Platon. Eine Einführung (eBook)
260 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962173-9 (ISBN)
Bettina Fröhlich, geb. 1966, lehrt als Privatdozentin am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Bettina Fröhlich, geb. 1966, lehrt als Privatdozentin am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Platon und seine Interpreten
I. Leben und Werk
II. Aufstieg zur Erkenntnis des Guten
1. Leben in der Höhle
2. Umkehr zur Suche nach der Wahrheit
3. Aufstieg zur Erkenntnis im Tugenddialog
4. Grund und Ziel: Idee des Guten
5. Bildung zum Aufstieg
6. Der sokratische Weg des Aufstiegs
III. Das Gute in Seele, Polis und Kosmos
1. Tugend als Ordnung der Seele
2. Gerechtigkeit als Ordnung der Polis
3. Vernunft als Ordnung des Kosmos
IV . Rückstieg: Kritik der Vorsokratik
1. Sein: Materie oder Geist?
2. Erkenntnis: Wahrnehmung oder Denken?
3. Sprache: Konvention oder Natur?
4. Gutes Leben: Lust oder Wissen?
Platon heute
Anmerkungen
Literaturhinweise
Schlüsselbegriffe
Zeittafel
Register
Zur Autorin
[46]II. Aufstieg zur Erkenntnis des Guten
1. Leben in der Höhle
Das Höhlengleichnis als Bild des Aufstiegs
Der Aufstieg zur Erkenntnis des Guten bildet das innerste Zentrum der platonischen Philosophie. Platon spricht dem Aufstieg keine geringere Leistung zu als die Begründung des theoretischen Wissens und des praktischen Handelns. Die Erkenntnis des Guten bezeichnet bei Platon die Erfüllung des Menschseins überhaupt. Es vermag von daher kaum zu überraschen, dass die Thematik des Aufstiegs in allen Werkphasen präsent ist. Sämtliche Fragestellungen und Erörterungen der frühen, mittleren und späten Dialoge sind in direkter oder indirekter Weise darauf bezogen und können über diesen zentralen Punkt in ihrem Zusammenhang erschlossen werden. In vielen Dialogen finden sich Darstellungen des Aufstiegs, die in höchst unterschiedlicher Form auf Voraussetzungen, Methodik und Gegenstandsbereich des Erkenntnisprozesses verweisen. Platon zieht hier alle Register seiner literarischen und didaktischen Kunst. Er präsentiert uns die lebendige Erkenntnissuche im sokratischen Dialog, erfindet einprägsame Bilder und Gleichnisse, arbeitet mit Kommentaren und Erläuterungen und greift zuletzt auf mythische Erzählungen zurück.
[47]Das Höhlengleichnis
Eine besonders eindrucksvolle bildliche Gestaltung des Aufstiegs findet sich in dem berühmten und häufig zitierten Höhlengleichnis in der Politeia (514a–518b). Im Rückgriff auf archetypische Vorstellungsmuster von Wachstums- und Entwicklungsprozessen, die an physische Geburtsvorgänge angelehnt sind, schildert Platon hier einen Erkenntnisweg, der aus der Gefangenheit in Irrtum und Täuschung zur Selbsterkenntnis und Einsicht führt. Platon vergleicht zunächst in wenig schmeichelhafter Weise unseren faktischen Erkenntniszustand mit dem Aufenthalt in einer dunklen Höhle. In unseren Wahrnehmungen und Urteilen gleichen wir Höhlenbewohnern, die unbeweglich und festgebunden vor einer Höhlenwand sitzen und lediglich die Schatten von Gegenständen sehen, die im Höhleninneren im Rücken der Gefesselten von Personen vorbeigetragen und von einem Feuer an die Wand projiziert werden (rep. 514a–515b). Das wesentliche Merkmal dieses Daseins besteht in einer grundsätzlichen Verkennung der Wirklichkeit. Da die Höhleninsassen nie einen Blick in den Innenraum ihrer Behausung geworfen haben und erst recht keine Kenntnis von der Welt außerhalb der Höhle besitzen, halten sie die Schatten an der Wand für die Wirklichkeit schlechthin (rep. 515c).
