Jenseits von Nation und Imperium (eBook)
354 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45446-7 (ISBN)
Dolf-Alexander Neuhaus forscht am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo zu der verflochtenen Geschichte Japans, Koreas und Asiens im 19. und 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf der japanischen Kolonialherrschaft und ihrem postkolonialen Erbe in der Zeit des Kalten Kriegs.
Dolf-Alexander Neuhaus forscht am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo zu der verflochtenen Geschichte Japans, Koreas und Asiens im 19. und 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf der japanischen Kolonialherrschaft und ihrem postkolonialen Erbe in der Zeit des Kalten Kriegs.
Zivilisation und Aufklärung: Die koreanische Reformbewegung und Japan, 1880–1900
Im Frühjahr 1881 schilderte der bekannte Wegbereiter der japanischen Aufklärung (bunmei kaika) Fukuzawa Yukichi den Eindruck von seiner ersten Begegnung mit den koreanischen Austauschstudenten Yu Kilchun und Yu Chŏngsu mit den folgenden Zeilen:
Anfang dieses Monats kamen mehrere Koreaner nach Japan, um die hiesigen Verhältnisse zu inspizieren, und zwei von ihnen im besten Mannesalter schrieben sich an unserer Schule ein. Ich nahm die beiden zunächst in meinem Hause auf, um sie behutsam anzuleiten. Wahrlich, wenn ich an mein eigenes Ich vor mehr als zwanzig Jahren denke, komme ich nicht umhin, mit ihnen zu fühlen. Es ist das erste Mal, dass Koreaner im Ausland studieren, und auch das erste Mal, dass unsere Schule Ausländer zugelassen hat. Das muss man einen unerwarteten Zufall nennen.86
Die beiden jungen Koreaner waren kurz zuvor im Gefolge einer offiziellen Regierungsmission (kor. chosa sich’aldan) nach Japan gekommen, um die Grundlagen der japanischen Modernisierung und Selbststärkung zu studieren. Das Ereignis markierte somit den Auftakt der koreanischen Auslandsstudien in Japan. Zugleich wird erkennbar, dass sich nicht nur den Koreanern neue Möglichkeiten der Wissensaneignung eröffneten. Fukuzawas oben zitierter Brief an seine in London weilenden Freunde dokumentiert vielmehr, dass die Begegnung mit den Koreanern auch für die beteiligten Japaner eine außergewöhnliche Begebenheit darstellte.
Die Begegnung der koreanischen Reformbewegung (kor. kaehwap'a) mit den Proponenten der japanischen Aufklärung bildet den Mittelpunkt dieses Kapitels, in deren erweitertem Umfeld einzelne koreanische Studierende auch erstmals Zugang zu protestantischen Kreisen und zu panasiatischen Vereinigungen erhielten. Das frühe Studium der koreanischen Reformer in Japan in den 1880er- und 1890er-Jahren steht also an der Schnittstelle dreier Themenkomplexe, die für dieses Buch zentral sind: Liberalismus, Protestantismus und die Neuverhandlung der japanischen Positionierung innerhalb Asiens. Auf der Suche nach Antworten auf neue Herausforderungen einer sich schnell verändernden und zunehmend global verflochtenen Welt wandte sich der Blick koreanischer Reformer zunächst dem Nachbarland Japan zu, das nach einer turbulenten Konsolidierungsphase mit teils gewaltsamen Aufständen im Zuge der Meiji-Erneuerung ein stabiles Erfolgsmodell für die Modernisierung in Asien zu bieten schien.87 Dem Austauschstudium und den daraus resultierenden Begegnungen japanischer und koreanischer Akteure kam dabei im Hinblick auf die weitere innere Entwicklung Koreas eine große Bedeutung zu. Denn die ehemaligen Austauschstudierenden übernahmen nach ihrer Rückkehr zentrale Rollen in einem gescheiterten Umsturzversuch und erneut ein Jahrzehnt später während der Kabo-Reformen. Auch über diese Episoden hinaus blieben sie einflussreiche politische und religiöse Akteure. In Japan verlieh die Begegnung mit den koreanischen Austauschstudierenden dem Asiendiskurs neue Impulse: Während die allgemeine Perzeption Koreas in der japanischen Öffentlichkeit zunehmend negativ geprägt war, lässt sich anhand der individuellen Interaktion mit den Austauschstudierenden ein differenzierteres Bild zeichnen. Mit den in Japan ausgebildeten Studierenden verband sich in den frühen 1880er-Jahren die Hoffnung auf erfolgreiche Reformen in Korea und dessen Herauslösung aus dem chinesischen Einflussbereich im Sinne einer engeren Bindung an Japan. So nahm die »koreanische Frage« bereits kurz nach der Meiji-Erneuerung eine zentrale Position im außenpolitischen Diskurs Japans ein.
