Das Paar im Fokus (eBook)
440 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-109907-1 (ISBN)
In welchem Verhältnis standen Selbstverständnis und Praxis institutionalisierter nichtkonfessioneller sowie katholischer Eheberatungsstellen? In ihrer an der Schnittstelle von Sozialgeschichte, Geschichte der Sozialen Arbeit und Kirchengeschichte angesetzten Studie blickt Vera-Maria Giehler auch auf der Mikroebene in die Beratungssituation selbst. Mit den zum ersten Mal ausgewerteten Briefwechseln, Protokollen und Berichten aus Beratungsstellen soll so eine Forschungslücke zu einem zeitgenössisch viel diskutierten Themenfeld geschlossen werden.
Eheberatung diente den Ratsuchenden, jedoch auch gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Die Autorin arbeitet verschiedene Aspekte der Beratungen heraus: individuelle Hilfe, soziale Kontrolle, Institutionalisierung, Professionalisierung sowie Beratende und auch Ratsuchende als die Situation beeinflussende Akteure. Dabei wird eine starke Ambivalenz aufgezeigt - zurückzuführen auf miteinander verwobene institutionelle Ebenen, denen unabhängig agierende Beratende gegenüberstanden. Selbstverständnis und Zielsetzung vorgesetzter Ebene spiegelten sich nur selten in der Praxis, die sich eher an den Bedürfnissen der Ratsuchenden orientierte. Darüber hinaus werden insbesondere die Kontinuität eugenischen Denkens in der nichtkonfessionellen Eheberatung und die weibliche Laienarbeit mit personalem Ehe- und Liebesverständnis in der katholischen Beratung verdeutlicht.
Vera-Maria Giehler, Ludwig-Maxmilians-Universität München.
1 Die Wurzeln der Eheberatung in der Weimarer Republik und ihre Entwicklung im „Dritten Reich“
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sanken die Geburtenzahlen, die Scheidungsraten stiegen und auch der Bevölkerungsverlust durch den Ersten Weltkrieg machte sich bemerkbar. Politik, Medizin und Wissenschaft begannen, diese Phänomene intensiv zu diskutieren.1 Für die abnehmenden Geburten und zahlreicher werdenden Trennungen machten viele Akteure die „Rationalisierung“ der Sexualität, d. h. die individuelle Kontrolle der Fortpflanzung, verantwortlich. Vertreter aus Eugenik und Rassenhygiene, welche die Lehre von der „genetischen Verbesserung“ der Bevölkerung propagierten,2 beeinflussten diese Debatten wesentlich.3 Eugenik galt als angewandte Wissenschaft, um Perspektiven zur Selbststeuerung der menschlichen Evolution auszuloten und mit Hilfe des Staates umzusetzen.4 Mit ihren biopolitischen Utopien ist sie als Phänomen einer Moderne zu werten, die mit Wissenschaft Handlungsräume eröffnete und erweiterte.5 Weingart ordnet die Eugenik einem Rationalisierungs- und Verwissenschaftlichungsprozess zu, der Handlungsbereiche überhaupt erst zu Wissensfeldern mache, die wiederum selbst das Handeln orientieren.6
Letztlich strebten Eugeniker an, die menschliche Fortpflanzung zu kontrollieren.7 Medizinisch auf die Nachwuchsplanung und Zeugung Einfluss zu nehmen, schien einen praktikablen Zugriff vor allem auf das Reproduktionsverhalten der Arbeiterschichten zu bieten. Dabei zielte die „positive Eugenik“ darauf, über eine entsprechende Steuer- und Familienpolitik die „Erbtüchtigen“ zur Reproduktion zu animieren und den Anteil der als wünschenswert beurteilten Erbanlagen zu vergrößern.8 „Züchterische Maßnahmen“ versprachen höhere Intelligenz, bessere körperliche Konstitution, Schönheit oder „rassische Reinheit“.9 Bei der „negativen Eugenik“ hingegen stand im Fokus, unerwünschte Anlagen zu verringern und als „minderwertig“ Betrachtete aktiv an der Fortpflanzung zu hindern. Dies reichte bis hin zur Sterilisierung.10 Diese Ideen konsequent umzusetzen, bedeutete letztlich, das Sexualverhalten der Bevölkerung zu kontrollieren. Einen Zugang dazu bot die Ehe, vor allem aber die Beratung und Untersuchung junger, heiratswilliger Paare, um deren „Erbgut“ mit Gesundheitszeugnissen einzuschätzen. Dies sollte zumindest die Möglichkeit offenhalten, von der Ehe abzuraten oder sie auch in letzter Konsequenz zu verbieten. Hier findet sich der Beginn der institutionellen Eheberatung, die sich bereits nach wenigen Jahren in eine amtliche eugenische, eine katholische und eine evangelische Richtung ausdifferenzierte. Dies geschah in Abgrenzung zur Sexualberatung, die verschiedene private und staatliche Träger mit Zielsetzungen wie sexuelle Aufklärung und Verhütung gegründet hatten. Dazu gehörte beispielsweise der Bund für Mutterschutz. Die Nationalsozialisten schlossen bald nach ihrem Machtantritt die Sexualberatung und vereinnahmten die Eheberatung für ihre Ziele.
