Farben der Globalisierung
Am Beispiel der weltweiten Märkte für Textilfarben untersucht Alexander Engel Prozesse der Globalisierung von der europäischen Expansion des 16. Jahrhunderts bis in die industrielle Moderne. Er stellt dar, wie im Laufe der Zeit zur Deckung des europäischen Bedarfs globale Marktbeziehungen geschaffen und dabei außereuropäische Produktionssysteme einbezogen und verändert wurden. Seine Langzeitstudie veranschaulicht, wie die heutigen globalen Märkte aus dem institutionellen und kulturellen Wandel des wirtschaftlichen Geschehens im langen 19. Jahrhundert hervorgegangen sind. Ausgezeichnet mit dem Friedrich-Lütge-Preis 2009 der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Alexander Engel, Dr. phil., ist Assistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Göttingen.
Vorwort7
1. Einleitung: Das Konzept des Marktes9
1.1 Globalisierung und Markt10
1.2 Begriffs- und Ideengeschichte des Marktes15
1.3 Das neoklassische Marktmodell20
1.4 Der Entwurf einer globalen Marktgeschichte25
1.5 Das Fallbeispiel Farbstoffe31
2. Wissen und Techniken: Der Gegenstand des Marktes37
2.1 Agenda: Innovationsparadigmen und Wissenssysteme37
2.2 Das erste Innovationsparadigma: Merkantile Integration42
2.3 Das zweite Innovationsparadigma: Ökonomische Botanik61
2.4 Das dritte Innovationsparadigma: Kunstfertiges Färben79
2.5 Das vierte Innovationsparadigma: Künstliche Farben96
2.6 Resümee: Entwicklungspfade der Farbstoffwirtschaft113
3. Preise und Mengen: Das Gefüge des Marktes120
3.1 Agenda: Ein statistisches Puzzle120
3.2 Der Farbstoffmarkt als statistisches Konstrukt125
3.3 Entwicklungslinien des Farbstoffmarktes162
3.4 Die Farbstoffe in Konkurrenz185
3.5 Resümee: Tendenzen und Strukturbrüche der Marktentwicklung210
4. Institutionen und Dispositionen: Die Gestaltung des Marktes216
4.1 Agenda: Making Markets216
4.2 Determinanten des Farbstoffkonsums220
4.3 Vorindustrielle Produktions- und Vermittlungssysteme246
4.4 Produktions- und Vermittlungssysteme im industriellen Zeitalter272
4.5 Marketing und Warenkonstruktion298
4.6 Resümee: Von vormodernen zu modernen Farbstoffmärkten321
5. Fazit: Die Entwicklung des Marktes328
5.1 Transformationen des europäischen Farbstoffweltmarktes328
5.2 Märkte als historisch-spezifische Phänomene332
Quellen337
Literatur350
Liste der Grafiken, Abbildungen und Tabellen376
Register378
"Eine innovative umfassende Studie!" (Das Historisch-Politische Buch, 01.12.2009)
"Insgesamt eine wirklich beachtliche, gut geschriebene Studie, empirisch breit abgesichert und methodisch ambitioniert, ein gelungenes Plädoyer für die Globalgeschichte." (Blätter für Technikgeschichte, 01.01.2011)
2. Wissen und Techniken: Der Gegenstand des Marktes 2.1 Agenda: Innovationsparadigmen und Wissenssysteme Das folgende Hauptkapitel ist nicht bloß ein Einstieg in die Welt der Farbstof-fe und des Färbens - es arbeitet heraus, inwiefern potentielle Entwicklungspfade der Farbstoffwirtschaft und ihrer Märkte durch das jeweilige Wissen über und die Fähigkeiten zum Umgang mit Farbstoffen bedingt worden sind. Dabei gilt es jene Vertreter dieser großen Warengruppe zu bestimmen, deren genauere Untersuchung im weiteren Verlauf der Arbeit lohnend erscheint. Am Ende des Untersuchungszeitraums waren über eintausend marktgängige Textilfarbstoffe bekannt. Kombiniert mit den verschiedenen Verfahren ihrer Anwendung eröffnet sich ein unüberschaubar weites Feld, dessen Entwicklung weder umfassend darstellbar ist noch angesichts der Detailfülle analytisch zu verwerten wäre. Im Folgenden gilt es also zu verallgemeinern und charakteristische Muster des Umgangs mit Farbstoffen als Grundlage der Marktentwicklung herauszuarbeiten. Entsprechende Bündel von praktizierten Kenntnissen und Fertigkeiten werden fortan als "Wissenssysteme" bezeichnet. Sie entstehen, wenn Kenntnisse und Fertigkeiten tradiert und dabei normiert, verbreitet und kanonisiert werden. Die Tradierung erfolgt entweder durch die Speicherung als explizites Wissen in Medien, oder durch die Speicherung als implizites