Die Interaktion der ersten koreanischen Austauschstudierenden mit den japanischen Liberalen und Protestanten muss im Kontext einer weltweiten und global denkenden Aufklärungsbewegung gesehen werden. Die allgegenwärtigen Versuche, mit den neuen Herausforderungen zunehmender Globalität zurechtzukommen, kristallisierten sich in dem in Japan, Korea und China populären Schlagwort von »Zivilisation und Aufklärung« (japan. bunmei kaika; kor. munmyŭng kaehwa). Wie Sebastian Conrad festgestellt hat, umfasste der Begriff der Aufklärung immer auch eine Positionierung in der Welt, wie sie in Fukuzawa Yukichis bekanntem Dreiklang von »Barbarei« (yaban), »Halbaufklärung« (hankai) und »Zivilisation« (bunmei) deutlich zu Tage trat.88 In vielen Gesellschaften jener Epoche herrschte zudem die Ansicht vor, dass die Aufklärung keineswegs ein spezifisch europäischer, sondern vielmehr ein universeller Standard sei. Die westlichen Nationen mochten Ende des 19. Jahrhunderts überlegen erscheinen, aber dies galt mitnichten als eine unabänderliche Naturgegebenheit.89 So kommentierte etwa die koreanische Zeitung Hwangsŏng sinmun im Jahr 1899, dass »Europa, das in puncto Aufklärung hinter uns zurückgeblieben war«, Korea nunmehr voraus sei.90 Eine grundlegende Voraussetzung für den Erfolg der Aufklärungsbewegung stellte die Verbreitung modernen Wissens dar, welches zumindest auf dem Papier über die Modernisierung und Expansion des Bildungssystems und nicht zuletzt über ein Studium im Ausland vermittelt wurde.91
Die wachsende Vernetzung zwischen Meiji-Japan und Chosŏn-Korea war um die Jahrhundertwende indes von zunehmend asymmetrischen Machtverhältnissen gekennzeichnet. Korea fand sich Ende des 19. Jahrhunderts im Zentrum imperialer Machtpolitik in Ostasien wieder.92 Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, Korea im Kontext der gemeinsamen Geschichte allein auf die Rolle eines Spielballs Japans und anderer fremder Mächte zu reduzieren. Vielmehr waren das Land, seine politischen Führer und auch die Bevölkerung mit ihrer eigenen Handlungs- und Gestaltungsmacht ausgestattet. Diese zeigte sich beispielsweise in der Geschichte der koreanischen Reformbewegung der 1880er und 1890er-Jahre, deren Vertreter zwar gute Beziehungen nach Japan und in andere Länder pflegten, dabei aber stets im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen von der Zukunft eines unabhängigen Koreas agierten. Selbst in Phasen der intensivierten Einflussnahme war Japan zwar ein wichtiger, aber bei weitem nicht der einzige Referenzpunkt für die koreanischen Reformer. Oft war Japan, vor allem aber die Hauptstadt Tōkyō, sogar nur ein erster Anlaufpunkt für weitere Begegnungen etwa mit japanischen und westlichen Protestanten oder chinesischen Diplomaten und in einigen individuellen Fällen auch für weitere Auslandsstudien. So konstituierte die japanische Hauptstadt eine Kontaktzone, die stets alternative Routen der Wissensvermittlung und des Zugangs zu den Narrativen über »Zivilisation und Aufklärung« bereitstellte.93
Die Phasen japanischer Dominanz in Korea spiegelten sich in den deutlich schwankenden Zahlen der Studierenden wider, die an Austauschprogrammen mit Japan teilnahmen. In diesem Zusammenhang hat der japanische Bildungshistoriker Abe Hiroshi drei »Spitzen« (pīku) des koreanischen Austauschstudiums in Japan identifiziert: Erste Gruppen von (ausschließlich männlichen) Studenten besuchten Tōkyō zum weiterbildenden Studium in den Jahren zwischen 1881 und 1884. Diese Begegnung vollzog sich vor allem im erweiterten Umfeld Fukuzawas und anderer Vertreter der japanischen Aufklärung und des Protestantismus. Nach einer etwa zehnjährigen Unterbrechung erfolgte die Wiederaufnahme (halb)staatlich geförderter Studienprogramme in der Phase der Kabo-Reformen ab 1894. War nach 1896 zunächst eine abnehmende Tendenz der vom Staat entsandten Studierenden zu verzeichnen, markierte die Zeit des Russisch-Japanischen Krieges 1904 das dritte und letzte Maximum staatlicher Programme.94 Die Popularität des aufklärerischen Independence Clubs in Korea ließ im gleichen Zeitraum jedoch auch die Attraktivität des Studiums von Koreanern in Japan steigen, so dass die Zahl der privat finanzierten koreanischen Studierenden zwischen 1896 und 1919 kontinuierlich anstieg. Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich auf die beiden frühen »Spitzen« des koreanischen Auslandsstudiums in Japan am Ende des 19. Jahrhunderts.
Japan und Korea am Ende des 19. Jahrhunderts
Das Aufkommen von Auslandsstudien in Japan und Korea vollzog sich vor dem Hintergrund epochaler...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Globalgeschichte | Globalgeschichte |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 1. März 1919 • 20. Jahrhundert • Ajia kōron • Aufklärung • Beziehungen zwischen Korea und Japan • Bildungsgeschichte • Christen in Asien • christliche Mission in Asien • Evangelische Kirche • Globalgeschichte • Intellektuelle • Japan • Japanische Geschichte • japanischer Imperialismus • japanischer Protestantismus • Kirche • Kolonialgeschichte • Korea • Koreanische Geschichte • koreanische Reformbewegung • koreanische Studierende • koreanische Unabhängigkeitsbewegung • koreanisch-japanische Beziehungen • Kulturmission • Meiji • Mission • Missionsgeschichte • ostasiatische Kolonien • Ostasien • Pan-Asianismus • postcolonial studies • Protestantismus • Religionsgeschichte • Studium • Taishō • Taishō-Liberalismus • Tokio • Tokyo • Transnationale Geschichte • Wissensgeschichte • ymca |
ISBN-10 | 3-593-45446-7 / 3593454467 |
ISBN-13 | 978-3-593-45446-7 / 9783593454467 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 4,3 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich