Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (eBook)
368 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-92232-5 (ISBN)
Mit zwölf kam Christiane F. in einem evangelischen Jugendheim zum Haschisch, mit dreizehn in einer Diskothek zum Heroin. Sie wurde süchtig, ging morgens zur Schule und nachmittags mit dem ebenfalls heroinabhängigen Freunden auf den Kinderstrich am Bahnhof Zoo, um das Geld für die Droge zu beschaffen. Ihre Mutter bemerkte fast zwei Jahre lang nichts vom Doppelleben ihrer Tochter. Christiane F. berichtet mit minutiösem Erinnerungsvermögen und rückhaltloser Offenheit über Schicksale von Kindern, die von der Öffentlichkeit erst als Drogentote zur Kenntnis genommen werden. Nach turbulenten Jahren in Amerika und Griechenland lebt die Autorin wieder in Berlin und machte im Sommer 2008 erneut Schlagzeilen. Den Kampf gegen die Drogen hat sie immer wieder von neuem geführt - vor Rückfällen ist kaum ein ehemaliger Junkie sicher.
Die Vorlage zur Amazon-Original-Serie nach einer wahren Begebenheit!
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Horst Rieck, geboren 1941, lebt als Journalist und freier Autor in Berlin. Er schrieb Reportagen u.a. für den "stern", "Die Zeit" und die "Frankfurter Rundschau". Schwerpunkte seiner Arbeit sind politische und soziale Themen.
Christiane V. Felscherinow kam 1962 in Hamburg zur Welt und zog im Alter von sechs Jahren mit der Familie nach West-Berlin. Als Teenager wurde sie heroinabhängig und prostituierte sich. Ende der 1970er Jahre schufen die Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck mit ihr eine »Stern«-Serie, aus der ein autobiografisches Buch entstand. »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« war ein Welterfolg.
»Christiane F.« wurde Kultfigur und Antiheldin einer ganzen Generation. Sie lebte zwischen der Hamburger Punk-Szene, den griechischen Inseln, dem Berliner Underground und einer Schweizer Verlegerfamilie. Sie begegnete Rockstars wie David Bowie, Nick Cave, Nina Hagen und Depeche Mode und prominenten Literaten wie Friedrich Dürrenmatt und Loriot. Bis heute befindet sich Christiane V. Felscherinow in einem Methadon-Programm. 1996 brachte sie einen Sohn zur Welt.
Kai Hermann, 1938 in Hamburg geboren, war Redakteur und Autor von Zeit und Spiegel und arbeitet frei für den Stern. Er schrieb Bücher und Drehbücher, darunter Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (gemeinsam mit Horst Rieck). Kai Hermann wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Egon-Erwin-Kisch-Preis sowie der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet.
Christianes Mutter
Ich habe mich oft gefragt, wieso ich nicht früher gemerkt habe, was mit Christiane los ist. Die Antwort ist einfach, doch ich konnte sie erst nach Gesprächen mit anderen Eltern ertragen, denen es mit ihren Kindern ähnlich ging: Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass meine Tochter rauschgiftsüchtig ist. Ich habe mir so lange wie möglich etwas vorgemacht.
Mein Freund, mit dem ich seit der Scheidung von meinem Mann zusammenlebe, hatte schon frühzeitig einen Verdacht. Ich habe dann immer nur gesagt: »Was du dir bloß einredest. Sie ist ja noch ein Kind.« Das ist wahrscheinlich der größte Fehler, sich einzubilden, die Kinder seien noch nicht so weit. Als Christiane anfing, sich zu isolieren, als sie immer häufiger den Kontakt zur Familie mied und an den Wochenenden lieber mit Freunden loszog, anstatt mit uns etwas zu unternehmen, da hätte ich nachhaken müssen mit »warum« und »weshalb«. Ich habe zu vieles auf die leichte Schulter genommen.
Wenn man berufstätig ist, achtet man wahrscheinlich nicht sorgfältig genug auf seine Kinder. Da will man selber seine Ruhe haben und ist ganz froh, wenn die Kinder ihre eigenen Wege gehen. Sicher, manchmal kam Christiane zu spät nach Hause. Doch sie hatte immer Ausreden parat und ich habe sie ihr allzu bereitwillig geglaubt. Ich hielt solche Unregelmäßigkeiten ebenso wie ihr mitunter recht widerspenstiges Gehabe für eine ganz normale Entwicklungsphase und dachte, das geht vorüber.
Ich wollte Christiane zu nichts zwingen. Damit hatte ich am eigenen Leib die schlimmsten Erfahrungen gemacht. Mein Vater war überaus streng. In dem hessischen Dorf, in dem ich aufwuchs, war er als Steinbruchbesitzer ein geachteter Mann. Doch seine Erziehung bestand nur aus Verboten. Über Jungen durfte ich nicht einmal reden, sonst setzte es Ohrfeigen.
