Die ontologische Distanz (eBook)
378 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77409-0 (ISBN)
Im Januar 1948, kurz nach Abschluss des Promotionsverfahrens, beginnt Hans Blumenberg mit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift. Sie wächst sich rasch zu einem monumentalen Projekt aus, das nicht weniger will, als den philosophischen Horizont der Moderne vor dem Hintergrund ihrer Krise zu vermessen. Diesen Anspruch löst Die ontologische Distanz zwar nicht ganz ein, aber mit der Verknüpfung von geschichtsphilosophischen Interessen und phänomenologischer Methode bereitet die Studie den Boden, auf dem Blumenbergs große bewusstseinshistorische Untersuchungen der folgenden Jahrzehnte gedeihen.
Mehr als siebzig Jahre nach der Niederschrift wird Die ontologische Distanz nun erstmals publiziert, unter anderem ergänzt um Materialien aus dem Nachlass. In seinem Nachwort rekonstruiert der Herausgeber die komplexe Entstehungsgeschichte des Werks, in der Blumenbergs prekäre Arbeitsbedingungen ebenso eine Rolle spielen wie seine Lektüre von Husserls nachgelassenen Texten und sein wachsender Widerstand gegen Heideggers Philosophie. Der Band macht eine wichtige Etappe von Blumenbergs Denkweg nachvollziehbar und schließt mit Blick auf das Frühwerk eine markante Lücke.
<p>Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ?Halbjude?. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation <em>Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie</em> an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie <em>Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls</em>. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.</p>
9Einleitung
Daß die Philosophie von der Bedrängnis der je gegenwärtigen geistigen Situation in Atem gehalten wird und ihre Probleme aus der Not des geschichtlichen Selbstverständnisses des Menschen vorgeworfen erhält, ist ihr selbst über weiteste Strecken ihrer Geschichte hin durch den Schein der Zeitentzogenheit ihrer Grundthemen verborgen geblieben. Hatte das Denken nicht schon am Anfang der für uns deutlichen Geschichte seine großen Fragen aufgeworfen – oder besser: aufgefunden – und sie in der inneren Zwangsläufigkeit des entfaltenden Nacheinanders von Problem, Lösung, Aporie durchgetragen? Gab es in irgendeiner anderen Disziplin eine auch nur entfernt vergleichbare Kontinuität? Sollte dies aber Schein sein – wo sollte man einen Standort finden, von dem aus er als solcher durchschaubar würde, da doch die Philosophie schon der äußerste aller denkbaren Standorte war? Die Geschichtlichkeit der ›Geschichte‹ der Philosophie mußte das verborgenste, vielleicht letzte Thema der Philosophie sein. Zu ihm gab es keinen methodischen Zugang, keinen Hinweis aus den Leerstellen eines Systems, nicht den Stoß einer Aporie; denn nirgendwo sonst ließen sich historische Zusammenhänge größter Tiefenerstreckung so geradlinig ins Zulaufen auf die jeweilige Gegenwart ein›richten‹, so bestätigend zur Vorläuferschaft dienstbar machen wie hier. Das ist gewiß nicht bloßer Zufall oder Folge besonderer Gewaltsamkeit; es deutet darauf hin, daß ›Geschichte‹ der Philosophie sich wirklich auf den Grund einer Einheit beruft. Daß aber diese Einheit gerade nicht das war, als was sie je von den Philosophien und Systemen in Anspruch genommen wurde, nämlich der bloße Vorlauf auf die je aktuelle Gegenwart des Denkens – diese Einsicht konnte nur selbst als Erfahrung eines geschichtlichen Geschicks durchbrechen.
Die Geschichtlichkeit der Geschichte des Denkens konnte also nicht als Gegenstand unter Gegenständen des Denkens gedacht werden. In welchem Stand sollte das Denken seine Geschichtlichkeit zum Gegen-10Stand vor sich bringen? Das ist etwas Grundverschiedenes von der historischen Besinnung und Berufung, in der sich ein Denken auf seine vergangenheitliche Herkunft bezieht. Hegels Philosophie der Geschichte der Philosophie war der letzte und der geschlossenste Versuch, die innere und wesentliche, gleichsam substantiale Einheit der Philosophiegeschichte als notwendigen Weg des Geistes zu sich selbst, d. h. in seine aktuale Gegenwart, zu | S. 4 | begreifen, seit zuerst die griechischen Sophisten sich ausdrücklieh in einen Vorlauf des Denkens eingerichtet, vielmehr diesen auf sich gerichtet hatten und Aristoteles im ersten Buch der »Metaphysik« den Bestand der Probleme als vorgegeben dargetan hatte. Immer war seither die Auffassung der Geschichte der Philosophie beherrscht von dem fraglosen Grundverständnis des Seins, das in ihr zur Sprache, zu seinem Logos kam, als des Letztbeständigen, ewig in sich Beruhenden, ehern Notwendigen. Und wenn schließlich im deutschen Idealismus Denken und Sein nur noch die Aspekte des Absoluten waren, dann mußte das Denken in seiner Geschichte den ehernen Notwendigkeitscharakter des Seins vollends in sich aufnehmen: Denken und Wesen waren eins.
