»Cancel Culture« - Ende der Aufklärung? (eBook)
192 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60460-4 (ISBN)
Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und Public Intellectuals. Er ist Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin und Direktor am bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation. Bis 2020 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne. Er lehrte in Tübingen, Göttingen, München und Berlin sowie als Gastprofessor in den USA, Italien und China. Er war Kulturstaatsminister in der ersten rot-grünen Bundesregierung, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates.
Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen, er war deutscher Kulturstaatsminister und ist Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule Berlin sowie stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
Erkenntnistheoretische Aspekte der Cancel Culture
Der Fall Galileo Galilei
Im Mittelalter schien alles unter römischer Ägide übersichtlich und klar. Das Weltbild beruhte auf einer Heiligen Schrift, ausgelegt von theologischen Gelehrten und verkündet von klerikalen Autoritäten. Diese bedienten sich in der Frühzeit besonders bei Platon[18] und später bei Aristoteles[19]. Die theologische Dogmatik entwickelte sich so, dass möglichst keine Brüche erkennbar waren, eines zum anderen passte und sich theologische Dissense auf kleine Zirkel von Spezialisten beschränken ließen. Wenn ein Meinungskonflikt nicht beizulegen war, entschied die klerikale Autorität. Das nach innen und außen geschlossen erscheinende Weltbild wies Risse und Brüche auf, aber diese sollten, jedenfalls für das breitere Publikum, nicht zutage treten. Daher galt es, Dissense klein zu halten und auf theologische Spezialdiskurse zu beschränken. So gelang der Übergang vom Platonismus der Patristik zum Aristotelismus des Hochmittelalters fast reibungslos, obwohl die massiven Differenzen zwischen den beiden großen Philosophen der griechischen Klassik für jeden, der sich die Mühe der Lektüre machte, offenkundig waren. Bis heute hat sich in der katholischen Theologie die Tendenz gehalten, Platon zu aristotelisieren und Aristoteles zu platonisieren, das heißt, die massiven Differenzen zugunsten eines vermeintlich einheitlichen klassisch-griechischen Denkens einzuebnen.
Eine umfassende Cancel Culture sicherte das Projekt eines geschlossenen Weltbildes nach innen und nach außen ab. Nach innen, indem kritische Stimmen durch Marginalisierung, Einschüchterung und Todesurteile zum Verstummen gebracht wurden, und nach außen, indem Einflüsse östlicher christlicher Orthodoxie und erst recht islamischer und jüdischer Gelehrsamkeit von den Gläubigen ferngehalten wurden. Das strategische Ziel war klar: Nachdem sich im Osten ohnehin schon eine eigenständige Tradition gebildet hatte, sollte die Religionsgemeinschaft davor bewahrt werden, angesichts unterschiedlicher Interpretationen der Heiligen Schrift von Zweifeln ergriffen zu werden; es ging im Kern um die Absicherung klerikaler Autorität.
Bei genauerer Analyse offenbaren sich allerdings rasch die inneren Widersprüchlichkeiten, die sich etwa in dem lang anhaltenden Schulstreit zwischen Universalien-Realismus und Nominalismus äußern und die Vielfalt von umstrittenen Einzelfragen, die zum Entstehen einer ausufernden scholastischen Literatur beigetragen haben. Die klerikalen Autoritäten ließen intellektuelle Einsprüche und Widersprüche so lange gewähren, als sie keine Gefahr für die Autorität der Kirche erkennen konnten, und schritten umso rigoroser ein, desto eher sich Meinungskonflikte zur Gefährdung klerikaler Macht auswachsen konnten.
Ein besonders illustratives Beispiel ist der Fall Galileo Galilei. Zu den Lebzeiten Galileis hatte sich der Nominalismus schon weitgehend durchgesetzt. Damit war die Axt an die teleologische Metaphysik, die die christliche Theologie trug, gelegt.[20] Für manche Ideengeschichtler beginnt die Moderne schon mit dem Nominalismus des Hochmittelalters durch Wilhelm von Ockhams Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem und der Idee des historischen Fortschritts bei Joachim von Fiore, der die Geschichte beginnend mit einem Zeitalter des Vaters über das Zeitalter des Sohnes bis zum Zeitalter des Heiligen Geistes fortschreiten sah.