Ich erinnere mich noch genau an einen Sonntagnachmittagsspaziergang mit einer Freundin. Weit mehr als hundert Meter hinter uns gingen zwei junge Männer. Da kam mein Vater zufällig vom Fußballplatz vorbei, hielt an und klatschte mir eine auf der Straße. Er zerrte mich in sein Auto und nahm mich mit nach Hause. Nur weil hinter uns die jungen Männer gingen. Das hat mich sehr bockig gemacht. Sechzehn Jahre war ich damals und ich habe gedacht: Wie kommst du hier bloß raus?
Meine Mutter, ein herzensguter Mensch, hatte nichts zu sagen. Ich durfte nicht einmal meinen Berufswunsch verwirklichen und Hebamme werden. Mein Vater bestand darauf, dass ich einen kaufmännischen Beruf erlerne, um ihm die Buchführung machen zu können. Zu dieser Zeit lernte ich Richard kennen, meinen späteren Mann. Er war ein Jahr älter als ich und machte eine Lehre als Landwirt. Er sollte Gutsverwalter werden. Auch auf Wunsch seines Vaters. Anfangs war es nur eine Freundschaft zwischen uns. Doch je mehr mein Vater unternahm, um sie kaputt zu machen, umso dickköpfiger wurde ich. Ich sah nur einen Ausweg: schwanger zu werden, um heiraten zu müssen und um so endlich meine Freiheit zu haben.
Mit achtzehn Jahren war es so weit. Richard brach sofort seine Lehre ab und wir zogen nach Norddeutschland in den Ort, wo seine Eltern wohnten. Die Ehe war ein einziges Fiasko, von Anfang an. Schon während der Schwangerschaft konnte ich nicht mit meinem Mann rechnen, er ließ mich nächtelang alleine. Er hatte nur seinen Porsche und hochfliegende Pläne im Kopf. Keine Arbeit war ihm recht. Er wollte unbedingt etwas Besseres sein und bei anderen Leuten etwas gelten. Er sprach gern davon, dass seine Familie vor dem Krieg auch etwas dargestellt habe. Seine Großeltern besaßen in Ostdeutschland eine Tageszeitung, ein Juweliergeschäft und eine Metzgerei. Und Landbesitz hatten sie auch noch.
Das war wohl sein Maßstab. Er wollte sich unbedingt selbstständig machen, wollte Unternehmer werden wie seine Vorfahren. Mal träumte er davon, eine Spedition zu gründen, mal wollte er einen Autohandel aufmachen, mal mit einem Bekannten ein Garten- und Landschaftsbau-Unternehmen gründen. Tatsächlich kam er nie über Anfangskontakte hinaus. Seinen Ärger ließ er zu Hause an den Kindern aus, und wenn ich dazwischenging, wurden die Auseinandersetzungen sogar recht handgreiflich.
Das Geld, das wir zum Leben brauchten, habe hauptsächlich ich verdient. Als Christiane vier Jahre alt war, bekam ich einen sehr guten Job in einer Ehevermittlung. Wenn am Wochenende Verträge abzuschließen waren, half Richard mit. Das ging zwei Jahre einigermaßen gut. Dann legte sich Richard mit dem Chef an und ich verlor den Job. Richard wollte jetzt selber ein Eheinstitut im großen Stil eröffnen. Als Firmenwohnsitz wählte er Berlin.
1968 zogen wir um. Mit dem Ortswechsel hoff te ich auch auf einen Neubeginn unserer Ehe. Doch statt in repräsentativen Wohn- und Geschäftsräumen landeten wir in zweieinhalb Zimmern in der Gropiusstadt am Rande von Berlin. Richard hatte das notwendige Startkapital nicht auftreiben können. Alles war wieder beim Alten. Richard ließ seine Wut an mir und den Kindern aus und jobbte bestenfalls einmal als Kaufmann. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden, auch einer dieser kleinen Leute zu sein, die in Gropiusstadt wohnen.
Ich dachte häufig an Scheidung, hatte aber nicht den Mut dazu. Was ich an Selbstbewusstsein vor meinem Vater gerettet hatte, zertrümmerte mir mein Mann.