Wissen in Exper-tengruppen und den von ihnen benutzten Artefakten. Unter Expertengruppe wird dabei eine Gruppe kommunizierender Akteure verstanden, die das Wissen untereinander und an neue Mitglieder weitergeben - es also miteinander teilen und lehren. Die Weitergabe kann durch Demonstration der Fertigkeiten geschehen, ebenso wird man aber auch versuchen, Teile des impliziten Wissens - des Tacit Knowledge - zu explizieren und in Medien wie Lehrbüchern oder Nachschlagewerken zu speichern. Unterschiedliche Wissenssysteme können daher unterschiedliche Anteile expliziten und impliziten Wissens aufweisen. Bei der Expertengruppe der Farbstoffchemiker wird man etwa einen hohen Explikationsgrad des gespeicherten Wissens erwarten, bei der Expertengruppe des Färberhandwerks einen eher geringeren. Beim Vorgang der Speicherung, ob implizit oder explizit, wird der Gesamtbestand an Kenntnissen und Fertigkeiten differenziert. Nur ausgewählte Teile werden Bestandteile des Systems, der Rest bleibt außerhalb, wird nicht regulär angewendet, und geht im Normalfall allmählich verloren. Wissenssysteme sind notwendigerweise ein Konstrukt makroskopischer Geschichtsbetrachtung, in der über lange Zeitperioden und große geografische Räume hinweg generalisiert und vereinfacht wird. Eine solche Betrachtung täuscht zunächst darüber hinweg, dass die Verteilung von Wissen und Fertigkeiten zwischen den Akteuren einer Zeit tatsächlich sehr unterschiedlich sein kann, schon weil die Geheimhaltung neu entdeckter oder entwickelter Fertigkeiten Vorteile im ökonomischen Konkurrenzkampf verschafft. Im Folgenden werden solche Ungleichheiten immer wieder aufscheinen, jedoch nicht im Zentrum der Betrachtung stehen. Es soll vielmehr erst ein allgemeiner technologischer Hintergrund der Marktentwicklung rekonstruiert werden, während die Monopolisierung von Wissen und Fertigkeiten durch einzelne Akteure - als eine konkrete Handlung im Marktgeschehen - ein Gegenstand im letzten Hauptkapitel sein wird. Die Erweiterung der Wissenssysteme, also die Generierung neuer Praktiken der Farbstofferzeugung, -beschaffung und -anwendung, war kein linearer Prozess und ebenso wenig ein Vorgang, in dem lediglich falsche theoretische Ansichten durch richtige ersetzt und offene praktische Probleme durch geniale Erfindungen gelöst wurden. Doch diese Sichtweise klassischer Wissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung hat in die einschlägige Wirtschaftsgeschichte Einzug gehalten, etwa wenn es die gegenüber Frankreich verzögerte Entstehung einer chemischen Industrie in Deutschland zu erklären gilt, die an einer verspäteten Entfaltung der Naturwissenschaften festgemacht wird: "Mitverantwortlich für die in Deutschland verzögerte Fortentwicklung der Naturwissenschaften war die hier verbreitete ›Romantische Naturphilosophie‹. Sie hatte […] zu einer schwer verzeihlichen Missachtung der Empirie geführt […]. Ebenso hemmend für eine erfolgreiche Naturforschung hatte sich der ›Vitalismus‹ ausgewirkt, der speziell in der Chemie eine Synthese organischer Produkte in Abrede stellte. Nach Überwindung dieser philosophischen Zeitströmungen […] wurde […] in Deutschland die Einstellung des Menschen zur Natur realistischer." Für den hier verfolgten Zweck ist eine solche teleologische und anachronistische Agenda unbrauchbar, denn es interessieren nicht die zeitgenössischen Ansichten in Relation zu unseren heutigen, sondern die zeitgenössischen Ansichten als Voraussetzung der zeitgenössischen Wirtschaft. Zu fragen ist hier also nicht, ob "vitalistische" Vorstellungen gemessen an moderner Richtschnur richtig sind, sondern ob sie wirkungsmächtig waren. Soweit sie in ihrer Zeit die Praktiken der Stoffumwandlung im kommerziellen Maßstab beeinflusste, also zum Beispiel zur Erklärung und Optimierung von Färbetechniken herangezogen wurde, verdient die "romantische Naturphilosophie" in diesem Kontext dieselbe Aufmerksamkeit wie die moderne Naturwissenschaft für das 19. Jahrhundert. Ein Gegenentwurf zur Idee eines linearen Fortschritts