1.1 Amtliche Beratungsstellen
Als erster Akteur hatte sich der Deutsche Monistenbund aus eugenischen Motiven dafür eingesetzt, potenzielle Ehepartner dazu zu verpflichten, Gesundheitszeugnisse auszutauschen. Bereits im Jahr 1911 eröffnete der Bund in Dresden eine erste eugenische Beratungsstelle, die allerdings vier Jahre später wieder schloss.11 Die eigentliche Gründungszeit der Eheberatung lag in den 1920er-Jahren, als eugenisches Gedankengut in die Politik Einzug hielt. In den „Leitsätzen des Reichsgesundheitsrats vom 26. Februar 1920“ war zu lesen, dass die „Fernhaltung der körperlich oder geistig für die Ehe und die Zeugung gesunder Kinder Untauglichen“ von der Eheschließung ein „wesentliches Mittel zur Verhütung einer Rassenverschlechterung“ sei.12 Im Jahr 1921 forderte ein Erlass des Reichsinnenministeriums die Standesbeamten auf, jedem heiratswilligen Paar noch vor dem Aufgebot ein „Merkblatt für Eheschließende“ auszuhändigen. Dieses warb dafür, sich vor der Ehe freiwillig von einem Arzt untersuchen zu lassen, um ein Gesundheitszeugnis zu erhalten. Der Schwerpunkt der Eheberatung lag damit auf der gesundheitlichen beziehungsweise erbgesundheitlichen Prüfung vor der Heirat. Verhütungsberatung wurde abgelehnt, da Paare mit gewünschten Erbanlagen möglichst viele Kinder bekommen sollten. Verlobte erhielten nach einer medizinischen Untersuchung und erbbiologischen Befragung ein sogenanntes Heirats- oder Gesundheitszeugnis, auf das sie ihre Entscheidung zur Eheschließung stützen konnten. Der erhoffte Erfolg blieb jedoch aus. Teilweise kamen pro Jahr weniger als 200 Besucher in die Beratungsstellen. Viele nahmen das Zeugnis als Eingriff in die Privatsphäre wahr.
Da die amtliche Eheberatung ihren Ursprung in der Eugenik hatte, entstand sie als ein Bereich der Gesundheitsfürsorge. Diese reichte von der Krankenpflege über Hygiene, Seuchenbekämpfung, Ernährungsberatung, Aufklärung und Vorbeugung der Säuglingssterblichkeit bis hin zur Psychiatrie. Entsprechend stand das neue Beratungsfeld unter medizinischer Oberaufsicht.13 Eheberatung beschränkte sich dabei nicht auf Eugenik, sondern sollte zunächst auch dazu beitragen, Geschlechtskrankheiten einzudämmen,14 was es ihr erschwerte, ein eigenes Profil zu entwickeln. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die institutionelle Zuordnung der amtlichen Eheberatung zur Gesundheitsfürsorge langsam aufzuweichen.15
Der eugenisch ausgerichteten amtlichen Eheberatung standen die Sexualberatungsstellen gegenüber, in denen pro Jahr durchschnittlich 1.000 Beratungen stattfanden. Befürworter waren Sozialdemokraten, Frauenrechtlerinnen und Sexualreformer. Ihre Ausrichtung deckte sich teilweise mit den Ansichten der Eugenik, da es ihnen um eine materielle Verbesserung der Lebensbedingungen ging, um Erbanlagen entsprechend zu fördern oder zu hemmen. Dies verdeutlicht, dass die Eugenik nicht auf politisch rechts stehende Gruppierungen beschränkt, sondern bei einer großen Bandbreite von politischen und gesellschaftlichen Akteuren als Steuerungsinstrument akzeptiert war.16
Darüber hinaus zielten Sexualberatungsstellen darauf, das Bildungsprivileg der bürgerlichen Schichten zu Verhütung zu durchbrechen. Aus diesem Grund setzten die Einrichtungen sich dafür ein, empfängnisverhütende Mittel zu verbreiten und Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren.17 Damit standen sich Sexualberatung und amtliche Eheberatung kontrovers gegenüber. Abtreibungen lehnten Eugeniker bis auf wenige Ausnahmen ab, ebenso Verhütung bei „erbgesunden“ Ehepaaren.18 Sowohl die Diskussion als auch die Entwicklung der Beratung in der Weimarer Republik wurde wesentlich durch die Kontroverse zwischen Sexual- und Eheberatung bestimmt.