Die Geschichtlichkeit seiner Geschichte konnte dem Denken, über dessen Sinn und Möglichkeit solcherart entschieden war, nur widerfahren. Dieses Widerfahrnis hat nicht die Art der Aporie, in der das Denken vor diesem oder jenem nicht weiter weiß und die es als Problem eines Noch-nicht des Wissens aufnimmt, sondern radikaler die der Verlegenheit um sich selbst. Das Denken sucht solche Verlegenheit ins Gegenständliche abzuschieben und dadurch in den vertrauten Raum geübter Bewältigung zu versetzen. Diese Situation ist sehr deutlich an dem Versuch Diltheys abzulesen, durch eine Kritik der historischen Vernunft die im Historismus unabweisbar gewordene Frag-›Würdigkeit‹ der Geschichte der Philosophie darin aufzufangen, daß zwar nicht mehr eine durchgängige Einheit im Gange des Geistes als notwendige Struktur aufrechterhalten, statt dessen aber die Notwendigkeit in archetypische Grundkategorien möglicher Geistesgeschichte überhaupt verlegt wurde. Der Dienst, den Kant der Rettung der Notwendigkeitsstruktur der Realität geleistet hatte, sollte derart auf die Geschichte übertragen werden. Daß dieses Unternehmen nicht fundamental genug angesetzt und im Absehen verfehlt war, wurde durch Heidegger zu 11voller Klarheit gebracht. Bei ihm wird die Geschichtlichkeit des Denkens gerade darin als Widerfahrnis angenommen, daß das Denken selbst hinsichtlich seiner bis dahin fraglosen Zulassung als letzter ›Träger‹ seiner Geschichte in Frage gestellt wird. Notwendig fällt damit die Frage auf das Sein zurück; die Radikalisierung der Verlegenheit des Denkens geht auf die Frage nach dem ›Sinn von Sein‹ zurück. Diesen Rückgang zu ermöglichen, ist der Dienst, den die Existentialanalyse zu leisten hat: Sie durchbricht an der Phänomenologie des Daseins die traditionelle Festlegung des Seins auf Wesensnotwendigkeit, auf in sich beruhenden | S. 5 | Bestand.
Dieser Durchbruch durch die traditionelle Ontologie vollzieht sich nicht in der Inanspruchnahme methodischer Freiheit, in dem Beziehen einer neuen Einstellung des Denkens. Er läßt sich vielmehr charakterisieren als das Durchhalten einer geschichtlichen Situation bis in ihre Auslegung hinein. Diese Situation ist die der kritischen Wendung, die es mit dem Seinsverständnis der Neuzeit im ganzen genommen hat. Die Wendung ist prägnant markiert durch die Krisis der Phänomenologie Edmund Husserls, aus der das Denken Martin Heideggers entspringt. Darstellung, Einordnung und Auslegung dieser Krisis ist das vornehmliche Thema der ansetzenden Untersuchung. Die Einleitung hat anzuzeigen, mit welchem Recht und mit welcher Anwartschaft auf sachliche Vertiefung solches Ansetzen erfolgt.
Vom mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein, in der Krisis der Neuzeit zu stehen, ist die Gegenwart erfüllt. Was bedeutet hier der Begriff der ›Krisis‹? Er bedeutet, daß das fraglos Selbstverständliche, auf dem eine ganze Epoche aufruhte, sich nicht mehr von selbst versteht. Es wird aber nicht nur problematisch, gegenständlich für Zweifel und Diskussion, dem Versuch der Korrektur ausgesetzt, sondern es entzieht sich radikal, wird nichtig. Diese Ver›nichtung‹ trifft der Name des Nihilismus. Anfänglich nur auf den Verfall der religiösen Bindungen und der moralischen Werte gewendet,[1] erwies er sich alsbald für ein viel umfassenderes Phänomen als zutreffend: für die annihilatio des Wirklichkeitsbodens der Neuzeit im ganzen. Die Depotenzierung der Bin12dungen und Normen zeigt nur an, daß der Grund von Wirklichkeit, auf den ihre Verbindlichkeit bezogen ist, entzogen wurde. Nur Wirklichkeit kann den Menschen auf ein Sollen hinstellen, nur in der Dichte und Unaufhebbarkeit ihrer Selbstbezeugung können Werte, Ziele, Sinngehalte als verpflichtend erfahren werden. Wenn Nietzsche die Überwindung des Nihilismus in der Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen ermöglicht sieht, die der Verflüchtigung aller Sinngehalte des Lebens ein ›neues Schwergewicht‹ entgegensetzt, so ist in dieser Konzeption zwar die Einsicht in das ontologische Fundament von Verbindlichkeit wirksam, ebenso aber ist noch die Geschichtlichkeit des Geschickes der Neuzeit darin unterschätzt, daß ein hypothetischer Rückgang auf das kyklische Verständnis des Seinsgeschehens, wie es der Antike eigen war, als mächtig genug angesehen wird, | S. 6 | ihm Einhalt zu gebieten.[2] Die Krisis der Neuzeit kann nur verstanden werden aus dem Rückgang auf den Ursprung der Neuzeit; zugleich damit aber gibt erst die Krisis den Ursprung in seiner Geschichtlichkeit frei. Wie ist das zu verstehen?
Es hat lange zu den Selbstverständlichkeiten gehört, die sich keinem Bedenken mehr anboten, daß wir in der ›Neuzeit‹ leben und daß dieser Name den Anspruch einer Endgültigkeit birgt, die ein Zeitalter danach gar nicht mehr zu denken offen läßt. Von dieser Perspektive aus sind zwar noch ›Altertum‹ und ›Mittelalter‹ Epochen, aber das Epochale ist eben nur das Vorläufige der Geschichte, das auf die ›moderne‹ Zeit – nämlich die nach dem Modus, dem endgültigen Maß geartete Zeit – verläuft und sich in ihr...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Ehrenpromotion an der Universität Gießen 1982 • Habilitation • Heidegger • Husserl • Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg 1974 • Moderne • Neuerscheinungen • neues Buch • Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt 1980 |
ISBN-10 | 3-518-77409-3 / 3518774093 |
ISBN-13 | 978-3-518-77409-0 / 9783518774090 |
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