WER SOLCHE FREUNDE HAT …
Hast du schon einmal erlebt, dass sich eine Freundin total verändert hat? Plötzlich nicht mehr der Mensch ist, den du in- und auswendig zu kennen glaubtest, sondern … jemand anderes? Ich rede nicht von deinem Freund aus dem Kindergarten, der in der Pubertät linkisch und picklig wird, oder deiner alten Sommerlagerfreundin, der du nichts mehr zu sagen hast, wenn sie dich in den Weihnachtsferien besucht. Auch nicht von dem Mädchen aus deiner Clique, das plötzlich eigene Wege geht und auf einmal Emo wird oder nur noch Birkenstocks trägt. Nein. Ich rede von deiner Seelenverwandten. Dem Mädchen, über das du alles weißt. Das alles über dich weiß. Eines Tages dreht sie sich um und ist ein vollkommen anderer Mensch geworden.
Na ja, so etwas passiert. Es passierte in Rosewood.
»Pass auf, Aria, dir frieren gleich die Gesichtszüge ein.« Spencer Hastings riss die Verpackung von einem orangefarbenen Stieleis und steckte sich das Süßzeug in den Mund. Ihre Worte bezogen sich auf das verkniffene Ich-konzentrier-mich-Gesicht ihrer besten Freundin Aria Montgomery, die versuchte, ihre Sony Handycam scharf zu stellen.
»Du klingst wie meine Mom, Spence.« Emily Fields lachte und zupfte an ihrem T-Shirt, auf dem ein Küken mit Schwimmbrille abgebildet war. Die Freundinnen hatten Emily eigentlich verboten, ihre lahmen Schwimm-T-Shirts zu tragen, und als Emily ins Haus gekommen war, hatte Alison DiLaurentis sofort gefrotzelt: »Wer soll das sein? Tweety?«
»Was? Deine Mom sagt das auch?«, fragte Hanna Marin und warf den grün gefleckten Stiel ihres Eis weg. Hanna aß immer schneller als alle anderen. »Dir frieren gleich die Gesichtszüge ein«, imitierte sie ihre Mutter mit affektierter Stimme.
Ali musterte Hanna und kicherte spöttisch. »Deine Mom hätte dich lieber davor warnen sollen, dass dir gleich der Hintern abfriert.«
Hannas Lächeln erstarb und sie zog an ihrem pink-weiß gestreiften, definitiv zu knappen T-Shirt. Sie hatte es sich von Ali geliehen und es rutschte bei jeder Bewegung nach oben und entblößte weiße Haut und Hannas speckigen Poansatz. Alison tippte mit ihrem Flipflop an Hannas Schienbein. »He, war nur ein Witz.«
Es war ein Freitagabend im Mai gegen Ende der siebten Klasse, und die Busenfreundinnen Alison, Hanna, Spencer, Aria und Emily hatten es sich im luxuriös eingerichteten Wohnzimmer von Spencers Familie mit einer großen Packung Stieleis und einer Riesenflasche Dr. Pepper Cherry Vanilla gemütlich gemacht, auf dem Couchtisch lagen ihre Handys. Vor einem Monat war Ali mit einem brandneuen LG-Klapphandy in die Schule gekommen und die anderen hatten sich noch am gleichen Tag ebenfalls welche gekauft. Alle steckten in pinkfarbenen Lederhüllen. Allein Arias Handytasche war aus pinkfarbener Mohair-Wolle und sie hatte sie selbst gestrickt.
Aria drückte den Zoom-Hebel der Kamera und probierte verschiedene Einstellungen aus. »Außerdem frieren mir die Gesichtszüge nicht ein. Ich konzentriere mich nur auf die Szene. Das wird ein Filmdokument für die Nachwelt – wenn wir in Zukunft einmal alle berühmt sind.«
»Na, ich werde auf jeden Fall groß rauskommen, das ist ja klar.« Alison straffte die Schultern, drehte den Kopf zur Seite und enthüllte ihren Schwanenhals.
»Warum solltest ausgerechnet du groß rauskommen?«, blaffte Spencer vermutlich bissiger, als sie es meinte.
»Weil ich meine eigene TV-Show moderieren und eine schlauere, süßere Version von Paris Hilton abgeben werde.«
Spencer schnaubte verächtlich. Aber Emily schürzte nachdenklich ihre blassen Lippen, und Hanna nickte restlos überzeugt, denn es ging schließlich um Ali. Sie würde Rosewood, Pennsylvania, garantiert bald hinter sich lassen. Rosewood war zwar durchaus glamourös – alle Einwohner sahen aus, als wären sie einer Fotostrecke von Country Living entsprungen -, aber die Freundinnen wussten, dass Ali zu Höherem bestimmt war.
Ali hatte sie vor anderthalb Jahren aus der Bedeutungslosigkeit gerettet und zu ihren besten Freundinnen erkoren. An ihrer Seite waren sie zu den beliebtesten Girls der Rosewood-Day-Privatschule aufgestiegen. Inzwischen hatten sie Macht: Sie entschieden, wer cool war und wer nicht, sie schmissen die besten Partys, bekamen die besten Plätze im Studierzimmer und wurden mit überwältigender Stimmenmehrheit zu Klassen- und Schulsprechern gewählt. Okay, okay, Letzteres galt hauptsächlich für Spencer. Von einigen kleinen Ausrutschern einmal abgesehen – und davon, dass Jenna Cavanaugh durch ihre Schuld erblindet war, was sie so gut es ging verdrängten -, hatte ihr Leben einen Salto von mittelmäßig passabel zu perfekt hingelegt.
