Ausgangspunkte (eBook)
390 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97066-2 (ISBN)
Karl R. Popper, geboren am 28. Juli 1902 in Wien, gestorben am 17. September 1994 bei London. Er emigrierte 1937 nach Neuseeland, wo er am University College in Christchurch lehrte. Von 1946 bis 1969 war er Professor an der London School of Economics. 1965 wurde er von Königin Elizabeth II. geadelt. Von seinen zahlreichen Büchern liegen auf deutsch unter anderem vor: »Das Ich und sein Gehirn« (mit John C. Eccles), »Auf der Suche nach einer besseren Welt« und sein in Deutschland erfolgreichstes Buch »Alles Leben ist Problemlösen«. Zuletzt erschien »Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens«.
Karl R. Popper, geboren am 28. Juli 1902 in Wien, gestorben am 17. September 1994 bei London. Er emigrierte 1937 nach Neuseeland, wo er am University College in Christchurch lehrte. Von 1946 bis 1969 war er Professor an der London School of Economics. 1965 wurde er von Königin Elizabeth II. geadelt. Von seinen zahlreichen Büchern liegen auf deutsch unter anderem vor: »Das Ich und sein Gehirn« (mit John C. Eccles), »Auf der Suche nach einer besseren Welt« und sein in Deutschland erfolgreichstes Buch »Alles Leben ist Problemlösen«. Zuletzt erschien »Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens«.
3 Der Einfluß des Elternhauses
In meinem Elternhaus spielten Bücher eine große Rolle. Mein Vater, Dr. Simon Siegmund Carl Popper, war ebenso wie seine beiden Brüder Jurist und Absolvent der Wiener Universität. Er hatte eine große Bibliothek, und es gab überall Bücher – mit Ausnahme des Speisezimmers, in dem ein Bösendorfer Konzertflügel stand und viele der Werke von Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms. Mein Vater, der ein Zeitgenosse Sigmund Freuds war und dessen Werke bei ihrem Erscheinen las, war Rechtsanwalt. Über meine Mutter, Jenny Popper (ihr Mädchenname war Schiff), werde ich mehr sagen, wenn ich auf Musik zu sprechen komme. Mein Vater war ein guter Redner. Ich hörte nur eine seiner Verteidigungsreden, im Jahre 1924 oder 1925, als ich selbst der Angeklagte war. Meiner Meinung nach war der Fall ganz klar.[2] Ich hatte deshalb meinen Vater nicht gebeten, mich zu verteidigen; und es war mir peinlich, daß er darauf bestand. Aber die Einfachheit, Klarheit und Gradlinigkeit seiner kurzen Rede machten auf mich einen großen Eindruck.
Mein Vater arbeitete angestrengt in seinem Beruf. Er war ein Freund und Mitarbeiter von Dr. Carl Grübl gewesen, dem letzten liberalen Bürgermeister von Wien (ein Vorgänger von Dr. Karl Lueger), und er hatte Grübls Kanzlei übernommen. Die Kanzlei war ein Teil unserer großen Wohnung, im Herzen von Wien, gegenüber dem Riesentor der Stephanskirche.[3] Mein Vater arbeitete viel in seiner Kanzlei, aber er war eigentlich mehr ein Gelehrter als ein Rechtsanwalt. Er interessierte sich für Geschichte (der historische Teil seiner Bibliothek war groß), besonders für die hellenistische Periode und für das 18. und 19. Jahrhundert. Er schrieb Gedichte, und er übersetzte griechische und lateinische Dichter ins Deutsche, sprach aber nur selten über diese Dinge. Ganz zufällig fand ich eines Tages eine unbeschwert heitere Vers-Übersetzung von Horaz. Zu den besonderen Gaben meines Vaters gehörten eine gewisse Leichtigkeit des Stils und ein stark entwickeltes Gefühl für Komik. An der Philosophie war er sehr interessiert. Ich besitze noch seinen Platon, Bacon, Descartes, Spinoza, Locke, Kant, Schopenhauer und Eduard von Hartmann; John Stuart Mills Gesammelte Werke in einer deutschen Übersetzung, herausgegeben von Theodor Gomperz, dessen Griechische Denker er sehr schätzte; die meisten Werke von Kierkegaard, Nietzsche und Eucken und die von Ernst Mach; Fritz Mauthners Kritik der Sprache und Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (beide Werke scheinen einen Einfluß auf Wittgenstein gehabt zu haben[4]); und Übersetzungen von Darwins Werken. Bilder von Darwin und Schopenhauer hingen in seinem Studierzimmer. Dann gab es natürlich die deutschen, französischen, englischen, russischen und skandinavischen Klassiker. Aber eines seiner Hauptinteressen galt dem Studium der »sozialen Frage«: Er hatte nicht nur die Werke von Marx und Engels, von Lassalle, Karl Kautsky und Eduard Bernstein, sondern auch die der Kritiker von Marx: Böhm-Bawerk, Carl Menger, Anton Menger, Peter Kropotkin und Josef Popper-Lynkeus (offenbar ein entfernter Verwandter, denn er stammt aus Kolin, einer kleinen böhmischen Stadt, aus der mein Großvater kam). Die Bibliothek hatte auch eine pazifistische Abteilung mit Büchern von Bertha von Suttner, Friedrich Wilhelm Förster und Norman Angell.
