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Die Abschaffung des Todes (eBook)

Säkularistische Ewigkeiten vom 18. bis ins 21. Jahrhundert
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
604 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45675-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Abschaffung des Todes -  Carolin Kosuch
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In menschlichen Gesellschaften gilt der Leichnam als besonderer Körper. Das Weiterverfahren mit ihm folgte in Europa seit der Spätantike überwiegend christlichen Traditionen. Das bis dahin religiös besetzte Überdauern nach dem Tod erfuhr indes in den westlichen Modernen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine weltanschauliche Entzauberung: Vorwiegend männliche Akteure suchten dem Tod durch Technik, Medizin und Wissenschaft beizukommen und so eine innerweltliche Ewigkeit, zumindest aber Ordnung von und Kontrolle über Tod und Verfall zu schaffen. Carolin Kosuch erzählt eine neue Geschichte des Todes. Ihre Studie spannt den Bogen von der sich transnational entwickelnden Feuerbestattung des langen 19. Jahrhunderts bis hin zu Körperkonservierungsverfahren und zum Tod im Digitalen des 21. Jahrhunderts. Ganz besonders blickt sie dabei auf die Geschichte des Säkularismus, des Körpers, des Geschlechts und der Emotionen.

Carolin Kosuch, PD Dr. phil., ist Historikerin und lehrt an der Universität Göttingen.

Carolin Kosuch, PD Dr. phil., ist Historikerin und lehrt an der Universität Göttingen.

1.Die Revolution der Tradition


1.1Das Überdauern des Menschen zwischen Utopie, Philosophie und Wissenschaft


Der Protagonist des 1771 von Louis-Sébastien Mercier publizierten, bereits zu Lebzeiten des Autors viel gelesenen und übersetzten Romans LAn 2440 nimmt die Lesenden mit auf eine Zeitreise. Sie führt aus der Stadt Paris des Jahres 1769 in die Metropole der Zukunft, in der sich Merciers Reisender plötzlich, aus einem langen Schlaf erwacht, als Greis wiederfindet. Die im Buch notierten Beobachtungen des Protagonisten fokussieren die augenscheinlichsten sozialen, institutionellen und kulturellen Veränderungen in der Kapitale. Dabei spiegeln die von Mercier in der Fiktion imaginierten Neuerungen bestimmte reale Entwicklungen und Konzeptionen des 18. Jahrhunderts wider, die er im Roman aufgreift und weiterdenkt. Obgleich fiktional, erscheint die Handlung doch nicht utopisch. Weil Mercier sie an einem konkreten Ort und in einer konkreten Zeit spielen lässt, entsteht der Eindruck, sein Roman beschreibe eine denk- und greifbare Zukunft.208

Merciers Zeitreisender berichtet neben vielem anderen über die Bestattungsmodi, wie sie sich ihm in der Stadt des 25. Jahrhunderts präsentieren. Auch weltanschauliche Besonderheiten der Epoche des Autors, speziell materialistische Vorstellungen und die Verehrung eines abstrakten Höchsten Wesens, fließen mit in die Schilderung des Protagonisten ein. Im Jahr 2440, so machen es seine Aufzeichnungen deutlich, kommt der Tod einem Triumphzug gleich. Bestehende Bestattungstraditionen und Überzeugungen werden als antiquiert und verkommen abgetan. An ihrer statt wird eine neue Sichtweise ausgelobt, die das Leben feiert und den Tod marginalisiert:

»Diejenigen, die dieses Leben verlassen, die über das menschliche Elend gesiegt haben, die glücklichen Menschen, die sich wieder mit dem höchsten Wesen, der Quelle alles Guten, vereinigen werden, sieht man als Sieger an: sie sind uns heilig, und man trägt sie mit Ehrfurcht an den Ort, der ihre ewige Wohnung seyn wird. Man singt den Gesang auf die Verachtung des Todes. Anstatt jener entfleischten Totenköpfe, die Eure Grabmäler schmückten, sieht man hier Köpfe mit einer lächelnden Miene: unter diesem Anblick betrachten wir den Tod.«209

Auch die Feuerbestattung ist Teil der bei Mercier vorgestellten Sepulkralkultur der Zukunftsgesellschaft:

»Diese Körper werden drey Meilen von der Stadt zu Asche verbrannt. Oefen, die allezeit zu dieser Absicht brennen, verzehren diese sterblichen Hüllen. […] Aller Unterschied höret mit dem Tode auf, und wir führen wieder die Gleichheit ein, die die Natur unter ihren Kindern beobachtet hat. Die verwesliche Materie, die ihren Körper ausmachte, gehört ihnen nicht mehr zu: sie wird sich mit der Asche derer, die ihnen gleich sind, vermischen und man verbindet mit dieser vergänglichen Hülle keinen Gedanken von Vorzug.«210

Städtische Amtsträger besiegeln in der Stadt der Zukunft den Tod. Sie registrieren Alter, Geschlecht und Krankheit der Verstorbenen und machen diese Angaben zusammen mit dem Namen jenes Arztes öffentlich, der die Sterbenden begleitet hat.211

