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Theorie des Revolutionsdramas (eBook)

Politische Astronomie von Gryphius bis Heiner Müller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
330 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-077181-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Theorie des Revolutionsdramas - Lars Friedrich
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The series Studien zur deutschen Literatur (Studies in German Literature) presents outstanding analyses of German-speaking literature from the early modern period to the present day. It particularly embraces comparative, cultural and historical-epistemological questions and serves as a tradition-steeped forum for innovative literary research.

All submitted manuscripts undergo a double peer-review process.



Lars Friedrich, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland.

Einleitung


I Die astronomische Eröffnung des Revolutionsdramas


In Ludwig Tiecks Märchenkomödie Der gestiefelte Kater, in dem die Aufführung eines Theaterstücks die Erwartungshaltung des fiktiven Publikums fortwährend konterkariert und das mit seinen Interventionen selbst zur Deformation des gespielten Stückes beiträgt, findet sich eine Tischgesprächsszene, in welcher der König seinen Hofgelehrten mit kosmologischen Fragen traktiert:

KÖNIG Wie weit ist die Sonne von der Erde?

LEANDER Zweimal hundert tausend, fünf und siebenzig und eine Viertel Meile, funfzehn auf einen Grad gerechnet.

KÖNIG Und der Umkreis, den die Planeten so insgesamt durchlaufen?

LEANDER Wenn man rechnet, was jeder einzelne laufen muß, so kommen in der Total-Summa etwas mehr als tausend Millionen Meilen heraus.1

Wenngleich die irrwitzigen Vermessungsdaten des Hofgelehrten Leander hier wie sonst im Stück den Bildungsdünkel persiflieren und als Aufklärungssatire fungieren, ist mit der Kreisbewegung der Planeten die ursprünglich astronomische Bedeutung des Revolutionsbegriffs präzise bezeichnet. ‚Revolution‘ meint eigentlich die zyklische Rückkehrbewegung der Gestirne zu ihrem Ausgangspunkt und entsprechend indiziert der Terminus im siebzehnten Jahrhundert, in dem er auf die politische Welt appliziert wird, nicht den Anfang einer neuen Welt, sondern die Erneuerung verbriefter Rechte und damit die Wiederherstellung einer alten Ordnung.2 Die kuriose Crux revolutionären Denkens, wie eine Semantik zyklischer Regression mit der politischen Praxis radikaler Veränderung bzw. dem Eröffnungsspielraum eines absoluten Novums zusammenzudenken ist,3 verhandelt Der gestiefelte Kater am astronomischen Paradigma des Begriffs und entsprechend zielt seine avancierte Dramaturgie ständiger Szenenwechsel, unmotivierter Handlungsimpulse und permanenter Illusionsdurchbrechungen darauf ab, in der Interaktion von Bühne und Parterre restauratives und innovatives Revolutionsverständnis miteinander kollidieren zu lassen. Nachdem der Kater Hinze im Zuge seines Plans, den Freund Gottlieb zum Thron zu verhelfen, den autokratischen Popanz verspeist und mit Freiheit und Gleichheit die zentralen Ideale der Französischen Revolution proklamiert hat, identifiziert ein Zuschauer das Drama umgehend als Revolutionsstück und will es zum besseren Verständnis sogleich von vorn gespielt sehen. Doch gilt dem in der Tradition von Ifflands und Kotzebues rührseligen Familiengemälden sozialisierten Theaterliebhaber nur das als revolutionär, was er schon im Prolog als Inhalt des Spiels antizipiert hatte, nämlich ein reaktionäres Geschehen, in dem eine im Untergrund konspirierende Gesellschaft verraten und die politische Umsetzung revolutionärer Ideale einer Beschwörung mystischer Geheimmächte aufgeopfert wird. Derart würde also eine Wiederaufführung des Stücks keineswegs die ersehnte religiöse Philosophie und Freimaurerei offenbaren, die hier von einem Eröffnungsspielraum politischer Umwälzungsprozesse zu einem Vehikel ihrer Verdrängung abgesunken ist.4 Wiederholt würde vielmehr mit Hinzes Adelung der Katzen als das freieste Geschlecht, seiner Verachtung von Dienstbarkeit und Sklaverei, dem Gleichheitsideal ständeübergreifender Liebe oder dem satanischen Rebellionsgeist des Hofgelehrten die verstreuten Attitüden revolutionärer Gesinnung und zugleich mit der Anrufung von „Erde, Sonne und alle[r] Planeten“5 als Zeugen der Liebe noch einmal die Frage des Souveräns nach dem Gesetz ihres Umlaufs und derart das Register einer politischen Astronomie. Der Wiederholungstrieb reaktualisiert mit denjenigen Gesten, die am Bestand etablierter Ordnung rütteln, die Ambiguität des Revolutionsbegriffs und mit dessen ursprünglicher Semantik zugleich sein eigenes Prinzip. Im Begehren, das Stück noch einmal gespielt zu sehen, wiederholt sich die Kreisbewegung der Himmelskörper und noch nach dem Ende der Vorstellung restituiert das Urteil eines Zuhörers, das Stück sei nicht mehr als ein Zirkel, „der in sich selbst zurückkehrt, wo der Leser am Schluß grade eben so weit ist, als am Anfange“,6 mit der schließenden Form einer kreisförmigen Bahn die astronomischen Sinnnuancen einer revolutionären Bewegung.