Zum Glück bekam ich in Berlin schnell eine solide Arbeit als Stenokontoristin für 1000 Mark netto. Das Gefühl, anerkannt zu werden und wieder etwas zu leisten, gab mir neue Kraft. Ich ließ mir von meinem Mann nicht mehr alles gefallen. Er kam mir allmählich lächerlich vor mit seiner Großmannssucht. Die Reibereien zwischen ihm und mir wurden immer unerträglicher. Mehrere Trennungsversuche klappten nicht. Ich hing doch sehr an ihm. Vielleicht, weil er der erste Mann für mich war. Und auch wegen der Kinder. Einen Kindergartenplatz kriegte ich für die Mädchen nicht. Ich hätte ihn auch gar nicht bezahlen können. Da war es mir schon lieber, dass wenigstens Richard hin und wieder zu Hause war. So schob ich die Scheidung immer wieder hinaus, bis ich 1973 stark genug war, meinen Irrtum zu korrigieren. Ich ging zum Scheidungsanwalt.
Was ich durchgemacht hatte, wollte ich Christiane ersparen. Schon bei ihrer Geburt hatte ich mir geschworen: Sie soll so aufwachsen, dass ihr das gar nicht erst passieren kann, in so eine Ehe reinzuschlittern wie ich. Sie soll sich frei entfalten können, nicht in eine Richtung gedrückt werden, soll anders als ich ihre Freiheit haben, so wie sich das für eine moderne Erziehung gehört. Dabei habe ich später wohl zu viel durchgehen lassen.
Nach der Scheidung musste ich mir erst mal eine neue Wohnung suchen, weil Richard sich weigerte auszuziehen. Ich fand eine im steuerbegünstigten Wohnungsbau. Die kostete 600 Mark Miete, inklusive Garage, obwohl ich kein Auto hatte. Das war für mich eigentlich viel zu teuer. Aber ich hatte keine Wahl. Ich wollte endlich raus aus der Ehe. Ich wollte um jeden Preis einen neuen Anfang für mich und die Kinder.
Richard war auch nicht in der Lage, für die Kinder zu zahlen. Ich habe mir gesagt, es bleibt dir nur eins übrig, du musst dich jetzt zusammenreißen, auch mal eine Überstunde machen, damit du den Kindern wenigstens etwas bieten kannst. Die waren ja inzwischen zehn und elf Jahre alt und hatten in ihrer Kinderzeit nur das Minimalste an Wohnungseinrichtung. Nicht mal ein anständiges Sofa war da, alles zusammengeschustert. Es hat mir in der Seele wehgetan, dass ich meinen Kindern nicht mal ein gemütliches Zuhause bieten konnte.
Das wollte ich nach der Scheidung wiedergutmachen. Ich wollte endlich eine hübsche Wohnung haben, in der wir uns alle wohlfühlen. Das war mein Traum. Dafür habe ich gearbeitet. Aber auch, um den Kindern mal einen Extrawunsch erfüllen zu können, schöne Anziehsachen und gemeinsame Ausflüge am Wochenende, die ruhig ein paar Mark kosten dürfen.
Ich verfolgte dieses Ziel mit Begeisterung. Sie kriegten eine Tapete nach Wunsch und ein Mädchenzimmer mit hübschen Möbeln, und 1975 konnte ich Christiane einen Dual-Plattenspieler schenken. Das waren Sachen, die mich glücklich machten. Ich war ja so froh, mir endlich mal etwas für die Kinder leisten zu können.
Und wenn ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, konnte ich ihnen oft noch etwas mitbringen. Kleinigkeiten zwar. Aber ich hatte mein Vergnügen daran, bei Wertheim oder Karstadt etwas für sie zu kaufen. Meistens preiswerte Sonderangebote. Mal eine ausgefallene Süßigkeit, mal einen lustigen Bleistiftanspitzer oder anderen Schnickschnack. Dann fielen sie mir um den Hals. Das war für mich ein Gefühl wie Weihnachten.
Heute weiß ich natürlich, dass ich mich in erster Linie von meinem schlechten Gewissen freikaufen wollte, weil ich so wenig Zeit für die Kinder hatte. Ich hätte Geld Geld sein lassen sollen. Ich hätte mich um die Kinder kümmern sollen, statt arbeiten zu gehen. Ich begreif mich heute selber nicht mehr, warum ich die Kinder alleingelassen habe. Als ob man das mit schönen Sachen wieder wettmachen könnte. Ich hätte lieber von der Fürsorge leben sollen, solange mich die Kinder brauchten. Doch Fürsorge war für mich das Letzte. Schon im Elternhaus war mir eingebläut worden, dass man dem Staat nicht zur Last fällt. Vielleicht hätte ich ja auch meinen geschiedenen Mann auf Unterhalt verklagen sollen. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hab ich vor lauter Anstrengungen für ein hübsches Zuhause völlig aus dem Kopf verloren, worauf es eigentlich ankommt. Ich kann das alles drehen, wie ich will,...
Erscheint lt. Verlag | 21.3.2011 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
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ISBN-10 | 3-646-92232-X / 364692232X |
ISBN-13 | 978-3-646-92232-5 / 9783646922325 |
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