Die Befreiung aus diesem bedauernswürdigen Zustand beginnt mit einem Perspektivenwechsel, der als Entfesselung beschrieben wird (rep. 515c). Das Lösen der Fesseln an Hals und Schenkeln ermöglicht die Wendung des Blicks in das vom Feuer erleuchtete Höhleninnere. Diese Umwendung markiert den Beginn eines mühsamen Aufstiegs, der zunächst zu jenen Gegenständen gelangt, von denen der [48]Entfesselte vorher lediglich die Schatten sah (rep. 515d), anschließend das Feuer erreicht (rep. 515e) und zuletzt über einen steilen, engen Aufgang ins Freie hinaufführt (rep. 515e–516a). Der ganze Weg ist der Darstellung zufolge mit immensen Schwierigkeiten verbunden: Es kommt zu Blendungen, Wahrnehmungsproblemen und Augenschmerzen wegen der plötzlichen ungewohnten Helligkeit. Auch von Verwirrung und inneren Widerständen ist die Rede – ein Hinweis darauf, dass der Aufstieg eine besondere Herausforderung darstellt. Die größte Schwierigkeit besteht augenscheinlich darin, sich von der Fixierung auf die Schattenwelt zu lösen und eine andere Sicht auf die Wirklichkeit zu gewinnen.
Das Erreichen des Höhlenausgangs ist keineswegs das Ende des Weges, so wie Platon im Gleichnis nahelegt. Hier beginnt nach einer Phase der Gewöhnung (synétheia) erst der eigentliche Aufstieg zur Erkenntnis, der von den Schatten und Wasserbildern der natürlichen Dinge zu diesen Dingen selbst führt, dann zur Betrachtung der Gestirne des Nachthimmels fortschreitet und schließlich mit dem Blick in die Sonne endet (rep. 516a/b). Das direkte Hineinsehen in die Quelle des Lichts soll das Ziel des Aufstiegs – die Erkenntnis des Guten – versinnbildlichen. In seinen Erläuterungen zum Gleichnis stellt Platon klar, dass es sich dabei um eine Erkenntnis des Urprinzips der Wirklichkeit handelt. Das zu erkennende Gute ist Ursache von Richtigkeit, Schönheit und Ordnung – sowohl im menschlichen als auch im kosmischen Bereich (rep. 516b/c, 517c).
Das Gleichnis endet mit der Schilderung eines Abstiegs in die Höhle zurück zu jenem Ort, wo die gefesselten Höhlenbewohner sitzen und über die Schatten an der Wand [49]debattieren (rep. 516e–517a). Dieser Abstieg ist zum einen aufgrund des Übergangs von der Helligkeit des Sonnenlichts in die Dunkelheit der Höhle mit erheblichen Wahrnehmungsschwierigkeiten verbunden. Zum anderen aber ist der Abgestiegene den Anfeindungen der Höhleninsassen ausgesetzt, die ihm höhnisch vorhalten, dass er mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen sei, und die deshalb den Schluss ziehen, dass der Aufstieg nach oben nicht lohne und man jeden umbringen müsse, der sie von den Fesseln lösen und hinaufführen wolle (rep. 517a) – ein deutlicher Hinweis auf Sokrates, der die Athener unermüdlich zur Selbsterkenntnis und Suche nach der Wahrheit aufgefordert hat und von diesen schließlich zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt wurde.
Das gesamte Gleichnis ist überreich an Bedeutung und Sinngehalt: Platon verweist mit Hilfe dieser eindrucksvollen Erzählung auf die immensen Bildungsmöglichkeiten des Menschen. Er entwirft das großartige Panorama eines Erkenntnisprozesses, der aus der Enge der eigenen Vorurteile und der Verstrickung in Selbsttäuschung, Illusionen und Verblendung befreit und zu einer Erkenntnis der Dinge jenseits der festgefahrenen Vorstellungsmuster führt. Dabei wird insbesondere die existentielle Dimension dieses Prozesses betont: Hier ist von großen Schmerzen, von inneren Widerständen, von enormer Anstrengung und sogar von Abbruchtendenzen und Flucht die Rede. Diese Beschreibung verweist darauf, dass es beim Aufstieg um weit mehr als um eine Suche nach theoretischem Wissen geht. Platon hat einen umfassenden Bildungsprozess im Auge, der den ganzen Menschen mit all seinen Vermögen und Antrieben ergreift und alle Beziehungsebenen neu [50]begründet: das Verhältnis zu sich selbst, das Verhältnis zur Welt und das Verhältnis zu einem letzten Seinsgrund.