Bücher waren daher ein Teil meines Lebens, lange schon bevor ich lesen konnte. Das erste Buch, das einen großen und bleibenden Eindruck auf mich machte, wurde meinen beiden Schwestern und mir (ich war das jüngste von drei Kindern) von meiner Mutter vorgelesen. Es war ein Buch, das die große schwedische Dichterin Selma Lagerlöf für Kinder geschrieben hatte. Es hieß in der ausgezeichneten deutschen Übersetzung Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Viele, viele Jahre lang las ich das Buch mindestens einmal im Jahr; und im Lauf der Zeit las ich mehrere Male wahrscheinlich alles, was Selma Lagerlöf geschrieben hat. Ihr berühmter erster Roman Gösta Berling gehört nicht zu meinen Lieblingsbüchern, obwohl es zweifellos ein bedeutendes Buch ist. Aber jedes ihrer andern Bücher ist, so glaube ich noch immer, ein Meisterwerk.
Lesen zu lernen und, in einem geringeren Grad, schreiben zu lernen sind natürlich die wichtigsten Ereignisse in unserer intellektuellen Entwicklung. Es gibt nichts, was damit zu vergleichen wäre, denn nur wenige Menschen (Helen Keller ist die große Ausnahme) können sich daran erinnern, was es für sie bedeutet hat, sprechen zu lernen. Ich werde meiner ersten Lehrerin, Emma Goldberger, die mich lesen, schreiben und rechnen lehrte, immer dankbar sein. Ich glaube, daß man einem Kind nur lesen, schreiben und rechnen beizubringen braucht; und für manche Kinder ist nicht einmal das notwendig: Sie lernen es von selbst. Alles andere kommt durch den Einfluß der Umwelt – durch die Atmosphäre, in der man aufwächst – und durch Lesen, Sprechen und Denken.
Abgesehen von meinen Eltern, meiner ersten Lehrerin und Selma Lagerlöf hatte mein Freund Arthur Arndt den größten Einfluß auf meine Entwicklung. Arthur Arndt war mit Ernst Moritz von Arndt verwandt, einem der berühmten Begründer des deutschen Nationalismus zur Zeit der Napoleonischen Kriege.[5] Arthur Arndt aber war ein sehr entschiedener Gegner des Nationalismus. Obwohl deutscher Abstammung, war er in Moskau geboren, wo er auch seine Jugend zubrachte. Er war ungefähr zwanzig Jahre älter als ich – also fast dreißig, als ich ihn 1912 das erstemal traf. Er war Ingenieur und hatte an der Universität Riga studiert. Und während der mißlungenen Russischen Revolution von 1905 war er einer der Führer der Rigaer Studenten gewesen. Er war Sozialist, aber er mißtraute den Bolschewiken, von denen er einige der Führer aus der Zeit von 1905 persönlich kannte. Er beschrieb sie als die Jesuiten des Sozialismus, als Menschen, die imstande seien, Unschuldige zu opfern, auch die, die ihnen sehr nahestanden; denn ihre großartigen Endziele rechtfertigten alle Mittel. Arndt war kein überzeugter Marxist, aber er glaubte, daß Marx der bedeutendste Theoretiker des Sozialismus sei. Er fand in mir einen willigen Zuhörer für seine sozialistischen Ideen: Nichts konnte wichtiger sein, als der Armut ein Ende zu machen.
Arndt war auch, noch mehr als mein Vater, an der Bewegung interessiert, die von den Schülern von Ernst Mach und Wilhelm Ostwald begründet wurde: von den sogenannten Monisten. (Zwischen den deutschen und österreichischen Monisten und der berühmten amerikanischen Zeitschrift The Monist, zu der Mach beitrug, bestand eine enge Verbindung.) Die Monisten waren an den Naturwissenschaften interessiert, an der Erkenntnistheorie und an dem, was heute »Wissenschaftstheorie« genannt wird. Viele Wiener Monisten waren Anhänger des »halb-sozialistischen« Josef Popper-Lynkeus, unter ihnen auch Otto Neurath.
Das erste sozialistische Buch, das ich las (wahrscheinlich unter dem Einfluß von Arthur Arndt – es widerstrebte meinem Vater, mich politisch zu beeinflussen), war Edward Bellamys Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 (Looking Backward). Ich muß damals ungefähr zwölf gewesen sein, und das Buch machte einen großen Eindruck auf mich. Arndt nahm mich auf die sonntäglichen Ausflüge der Monisten in den Wienerwald mit, und da wurden Marxismus und Darwinismus diskutiert. Zweifellos überstieg das meiste davon meine Auffassungsfähigkeit. Aber es war interessant und aufregend.
Einer dieser Sonntagsausflüge der Monisten fiel auf den 28. Juni 1914. Gegen Abend, als wir uns der Wiener Stadtgrenze näherten, hörten wir, daß Erzherzog Franz Ferdinand, der österreichische Thronfolger, in Sarajewo ermordet worden war. Etwa zwei Wochen später fuhr meine Mutter mit meinen beiden Schwestern und mir nach Altaussee, einem Dorf unweit von Salzburg, wo wir unsere Sommerferien verbrachten. Und in Altaussee, an meinem zwölften Geburtstag, bekam ich einen Brief von meinem Vater, in dem er schrieb, daß es ihm leid tue, nicht zu meinem Geburtstag kommen zu können, wie er es vorgehabt habe, »denn es ist leider Krieg«. Da der Brief am Tag der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien ankam, so muß mein Vater ziemlich sicher gewesen sein, daß der Krieg ausbrechen würde.
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Übersetzer | Friedrich Griese |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Östliche Philosophie |
Schlagworte | Begründer des kritischen Realismus • britische Philosophie • großer Denker • Lebens- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts • Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-492-97066-4 / 3492970664 |
ISBN-13 | 978-3-492-97066-2 / 9783492970662 |
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