei Jahren auf dem Gelände der alten Mühle Löcher gebuddelt. Statt eines Schatzes fand er nur zerbrochene Dachziegel, die Knochen eines toten Huhnes und eine dunkle Masse, die an Dinosaurierpopel erinnerte. Bei genauerem Hinsehen hatte er festgestellt, dass es sich um Teerklumpen vom Straßenbau handelte. In diesem Sommer würde er sich nicht wieder zum Obst oder zum Kohlrabi machen. Vielleicht könnte er ja die Spraydosen mitnehmen und ein paar Langweilshausener Wände mit Graffiti aufpeppen.
‚Grandiose Idee‘, dachte Hagen. Fragen würde er seinen Vater lieber nicht. Die Antwort hätte er schon vorher auf einen Zettel schreiben können. Für den Familienältesten waren Graffiti nur Schmierereien. Auch das Argument, dass es sie schon im Alten Ägypten gab, bei den Mayas, den Wikingern und selbst in Pompeji, interessierte Vater Sauerbrei nicht die Bohne. Einziger Kommentar: „Deswegen sind all diese Kulturen auch untergegangen.“
So waren Eltern. Warum die nicht mit ‚ä‘ geschrieben werden, war Hagen schon immer ein Rätsel. Ältern, weil sie älter sind.
An der Tür klingelte es. Hagen schnappte das Zeugnis und stürmte los. Bei guten Noten zeigten sich die lieben Ältern nämlich großzügig und ließen schon mal einen blauen Geldschein in seine Hand wandern.
Hagen Sauerbrei war der einzige Fahrgast, der aus dem Bummelzug in Klein Polkewitz ausstieg. Die anderen Reisenden schauten ihn mitleidig an. Eine Frau, die verdächtig an eine Deutschlehrerin erinnerte – Brille, ein Buch studierend und gekleidet in Klamotten mit Tatzen darauf – winkte albern, als der Zug den Bahnhof verließ.
Weit und breit nichts von Oma Charlotte zu sehen. Enttäuscht setzte er sein Basecap auf und drehte den Schirm nach hinten. Zu allem Unglück regnete es auch noch. Gestern Abend hatte es angefangen und seitdem pausenlos aus allen Wolken gepieselt. Pissen durfte er nicht sagen. Das Wort stand auf Mutter Sauerbreis Schweinskramwortliste. Von wegen Jahrhundert-Sommer! Niedergeschlagen sah Hagen dem Zug nach, bis er hinter der nächsten Kurve im Wald verschwand. Seufzend nahm er die Reisetasche und marschierte zu dem wahrscheinlich kleinsten Bahnhofs-Warteraum, den es auf der ganzen Welt gab.
Trostlos sah es hier aus. Ein zerrissener Fahrplan hing an der Wand, daneben einige vergilbte Werbeplakate und eine Landkarte der Umgebung. Die Gegend bestand aus ein paar Tümpeln, verkrauteten Wassergräben, der Elbe, dem alten Kanal, winzigen Dörfern, dem prunkvollen Gutshaus sowie Wald und Feldern. Unweit der Elbe lag Klein Polkewitz oder besser gesagt Groß Langweilshausen. Wenn man über die Feldwege spazierte, waren es höchstens zwei Kilometer. Wie er Oma Lottchen kannte, holte sie ihn mit ihrer antiken Kiste, einem Motorrad mit Seitenwagen, ab. Schmiddi würde auf dem Beifahrersitz lümmeln, die Zunge in den Fahrtwind hängen und dusslig durch die Fahrerbrille schauen. Dass der Hund nicht einen dieser komischen Helme tragen musste, Modell Nachttopf, wunderte Hagen sehr. Aber abgefahren war es schon, wenn Oma Charlotte mit der alten BMW durch die Gegend jagte.
Erneut schaute er sich um. Doch er sah nichts Spannendes und hörte auch nichts außer dem Regen. Enttäuscht nahm er sein Smartphone heraus, tippte auf die Mikrofon-App und diktierte:
„Hallo Welt! Ein schreckliches Verbrechen erschüttert in diesen Tagen den Planeten. Ein zwölfjähriger unbescholtener Junge, die Hoffnung der deutschen Fußballnationalmannschaft, wurde von seiner Erzeugerfraktion gegen seinen ausdrücklichen Willen in einer unwirklichen Pampa ausgesetzt. Nach letzten, unbestätigten Berichten ist es mehr als wahrscheinlich, dass er elend zugrunde gehen...
| Erscheint lt. Verlag | 6.4.2017 |
|---|---|
| Illustrationen | Ralf Alex Fichtner |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur |
| Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
| Schlagworte | Abenteuer • Bikergang • Detektivgeschichte • Fußball • Ganoven • Jugendbuch • Kinderkrimi • Mops • Oma • Schatz • Sommerferien • Spannung • wie Emil und die Detektive |
| ISBN-13 | 9783959960397 / 9783959960397 |
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