An dieser zyklischen Regressionsbewegung dessen, was als revolutionärer Neuanfang gerade quer steht zum Wiederholungszwang, lässt sich über Tiecks Travestie politischer Verhältnisse hinaus die erste, grundlegende These der vorliegenden Arbeit festmachen. Sie besagt, dass der astronomische Bedeutungshorizont des Revolutionsbegriffs für das politische Drama der Moderne konstitutiv bleibt. Anstatt im Zuge der politischen Umwälzungsprozesse in Amerika und Frankreich die ursprüngliche Bedeutung des Revolutionsbegriffs im Topos des politischen Körpers oder in der Idee einer zukunftsoffenen Fortschrittsgeschichte aufgehen zu lassen,7 reaktualisiert das Revolutionsdrama immer dort, wo es den initialen Gründungsimpuls politischer Praxis einzuholen sucht, die astronomische Semantik eines rückläufigen Bewegungsparcours und verhandelt den Universalitätsanspruch revolutionärer Deklarationen und die Legitimität von Veränderungsimperativen im Kontext des kosmologischen Paradigmas.

Warum aber das Theater paradigmatischer Topos dieser Auseinandersetzung ist, erhellt in Tiecks Stück der weitere Verlauf des kosmologischen Tischgesprächs, insofern es sich von der revolvierenden Kinetik der Gestirne ablöst und stattdessen Bewegung wie Gestalt der Erde und damit die Beschaffenheit des eigenen Standorts exponiert:

KÖNIG Und du sagst also auch, daß die Erde immer rundum, immer rundum geht, bald so, bald so, wie ein besoffener Mensch?

LEANDER Nicht eigentlich auf diese Weise, sondern mehr einem Walzenden ähnlich.

KÖNIG Und sie ist, wie ihr meint, eine Kugel?

LEANDER Allerdings, so daß unter uns Menschen wohnen, die ihre Füße gegen die unsrigen richten, oder unsre Antipoden sind, so wie wir wiederum die Antipoden von ihnen sind.

KÖNIG Wir? Ich auch?

LEANDER Allerdings.

KÖNIG Ich verbitte mir aber dergleichen; meint Er, daß ich mich so wegwerfen werde? Er und seines gleichen mögen Antipoden sein, so viel sie wollen, aber ich halte mich zu gut, jemandes Antipode zu sein, und wenn es selbst der große Mogul wäre.8

Wenngleich sich der Souverän davor zu verwahren sucht, seine Einzigartigkeit auf der anderen Seite der Erdhalbkugel mit einem indischen Mogul zu teilen, so bestimmt die Figur des Antipoden die märchenhafte Topografie des ganzen Stücks. So stammt der Prinz, der um die Hand der Königstochter anhält, aus einem weit entfernten Reich, das der König am Nordpol vermutet, doch in Erwartung weiterer Entdeckungen und geographischer Bestimmungen zugleich als Nachbarland apostrophiert. Die Bewohner bewältigen zwischen dem Königreich und dem Territorium des Popanzen weite Wege, wenngleich die Grenze – Persiflage der Kleinstaaterei deutscher Duodezfürstentümer – ganz nah ist und der gestiefelte Kater kehrt in seinem Lauf um die Welt stets zum Ausgangspunkt zurück, während er zugleich zwischen schlagender Borniertheit und blitzartigen Einsichten die polarsten Gegensätze durchquert. Derart exponiert die beständige Thematisierung des Auftretens, des Laufens und des adäquaten Schuhwerks die eigentümliche Verfassung des Raums, der hier bespielt wird. Die antipodische Form der Erdkugel, die unendlich umkreist werden kann und zugleich jeder Position eine Gegenposition zuweist, ist die Strukturformel von Tiecks verkehrter Welt. Wenngleich schon in der Antike an der Figur des Antipoden die Kugelform der Erde demonstriert wurde,9 so erhält ihre Referenz im Gestiefelten Kater unzweideutig eine kopernikanische und damit moderne Signatur. Wenn nämlich der Autor des Spiels-im-Spiel am Schluss konstatieren muss, dass sein Stück leider den „Mittelpunkt verfehlt“ hat,10 besteht sein Fehler eigentlich darin, diesen auf der Erde überhaupt gesucht zu haben, wogegen der Brautwerber in der pathetischen Liebesszene seines Stücks es besser weiß: „Ich bin nicht mehr auf der Erde, sieh mich doch recht genau an, o Teuerste, und sage mir, ob ich nicht vielleicht im Mittelpunkte jener unsterblichen Sonne dort oben wandle.“11 Die kopernikanische Einsicht, dass der Mittelpunkt des Alls in der Sonne zu verorten und durch eine imaginäre Identifikation mit ihrer Perspektive die Umlaufbewegung der Erde wie der anderen Planeten widerspruchsfrei zu erklären ist,12 rückt im Gestiefelten Kater kraft ihrer Suspension sinnlicher Erfahrungshorizonte in den Rang eines Scheins des Scheins auf und firmiert damit als Bodensatz des exzentrischen Spiels. Während in Tiecks Stück mit der Illusion des Sonnenumlaufs das aristotelische Gesetz dramatischer Zeit auf der Bühne thematisiert wird, doch durch seine Verhandlung den Status als unhintergehbares Formapriori gerade einbüßt, avanciert die Inanspruchnahme der Erde als ‚besoffener‘ Vagant zur abgründigen Basisfigur aller tollen Verkehrungen und entsprechend zeichnet ihr schlingernder Parcours dafür verantwortlich, warum den nach Bodenhaftung suchenden Zuschauern das Spiel wie „betrunken“...

Erscheint lt. Verlag 5.12.2022
Reihe/Serie ISSN
ISSN
Studien zur deutschen Literatur
Studien zur deutschen Literatur
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Brecht • Hölderlin • Revolution • revolutionary drama
ISBN-10 3-11-077181-0 / 3110771810
ISBN-13 978-3-11-077181-7 / 9783110771817
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