Die Menschen, mit denen Merciers Reisender in Kontakt tritt, hegen spezifische Gottes- und Seelenvorstellungen.212 Gott, so teilen sie ihm mit, sei ihnen das unerschaffene, ungeteilte Wesen. Sie denken es in Anlehnung an aufgeklärte Bildsprache213 als einen die menschliche Ratio erhellenden Lichtstrahl. Dank der von diesem Wesen festgelegten, allseits gültigen, einfachen und jeder vernunftbegabten Existenz ersichtlichen Gesetze soll es ohne Aufwand erfasst werden können.214 Beseelt sind in der Weltanschauung des Jahres 2440 sowohl Menschen als auch Tiere, allerdings unterscheiden sich ihre Seelen im Grad ihrer Vollkommenheit. Das Universum selbst wird als ein belebter und besiedelter Ort gedacht, wobei die Seelen im Streben nach Perfektionierung zu den bewohnten Welten »wie auf einer glänzenden und stufenweisen Leiter«215 aufsteigen. Nichts, was je gelernt wurde, geht verloren oder wird vergessen. Hat eine Seele einmal eine Stufe an Wissen und Tugenden hinter sich gelassen, klettert sie zur nächsthöheren Welt. Der Tod kann diesem Prozess nichts anhaben: »Entwickle alle Deine Kräfte, verachte den Tod: nur dir koemmt es zu, ihn zu überwinden und Dein Leben zu vermehren, welches der Gedanke ist.«216 Lasterhafte und faule Seelen fallen auf der von Mercier imaginierten Leiter hingegen zurück. Fern vom göttlichen Licht sind sie der Materie, dem tierischen Leben und der Finsternis anheimgestellt.217

Dass ein aufgeklärter französischer Schriftsteller wie Mercier mit solchen, etablierte christliche Narrative zur Disposition stellenden Anschauungen spielte, kommt nicht von ungefähr. In seinem Roman bündelte er vielmehr das materialistische218 und deistische219 Ideengut seiner Epoche. Vor allem aber ist die bei ihm vorgestellte Weltanschauung der Zukunft durch Erkenntnisse und Theoreme der zeitgenössischen, auf Beobachtung und Experiment beruhenden Naturforschung Georges-Louis Leclercs, Comte de Buffon inspiriert. Dieser hatte das Konzept der Stufenleiter des Lebens ausformuliert und zudem kosmologische Forschungen betrieben.220 Antiklerikal aufgeladen und antichristlich konnotiert, begegnen solche und vergleichbare Deutungen des Daseins in verschiedenen Texten der Zeit wieder. Sie wirkten auf die Fest- und Feiertagskultur, den Kalender und zahlreiche politische und soziale Institutionen der Revolutionszeit ein, darunter auch das Bestattungswesen.221 Zugespitzt lässt sich konstatieren, dass im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht nur die politische und gesellschaftliche Ordnung, sondern mit ihr auch der Tod so tiefgehend revolutioniert wurde, dass trotz aller Bemühungen um Restauration und Rechristianisierung der nachnapoleonischen Zeit eine gänzliche Rückkehr zum Status quo ante nicht möglich war.222

Ungeachtet solcher weltanschaulichen Neuerungen und ihrer Rezeption war und blieb Frankreich in dieser Zeit katholisch geprägt.223 Dies zeigte sich ganz konkret im Alltag. Der Lebenszyklus von Männern, Frauen und Kindern war eingebunden in ein Netz aus festlichen religiösen Zeremonien wie der Taufe, der Firmung, der Eheschließung und der Bestattung. Hinzu kamen den Jahreslauf überindividuell strukturierende katholische Feiertage, die neben den Hochfesten auch Gedenk- und Festtage zu Ehren von Heiligen und Schutzpatronen umfassten. Kirchen, Kapellen, Bildungseinrichtungen und Kirchhöfe bildeten die räumlichen Ankerpunkte einer katholisch verwurzelten Gesellschaft. Zudem konturierte ein katholisch determiniertes Werte- und Normengerüst Denken, Fühlen und Handeln der Mitlebenden dieses Zeitalters.224 Kurzum: »Catholicism […] sacralized key moments in the lives of both individuals and communities.«225 Dabei dürfen die katholisch-christliche Prägung und die religiösen Institutionen nicht statisch gedacht werden. Im Zuge gesellschaftlicher und kultureller Wandlungsprozesse veränderten sich ihre Erscheinungsformen und Aufgaben. Dank ihrer Anpassungsfähigkeit bestimmte Religion das Sozialwesen fortgesetzt mit.226

Der Katholizismus war in Frankreich, dessen soziopolitische Verfasstheit spätestens seit Ludwig XIV. royalistische Züge trug, bis zum Jahr 1789 Staatsreligion.227 Neben der engen Bindung dieser Konfession und ihrer hochrangigen Vertreter an den absolutistischen Herrscher228 beeinflusste der Katholizismus auf politischer Ebene besonders über die mit ihm unmittelbar assoziierte bürgerschaftliche Teilhabe die Gesellschaft und ihre Mitglieder. Bürgerrechte waren auch in Frankreich an die Zugehörigkeit zum Bekenntnis des Herrschers gekoppelt, was sich auf berufliche, soziale, religiöse und juristische Belange jener auswirkte, die es nicht teilten. Protestantische,...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Reihe/Serie Campus Historische Studien
Campus Historische Studien
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Avatare • Beerdigung • Beisetzung • Bestattung • Digitale Friedhöfe • Ewigkeit • Feuerbestattung • Geschichte • Geschichte der Emotionen • Geschichte der Feuerbestattung • Geschichte des Säkularismus • Geschlechtergeschichte • Hygiene • Ideengeschichte • Kirchen • Körperbestattung • Körpergeschichte • Körperkonservierungsverfahren • Krematorium • Leichnam • Mindupload • Moderne • Risorgimento • Säkularisierung • Staat • Technikgeschichte • Tod • Tod im Digitalen • Unsterblichkeit
ISBN-10 3-593-45675-3 / 3593456753
ISBN-13 978-3-593-45675-1 / 9783593456751
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