hin zu wissenschaftlicher Allwissenheit und technologischer Allmacht ist das von Tomas S. Kuhn popularisierte Konzept der Leitbilder oder Paradigmen. Im Hinblick auf die Entwicklung der Naturwissenschaften postuliert Kuhn einen sprunghaften Verlauf, in dem Zeiten "normaler Wissenschaft" - während derer die Mitglieder einer Disziplin konsensual einem bestimmten Leitbild folgen und dieses Paradigma gleichsam ausarbeiten - immer wieder von Krisenzeiten unterbrochen werden, in denen durch eine Häufung von Problemen ein Paradigma als zunehmend unbrauchbar betrachtet und schließlich durch ein neues ersetzt wird. Solche Paradigmen können offensichtlich nicht auf ihre Richtigkeit, sondern bestenfalls auf ihre zeitgebundene Dienlichkeit hin beurteilt werden. Ein analoges Konzept fand Eingang in die Technikgeschichtsschreibung: Giovanni Dosi bezeichnet mit dem Begriff des "technologischen Paradigmas" ein Basisprinzip, auf dessen Grundlage eine Reihe zunehmend verbesserter Maschinen oder Anlagen für eine bestimmte Problemstellung entsteht, bis es von einem überlegenen neuen Basisprinzip abgelöst wird. Zum Beispiel sind Dampfkraft, Verbrennungsmotor und Elektrizität aufeinander folgende tech-nologische Paradigmen des Lokomotivenbaus. Der Paradigmenbegriff kann auch verwendet werden, um die Wissenssysteme der europäische Farbstoffbeschaffung und -anwendung in ihrer Entwicklung zu modellieren. Es ist jedoch zu beachten, dass die Paradigmenkonzepte nach Kuhn und Dosi die Innovationsgenese weitgehend als einen Diskurs erscheinen lassen, der ausschließlich innerhalb einer festgelegten Expertengruppe - Wissenschaftler beziehungsweise Ingenieure - abläuft. Im vorliegenden Fall ist aber nicht eine Akteursgruppe vorgegeben, sondern eine Klasse von Materialien - Farbstoffe. Welches die für diese Materialien zu verschiedenen Zeiten einschlägigen Expertengruppen sind, ist a priori unklar. Es können jedenfalls weder professionelle Wissenschaftler noch professionelle Techniker sein, denn diese sind eine Erscheinung der Moderne. Die Differenzierung in Wissenschafts- und Technikgeschichte ist für den hier betrachteten Zeitraum demnach weitgehend anachronistisch. Sinnvoller erscheint eine am spezifischen Wissensfeld, und nicht an bestimmten sozialen Gruppen orientierte Darstellung - also eine Wissensgeschichte der Farbstoffe. Wenn jedoch nicht mehr auf eine dezidierte Expertenkultur als Träger des Wissens verwiesen werden kann, dann ergibt sich umso stärker die Notwendigkeit, das Wissen gesellschaftlich zu verorten und zu kontextualisieren. Der in diesem Kontext zu wählende Paradigmenbegriff unterscheidet sich notwendigerweise von seiner Verwendung bei Kuhn und Dosi, denen es um die unmittelbare Modellierung wissenschaftlichen und technischen Fortschritts in der jeweiligen Expertenkultur geht. Hier interessiert dagegen die Generierung von Wandel in einem System von Wissensbeständen und Praktiken, wobei sich die Trägerschaft des Wandels verändern kann. In diesem Sinn bezeichnet Paradigma weder eine dogmatische Weltsicht noch eine technologische Musterlösung, sondern die einer jeweils relevanten Akteurskonstellation eigene Denk- und Handlungsstrategie, die - gezielt oder ungewollt - zu Neuerungen in einem Wissensfeld führt. Während bei Kuhn und Dosi die Spanne zwischen zwei Paradigmenwechseln eine Phase gebremster Innovationstätig-keit ist - da sich Fortschritt in der kleinteiligen Ausarbeitung und Verfeinerung der "großen Idee" äußert -, bezieht sich das hier gewählte Konzept des Paradigmas als Denk- und Handlungsstrategie auf den Modus der Innovationstätigkeit selbst. Im Folgenden wird ein solches Paradigma daher zur besseren Unterscheidung als "Innovationsparadigma" bezeichnet. Unter Innovation ist dabei nicht nur das Generieren neuer Produkte zu verstehen, sondern jedwede Neuerung im Wissenssystem - im Hinblick auf die Farbstoffwirtschaft zum Beispiel auch Veränderungen in der Erzeugung und in der Verarbeitung be-reits bekannter Materialien. Ein Paradigmenwechsel im hier gewählten