Das Gleichnis ist jedoch im Detail alles andere als einfach zu verstehen. Dieses kleine Textstück hat den Interpreten von jeher besondere Schwierigkeiten bereitet. Viele Elemente in dem Bild sind rätselhaft und mehrdeutig. Was bedeuten die verschiedenen Etappen des Weges innerhalb der Höhle (Schatten, von Menschen erzeugte Gegenstände, Feuer) und die Stufen außerhalb der Höhle (gespiegelte Bilder auf der Wasseroberfläche, Schatten, natürliche Gegenstände, Nachthimmel, Sonne)? Wie lassen sich die Ähnlichkeit zwischen den Stufen einerseits und ihre Differenz andererseits deuten? Worauf verweist die Unterscheidung zwischen einer dunklen Höhlenwelt und einer lichtdurchfluteten Außenwelt? Und schließlich: Warum ist der Aufstieg innerhalb der Höhle mit Schmerzen, Nötigung und Fluchttendenzen verbunden, während der Weg im Freien schmerzfrei und scheinbar müheloser ist?
Platon macht es dem verständnissuchenden Leser keineswegs leicht. Zwar fügt er an verschiedenen Stellen Erläuterungen ein (rep. 517b, 532a–c). Diese Kommentare sind jedoch häufig ebenso uneindeutig und rätselhaft wie das Kommentierte selbst. Das Ganze wirkt wie der Spruch eines Orakels, wie einer der pythischen Sprüche des berühmten delphischen Heiligtums. Wie schwierig ein Verständnis des Gleichnisses ist, bezeugen nicht zuletzt die anhaltenden kontroversen Debatten und die gegensätzlichen Interpretationsansätze.1 Unumstritten ist jedoch, dass dem Text herausragende Bedeutung zukommt. Es scheint so, als ob das Gleichnis mitten in das Herzstück des platonischen Denkens hineinführen würde.
[51]Leben in der Höhle: Zustand der Unbildung
Um das Höhlengleichnis in seinem Gehalt zu erschließen und ein Verständnis des gemeinten Erkenntnisweges zu gewinnen, ist es sinnvoll, zum Anfang der Erzählung zurückzukehren. Die Geschichte beginnt mit der Schilderung eines höchst misslichen Zustands der Bewegungslosigkeit und Gefangenheit. Platon bestimmt diesen Ausgangszustand als Unbildung (apaideusía) (rep. 514a2). Damit ist keineswegs ein Mangel an Allgemeinbildung, an theoretischem Wissen oder Fachkompetenzen gemeint. Die Unbildung bezieht sich vielmehr auf die unreflektierte Urteilspraxis, die unseren Alltag bestimmt. Wir treffen tagtäglich eine große Zahl von Urteilen über Ereignisse, Personen, eigene und fremde Handlungen, die in der Regel Werturteile sind. Wir nehmen die Dinge nicht nur wahr, sondern bewerten sie als gut oder schlecht, richtig oder falsch, schön oder hässlich, gerecht oder ungerecht. Diese Wertung entspringt dem menschlichen Grundbedürfnis, sich in der Wirklichkeit zu orientieren, um sich aktiv zu den Dingen verhalten zu können. Wertungen besitzen insofern einen guten Sinn.
Problematisch ist jedoch, dass die Grundlagen der besonderen Urteile meist unreflektiert und ungeprüft bleiben. Der Mangel an Bildung besteht nach Platon darin, dass wir in der Regel kein klares Bewusstsein...
Erscheint lt. Verlag | 8.9.2023 |
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Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek | Reclams Universal-Bibliothek |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie Altertum / Antike | |
Schlagworte | Analyse • Antike • Auszüge • Bücher Philosophie • Einführung Philosophie Platon • Epistemologie • Erkenntnis • Erläuterung • Ethik • Ethik-Unterricht • Geist • Geisteswissenschaft • gelb • Gerechtigkeit • Grundlagen • Grundlagen Philosophie Platon • Grundzüge Philosophie Platon • Gutes Leben • Höhlengleichnis • Ideengeschichte • Ideenwelt • Kosmos • Lektüre • Materie • Philosophie • Philosophie Das Gute • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Platon aktuell • Platon Biographie • Platon erklärt • Platon Erläuterung • Platon für Dummies • Platon für Einsteiger • Platon Gesamtwerk • Platon heute • Platon Husserl • Platon Interpretation • Platon interpretiert • Platonische Lehre • Platon Leben • Platon Leben und Werk • Platon Lehre • Platon Philosophie • Platon verstehen • Polis • Reclam Hefte • Sokratische Methode • Sokratischer Dialog • Textanalyse • Textsammlung • Tugend • Vernunft • Vorsokratik • Welt des Guten • Wie Platon verstehen • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-15-962173-1 / 3159621731 |
ISBN-13 | 978-3-15-962173-9 / 9783159621739 |
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