»Sollen wir eine Talkshow-Szene filmen?«, schlug Aria vor. Sie betrachtete sich als die offizielle Filmemacherin der Clique, und einer ihrer vielen Lebensträume war es, der nächste (und weibliche) Jean-Luc Godard zu werden, ein experimenteller französischer Regisseur.
»Ali, du spielst die Berühmtheit. Und du, Spencer, interviewst sie.«
»Ich übernehme die Maske«, bot Hanna an, wühlte in ihrem Rucksack und zog ihre gepunktete Make-up-Nylontasche heraus.
»Ich kümmere mich um die Frisuren.« Emily schob sich ihre kurzen rotblonden Haare hinter die Ohren und eilte an Alis Seite. »Du’ast wunderschönes’Aaar, chérie«, flötete sie mit falschem französischem Akzent.
Ali nahm das Eis aus dem Mund. »Heißt chérie nicht Freundin?«
Die anderen lachten, aber Emily wurde blass. »Nein, das wäre petite amie.« Seit einiger Zeit reagierte Emily empfindlich, wenn Ali Witze auf ihre Kosten machte. Früher war das nicht so gewesen.
»Okay«, sagte Aria schließlich und hielt sich die Kamera vor das Gesicht. »Seid ihr bereit?«
Spencer warf sich auf die Couch und setzte sich ein mit Strasssteinen besetztes Diadem auf, das von einer Silvesterparty übrig geblieben war. Sie schleppte das Ding schon den ganzen Abend mit sich herum.
»Das kannst du nicht tragen«, blaffte Ali.
»Wieso nicht?« Spencer rückte das Diadem vorsichtig gerade.
»Wenn jemand die Prinzessin ist, dann ja wohl ich.«
»Wer hat eigentlich bestimmt, dass du immer die Prinzessin sein musst?«, murmelte Spencer halblaut. Die anderen spürten einen Anflug von Nervosität. Spencer und Ali gerieten in letzter Zeit häufig aneinander, aber niemand wusste, warum.
Alis Handy piepte laut. Sie griff danach, klappte es auf und hielt es so, dass die anderen das Display nicht sehen konnten. »Wow.« Mit fliegenden Fingern tippte sie eine SMS.
»Wem schreibst du?« Emilys Stimme war dünn und zerbrechlich wie eine Eierschale.
»Ist geheim. Sorry.« Ali sah nicht von der Tastatur auf.
»Es ist geheim?« Spencer war wütend. »Was soll das denn heißen?«
Ali sah auf. »Sorry, Prinzessin. Alles musst du auch nicht wissen.« Sie klappte das Handy zu und legte es auf das Ledersofa. »Warte noch mit dem Filmen, Aria, ich muss kurz aufs Klo.« Sie rannte zu der Toilette im Flur und warf auf dem Weg ihren Eisstiel in den Müll.
Als die Toilettentür ins Schloss flog, sagte Spencer schnell: »Würdet ihr sie manchmal auch am liebsten ermorden?«
Die anderen wanden sich unbehaglich. Sie lästerten nie über Ali. Dies wäre Blasphemie und ebenso verwerflich, wie im Schulhof die Flagge der Rosewood Day abzufackeln oder zuzugeben, dass Johnny Depp inzwischen nicht mehr niedlich war, sondern alt und ziemlich schrullig.
Natürlich empfanden sie das klammheimlich nicht immer so. Im vergangenen Frühjahr hatten sie Ali seltener gesehen als sonst, denn sie hatte sich mit den Mädchen aus der Hockey-Auswahlmannschaft angefreundet. Wenn sie sich mit ihnen zum Mittagessen traf oder mit ihnen in die King James Mall ging, waren Aria, Emily, Spencer und Hanna nie eingeladen.
Außerdem hatte Ali seit einiger Zeit Geheimnisse vor ihnen. Da gab es geheime SMS, geheime Anrufe und geheimnisvolles Kichern, für das Ali nie den Grund verriet. Manchmal sahen sie, dass Ali online war, aber wenn sie ihr eine Sofortnachricht schickten, reagierte sie nicht. Jede von ihnen hatte Ali ihre Seele offenbart und ihr Dinge erzählt, die sie den anderen drei Freundinnen nicht erzählt hatte, Dinge, die eigentlich niemand wissen sollte. Und jede von ihnen erwartete, dass Ali sie ebenfalls ins Vertrauen zog. Schließlich hatte Ali sie im letzten Jahr, nach der schrecklichen Sache mit Jenna, einen Eid schwören lassen, der sie bis ans Ende aller Tage miteinander verband.
Die Mädchen wollten sich gar nicht vorstellen, wie die achte Klasse werden würde, wenn es so weiterlief wie in letzter Zeit. Aber das bedeutete doch nicht, dass sie Ali hassten.
Aria wickelte sich eine lange dunkle Haarsträhne um den Finger und lachte nervös. »Na ja, vielleicht möchte man sie manchmal abmurksen, weil sie so unverschämt hübsch ist.« Sie drückte auf den Anschaltknopf der Kamera.
»Und weil sie Größe 32 trägt«, fügte Hanna hinzu.
»So habe ich es auch gemeint.« Spencer deutete auf Alis Handy, das zwischen zwei Kissen gerutscht war. »Habt ihr Lust, ihre SMS zu lesen?«
»Ich schon«, flüsterte Hanna.
Emily erhob sich von der Lehne des Sofas, auf der sie gehockt hatte. »Also, ich weiß nicht …« Sie rückte ein Stück von Alis Handy weg, als mache sie sich bereits mitschuldig, wenn sie danebensaß.
Spencer schnappte sich das Handy und schaute neugierig auf das leere Display. »Kommt schon. Wollt ihr denn gar nicht wissen,...