Die erste Sexualberatungsstelle befand sich im 1919 von dem Mediziner Magnus Hirschfeld19 gegründeten Institut für Sexualwissenschaft in Berlin.20 Hirschfeld vertrat als Mitglied der Gesellschaft für Rassenhygiene eugenische Ideen, die Stelle führte auch Gespräche zur Frage der Ehetauglichkeit. Ab 1924 folgten weitere Angebote, die zunächst vom Mutterschutzbund um die prominente bürgerliche Frauenrechtlerin Helene Stöcker21 ausgingen. Die in diesem Kontext entstehende Kombination aus Ehe- und Sexualberatung erwies sich als sehr erfolgreich. Ende der 1920er-Jahre erreichten die Gründungen ihren Höhepunkt. In der gesamten Weimarer Republik führte allein die Arbeitsgemeinschaft Freier Sexual-Reform-Vereine mehr als 80 Einrichtungen, die Liga für Mutterschutz und soziale Familienhygiene über 500. Die Ratsuchenden fragten vor allem Verhütungsmethoden nach. Soziale und wirtschaftliche Erwägungen spielten hierbei eine wichtige Rolle.
Eugeniker kritisierten diese Form der Geburtenregelung mittels individueller Entscheidungen als willkürlich. Ihnen ging es nicht um die Lage des Einzelnen, sondern den „Volkskörper“ als Ganzes.22 Der Ausschuß für Rassenhygiene und Bevölkerungswesen des Preußischen Landesgesundheitsrats drängte darauf, die flächendeckende Einrichtung von amtlichen Eheberatungsstellen zu empfehlen, um den freien Sexualberatungsstellen entgegenzuwirken. Die amtlichen Angebote sollten sich ausschließlich darauf konzentrieren, die Eheeignung medizinisch zu prüfen und darüber gewonnene Gesundheitszeugnisse zentral zu sammeln. Am 19. Februar 1926 gab der preußische Minister für Volkswohlfahrt Heinrich Hirtsiefer23 (Zentrum) einen entsprechenden Runderlass über die „Einrichtung ärztlich geleiteter Eheberatungsstellen in Gemeinden und Kreisen“ heraus.24 Der „Hirtsiefer-Erlaß“, der einen Kompromiss zwischen SPD und Zentrum darstellte,25 sah eine freiwillige Beratung vor. Ursprünglich war geplant gewesen, die Untersuchung als Vorschrift im Personenstandsgesetz zu verankern. Dies hatte sich aber als nicht durchsetzbar erwiesen. Der Erlass zog eine breite Aufmerksamkeit und eine hohe Zahl an neuen Beratungsstellen nach sich. Noch im selben Jahr entstanden in Preußen 77 Einrichtungen, 52 weitere befanden sich in Vorbereitung.26 Sachsen und...
Erscheint lt. Verlag | 7.8.2023 |
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Reihe/Serie | Family Values and Social Change |
Family Values and Social Change | |
ISSN | ISSN |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | Catholic • Eheberatung • history 1945–1965 • Marriage Counseling • Westdeutschland • western germany |
ISBN-10 | 3-11-109907-5 / 3111099075 |
ISBN-13 | 978-3-11-109907-1 / 9783111099071 |
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