Wie man politisch denken soll (eBook)
236 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-5947-3 (ISBN)
Jörg H. Bäcker ist ein Pseudonym. Der Autor hat ein Studium der Politischen Wissenschaften, der Philosophie und der vergleichenden Religionswissenschaften absolviert.
2 Die Prinzipien des freiheitlich säkularen Staats
2.1 Die Legitimation des freiheitlich säkularen Staats
Gottesstaaten und weltliche Staaten von Gottes Gnaden beziehen ihre Legitimation über die Autorität der jeweiligen göttlichen Offenbarung. Bezüglich feudaler Herrscher wird argumentiert, dass die jeweilige feudale Ordnung dem Willen Gottes entspricht. Im Zuge der Aufklärung sehen wir eine Verschiebung der Argumentation. Nun wird nicht mehr die religiöse Offenbarung zur Legitimation des absolutistischen Herrschers herangezogen, sondern diese Legitimation wird aus der Natur des Menschen, aus sozialen Notwendigkeiten und aus der Geschichte hergeleitet. Letztere sind aber keine absoluten Prinzipien in dem in diesem Buch definierten Sinne. Vermutlich konnte sich der aufgeklärte Absolutismus deswegen nur in einer Übergangszeit behaupten. Welche Legitimationsgrundlage soll nun der freiheitlich säkulare Staat für sich beanspruchen? Legitimationstheorien des Staates sind in der Politikwissenschaft ein weites Feld, das ich hier nicht weiter beackern will. Der freiheitlich säkulare Staat basiert auf dem absoluten Prinzip der individuellen Vernunft. Dieses Prinzip ist jedoch für die Mehrheit zu anspruchsvoll, sie können es politisch nicht mit Leben füllen. Was bleibt? Letztendlich kann sich der freiheitlich säkulare Staat nur dadurch legitimieren, indem er funktioniert. Was ist unter „funktionieren“ zu verstehen. Da sind grundlegende Dinge der staatlichen Organisation zu nennen, angefangen vom zur Verfügung stellen öffentlicher Güter oder einem ordnungspolitischen Rahmen, der es ermöglicht solche Güter wie Strom- und Wasserversorgung privatwirtschaftlich anbieten zu können, bis hin zu eher ideellen Dingen wie Rechtssicherheit und Durchsetzbarkeit von Recht. Letzteres erfordert unabhängige Richter und Staatsanwälte (in Deutschland sind die Staatsanwälte politisch weisungsgebunden) und eine personell und materiell ausreichend ausgestattete Justiz. Auch eine funktionierende Verwaltung ist essentiell, damit ein Staat als „funktionierend“ bezeichnet werden kann. Die Verwaltungsebene muss auch qualitativ entsprechend aufgestellt sein, die Besetzung von gehobenen Positionen in diesem Bereich nicht nach Qualifikation, sondern nach Quote, mit Parteigängern oder anderen, denen man etwas Gutes tun will, führt nicht zu einer guten Funktionalität des Staatswesens und trägt damit zur Delegitimierung des Staates bei. Auch eine sinnvolle Wirtschaftspolitik, die einen gewissen Wohlstandslevel garantiert, ist wichtig, denn ohne diesen lassen sich die vielfältigen Aufgaben des Staates nur unzureichend finanzieren, was wiederum seine Dysfunktionalität fördert, ganz davon abgesehen, dass den meisten Menschen Wohlstand wichtig ist und ein Staat, der nicht willens oder imstande ist diesen zu gewährleisten, verliert an Legitimation. Die Liste dieser Art von staatlichen Legitimationsgrundlagen liesse sich noch deutlich verlängern, doch ich belasse es bei dem Gesagten. Alle, die aus Opportunismus oder schlichter Dummheit die Funktionalität des Staates in diesem Sinne gefährden, delegitimieren mit ihrem Verhalten gleichzeitig den freiheitlich säkularen Staat, denn dieser hat, wie schon gesagt, als wichtige Legitimitätsgrundlage sein zufriedenstellendes Funktionieren zu bieten.