Sinn markiert also nicht die Zä-sur zwischen zwei "ruhigen" Phasen ohne bedeutende Innovationen, sondern zwischen Phasen mit jeweils unterschiedlicher Art und Weise, Innovationen zu generieren. Ein Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte wäre der Übergang vom naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn durch Naturbeobachtung zum Erkenntnisgewinn durch Laborexperimente. Auch die Akteurskonstellation kann sich verändern: So wurden beispielsweise neue Spezialeffekte in Spielfilmen früher von Modellbauern und Pyrotechnikern geschaffen, nun werden sie von Computerspezialisten und Grafikdesignern kreiert. Das Generieren von Innovation muss nicht notwendigerweise eine schöpferische Tätigkeit sein - in einem räumlich begrenzten Wissenssystem kann ein Innovationsparadigma einfach im Import externer Wissensbestände bestehen. Beispiele hierfür sind die mittelalterliche europäische Rezeption arabischer Naturkenntnisse oder das gegenwärtige, nach westlichem Verständnis illegitime Kopieren westlicher Produkte durch die chinesische Industrie. Innovationsparadigmen sind nicht wechselseitig exklusiv. Es ist möglich, dass mehrere konfliktfrei nebeneinander existieren, sich überlappen und gegenseitig beeinflussen. Dennoch können sie sich, ebenso wie die Paradigmen im Sinne von Kuhn und Dosi, als zunehmend problematisch erweisen und abgelöst werden. Innovationsparadigmen entwickeln sich jedoch nicht immanent in ihrer Expertenkultur und stellen keine rein ideengeschichtlichen Konstrukte dar, sie sind in ihrer Anwendbarkeit und Gültigkeit auch und gerade von den sich wandelnden historischen Rahmenbedingungen abhängig. Für die Ablösung eines Innovationsparadigmas können somit intrinsische und extrinsische Motive bestehen - das Paradigma kann sich in seiner inneren Entwicklungslogik erschöpfen oder durch eine Veränderung der äußeren Rahmenbedingun-gen an Wirksamkeit oder Relevanz einbüßen. Aufgrund dieses Nebeneinanders innerer und äußerer Faktoren determinieren Innovationsparadigmen den Entwicklungsgang der Farbstoffwirtschaft nicht strikt, sie entwickeln vielmehr eine nur begrenzte Eigendynamik - "Momentum" (Thomas P. Hughes) - und erzeugen mittelfristige Pfadabhängigkeiten. Dies verweist auf die Interdependenz der verschiedenen im Rahmen dieser Arbeit notwendigerweise linear aneinandergereihten Untersuchungsfelder: Wissenssysteme gehen der wirtschaftlichen Verwertung von Farbstoffen zwar voraus, doch hängt die Weiterentwicklung der Systeme ihrerseits von aus der Verwertung rückwirkenden Faktoren ab. Wenn also im Folgenden vier Innovationsparadigmen für die Farbstoffwirtschaft - merkantile Integration, ökonomische Botanik, kunstfertiges Färben und künstliche Farben - in grober chronologischer Abfolge identifiziert werden, so sind damit nicht nur die potentiellen Entwicklungspfade der Farbstoffmärkte markiert, sondern zugleich relevante Felder für die spätere Untersuchung der ökonomischen, organisatorischen und kulturellen Dimension der Märkte aufgezeigt.
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2009 |
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Reihe/Serie | Globalgeschichte ; 5 |
Zusatzinfo | 42 Grafiken, 22 Abbildungen, 11 Tabellen |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 142 x 214 mm |
Gewicht | 510 g |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeine Geschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Technikgeschichte | |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Wirtschaftsgeschichte | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Farben • Farbstoffe • Farbstoff / Farbstoffchemie • Frühe Neuzeit • Globalgeschichte • Globalisierung • Hardcover, Softcover / Geschichte/Regionalgeschichte, Ländergeschichte • Neuzeit; Sozial-/Wirtschafts-Geschichte • Stoff-Farben • Welthandel • Weltmarkt • Wirtschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-38869-3 / 3593388693 |
ISBN-13 | 978-3-593-38869-4 / 9783593388694 |
Zustand | Neuware |
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