Die Figur des Galileo Galilei ist deswegen so faszinierend, weil in ihr das Programm einer modernen, von theologischen Beschränkungen und Rücksichtnahmen freien, kausal erklärenden, nominalistischen Naturwissenschaft greifbar wird. Kardinal Bellarmin, der hochgebildete italienische Kleriker, war von seiner Kirche beauftragt, diesen Umtrieben entgegenzutreten, auch denen von Giordano Bruno, einer ganz anderen Form der Dissidenz gegenüber der kirchlichen Lehrmeinung. Hier trat nicht tumber Machtanspruch gegen rationale Wissenschaft und verfeinerte Geistigkeit an, sondern es standen sich ebenbürtige Intellektuelle gegenüber. Der eine in den Diensten des Klerus um die Einheit des christlichen Weltbildes bemüht, aber auch wegen der Machterosion seiner obersten Repräsentanten besorgt, und der andere vom strengen Geist der Wissenschaft bestimmt, der ihn bei allen Zweifeln und Selbstzweifeln vorantrieb. Bellarmin war gegenüber dem galileischen Reduktionismus wissenschaftlicher Erklärung, der Zurückführung aller Phänomene auf naturwissenschaftliche Prinzipien, skeptisch. Er glaubte an das göttliche Wirken in der Welt. Galilei dagegen war deterministischer Kausalist, das heißt, er war davon überzeugt, dass sich die Phänomene der Natur auf strikte Kausalgesetze zurückführen lassen, die verlässliche Prognosen erlauben. Auch wenn sich heute die Theologie nicht mehr in Opposition zur Naturwissenschaft begibt, so ist dieser Streit in abgewandelter Form bis heute nicht beigelegt. Auch ich selbst bin gegenüber einem naturwissenschaftlichen Reduktionismus skeptisch. Ich glaube nicht, dass sich Gründe, die wir für Handlungen, Überzeugungen und emotive Einstellungen haben, als naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten erfassen lassen. Allein schon deswegen nicht, weil Gründe normativ sind; sie sprechen für etwas, während die Naturwissenschaften im modernen Verständnis normativ abstinent sind. Bedeutung und Sinn sind für die naturwissenschaftliche Analyse unzugänglich. Wenn alles, was mit Gründen, Bedeutung oder Sinn zusammenhängt, von naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten schon vollständig bestimmt wäre, gäbe es keine menschliche Freiheit und Verantwortung, ja nicht einmal menschliche Vernunft.[21]
Auch wenn dieser Konflikt damals wie heute unentscheidbar war, so liegt der Auseinandersetzung zwischen Kardinal Bellarmin und Galileo Galilei noch ein anderer, ebenfalls fundamentaler Konflikt zugrunde, der sofort ins Zentrum unserer Thematik führt. Bellarmin, der als gebildeter Mensch der Kraft von Argumenten vertraute und zudem über gediegene naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügte, mochte sich nicht festlegen, ob Galilei möglicherweise mit seiner Analyse der Bewegungen der Himmelskörper und speziell mit seiner These, dass sich die Erde um die Sonne drehe, recht hatte, aber er insistierte, dass Galilei seine kosmologischen Auffassungen nicht öffentlich vertreten, ja im besten Falle ihnen öffentlich abschwören sollte. Für Bellarmin lagen die Gründe auf der Hand: Konnte Galilei wirklich wollen, dass die Autorität der Kirche durch die Erschütterung des von ihr vertretenen Weltbilds gefährdet würde? Konnte er die Folgen verantworten, die ein solcher Autoritätsverlust möglicherweise nach sich zöge, einschließlich eskalierender Konflikte zwischen Anhängern unterschiedlicher Weltanschauungen? Ja, mehr noch, da die Kirche Garant des Zusammenhalts der Christenheit war, da sie die soziale und politische Ordnung trug, bestand die Gefahr, dass ein Autoritätszerfall der Kirche in Aufstand und Chaos münden würde.[22]
Was sollte Galilei dazu sagen? Sollte er bestreiten, dass die Kirche eine ordnungsstiftende Rolle spielt? Sollte er bestreiten, dass ein umfassender klerikaler Autoritätsverlust zu Konflikten und Unordnung führen könnte? Sollte er gar den möglichen Autoritätsverfall begrüßen, gar einer »offenen Gesellschaft«[23] avant la lettre das Wort führen? Galilei wurde unsicher. Erkennbar verstand er sich als Wissenschaftler, den solche Fragen überfordern. Vielleicht hätte er antworten sollen: »Als Wissenschaftler geht es mir nur um die Wahrheit. Was sich daraus ergibt, ist nicht mehr in meiner Verantwortung.«
Man sollte nicht denken, dass dieser Disput heute beigelegt wäre. In den 1970er-Jahren wurde das Konzept der Finalisierung der Wissenschaft erörtert, also die Ausrichtung wissenschaftlicher Forschung auf soziale und politische Zwecke. Diese Vorschläge, so könnte man vergröbernd sagen, kamen damals von links in der Zeit der auslaufenden 68er-Bewegung. Diejenigen, die sich dagegen mit dem Argument der Freiheit der Wissenschaft wehrten, kamen meist politisch gesehen aus dem konservativen Spektrum. Der Bund Freiheit der Wissenschaft wurde gegründet, um der Instrumentalisierungen der Wissenschaft für politische Zwecke Einhalt zu gebieten. Im Laufe der 1990er- und...
Erscheint lt. Verlag | 27.7.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Argumentationen • Aufklärung • cancel culture • Ethik • Gute Argumente • Humanismus • Intelligenz • Meinungsfreiheit • Philosophie • Risikogesellschaft • Vernunft • vernunftbestimmtes Leben |
ISBN-10 | 3-492-60460-9 / 3492604609 |
ISBN-13 | 978-3-492-60460-4 / 9783492604604 |
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