Einen relativ gut funktionierenden Staat in diesem Sinne können auch autoritäre Staaten zustande bringen, inwiefern funktioniert ein freiheitlicher Staat dann besser als ein autoritärer oder gar totalitärer Staat? Wie schon ausgeführt, geht alle Politik von Gefühlen aus, die sich in der Praxis manchmal ins Gehege kommen, z.B. Sicherheitsbedürfnis versus Freiheit usw. Der gewaltige Unterschied zwischen dem freiheitlich säkularen Staat und allen anderen Staatsformen besteht darin, dass der freiheitlich säkulare Staat am wenigsten schlecht diese Gefühle gegenseitig austariert. Wie schon ausgeführt, verwende ich einen erweiterten Gefühlsbegriff, der auch Wünsche Bedürfnisse, Ängste und Triebe umfasst. Weiter wird in einem freiheitlich säkularen Staatswesen das Individuum weniger stark an seiner freien Entfaltung gehindert als in allen anderen Staatsformen. Der freiheitlich säkulare Staat gehört zu den Staatsformen, die wahrscheinlich am besten die ubiquitären politischen Dämonen hemmen, die die Menschheit seit Alters her heimsuchen. Das dem so ist, ergibt sich aus der Empirie, also der Geschichte. Alles andere ist Ideologie. Die Anschauung, dass dies ein großer Vorzug des freiheitlich säkularen Staats ist, entspringt zu einem Teil auch einem Gefühl, dass sich vielleicht am trefflichsten als Gefühl einer allgemeinen Freiheit beschreiben lässt, welches als Quelle von Glück empfunden wird. Mit anderen Worten, der freiheitlich säkulare Staat vermittelt und begründet eine spezielle Art von Glück, dieses Glücksempfinden trägt zu seiner Legitimation bei. Ein Ideologe – ob religiöser Natur oder nur politisch – kennt in der Regel dieses Gefühl nicht und wenn er es kennt, dann hasst er es oder er missgönnt es anderen. So können wir in Ergänzung zur Definition der Ideologie im zweiten Hauptsatz der politischen Vernunft, Ideologie oder politisch relevante Religion als jene Geistesverfassung definieren, die dieses Gefühl nicht kennt oder ablehnt. Als Bedingung hat dieses Gefühl die Vorstellung, dass ich meine Mitmenschen als Individuen anerkenne und ihnen als solche jeweils unterschiedliche Gefühle und intellektuelle Sichtweisen zubillige, von denen man meistens nicht mit Sicherheit sagen kann, welche richtig und welche falsch sind. Die Konsequenz dieser Denkweise ist die persönliche Freiheit des Einzelnen. So ist der gelebte Individualismus unabdingbare Voraussetzung für den freiheitlich säkularen Staat. Aber um eines klar zu sagen: Alle die versuchen und alles was versucht die Herausbildung dieses Gefühls zu unterdrücken, darf nicht toleriert werden und muss mit angemessenen Mitteln bekämpft werden. Andernfalls gibt sich der freiheitlich säkulare Staat selbst auf. Wie ich gezeigt habe, kämpft der Neomarxismus wie andere Ideologien auch, gegen die Herausbildung dieses Gefühls, denn der Neomarxismus glaubt an seinen allein seligmachenden Wahrheitsgehalt. Der Poststrukturalismus legt dagegen eine Pseudotoleranz an den Tag. Zur echten Toleranz gehört die Anerkennung des Individuums, zu welchem der Poststrukturalismus gar nicht fähig ist. Diese Pseudotoleranz erkennt man leicht an der Aggressivität und kompletten Intoleranz der Woken, der „LGBTQ“ – Jünger, der Postkolonialisten und anderer Ableger des Poststrukturalismus gegenüber Andersdenkenden. Und über den Islam brauchen wir erst gar nicht reden.
Zu diesem „Funktionieren“ gehört auch die Bereitstellung oder Vermittlung von Werten und Identität. In einer in geschichtlichen Dimensionen gesehenen kurzen Zeit hat der Nationalismus eine solche Identitätsvermittlung ermöglicht. Böckenförde beschreibt, wie der säkulare Nationalstaat sogar die Rolle der Religion hinsichtlich der Bildung einer gesellschaftlichen Homogenitätsgrundlage vorübergehend übernommen hat124. Der Nationalstaat ist bei großen Teilen der Eliten aber in Ungnade gefallen, da man ihn für Kriege, Fremdenfeindlichkeit und anderes verantwortlich macht. Allerdings können die Kritiker des Nationalstaats keine funktionierenden Alternativen anbieten, was sie aber nicht davon abhält, alles Nationalstaatliche abzuwracken. Böckenförde ist an gleicher Stelle auch skeptisch bezüglich zweier anderer Faktoren, die den freiheitlich säkularen Staat konstituieren könnten. Das sind zum einen die „Wertüberzeugungen“, die eine „Homogenitätsgrundlage“ bilden sollen, das bedeutet vereinfacht ausgedrückt, alle glauben an dieselben Werte und bilden so eine Gemeinschaft. Das wird manchmal als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet. Böckenförde schreibt dazu:
„Aber dieser Rekurs auf die `Werte´, auf seinen mitteilbaren Inhalt befragt, ist ein höchst dürftiger und auch gefährlicher Ersatz; er öffnet dem Subjektivismus und Positivismus der Tageswertungen das Feld, die, je für sich objektive Geltung verlangend, die Freiheit eher zerstören als fundieren.“125
Nun, diese „Tageswertungen“ von der Böckenförde spricht, sind aktuell nichts anderes als der Angriff des Poststrukturalismus und des Neomarxismus auf die Errungenschaften der Aufklärung und der Renaissance, welche durchaus einen gewissen Absolutheitscharakter aufweisen und keineswegs irgendwelchen „Tageswertungen“ unterliegen. Das Problem mit diesen Werten ist eher, sie sind für zu viele zu anspruchsvoll, bzw. vielen, die aus archaischen Kulturen stammen, sind diese Werte völlig fremd.
Zum anderen spricht Böckenförde davon, dass der Staat versuchen kann sich „zum Erfüllungsgaranten der eudämonischen Lebenserwartung der Bürger“ zu machen. Nun ist das Motiv, seine Bürger glücklich machen zu wollen, keineswegs ehrenrührig, ganz im Gegenteil trägt eine solche Strategie durchaus zur Stabilität...
Erscheint lt. Verlag | 6.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Böckenförde Dilemma • Ideologiekritik • Kritik des Neomarxismus • Kritik des Poststrukturalismus • Politische Philosophie |
ISBN-10 | 3-7693-5947-X / 376935947X |
ISBN-13 | 978-3-7693-5947-3 / 9783769359473 |
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