Transparenz (eBook)
190 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4137-5 (ISBN)
Lea Watzinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Zuvor befasste sie sich im Graduiertenkolleg »Privatheit und Digitalisierung« der Universität Passau mit Transparenz aus politisch-philosophischer und medienethischer Perspektive.
3.Zeitdiagnose Digitalisierung
Die Anfänge der digitalen Revolution lassen sich historisch bereits in den 1960er Jahren verorten. Die technischen Entwicklungen, vor allem des Computers und der elektronischen Datenverarbeitung, machten den Aufbau eines weltweiten Kommunikationsnetzwerks wie des Internets möglich.36 Digitalisierung und Vernetzung sind inzwischen elementarer Bestandteil des Alltags. Es kommt zu einer immer engeren Verschränkung des Alltags mit digitalen Prozessen, wobei »grundlegende Kräfte der Ordnung von Gesellschaft«37 umgelenkt werden. Die Digitalisierung ist nicht aus dem Alltag wegzudenken und betrifft zunehmend die gesamte Wirklichkeit und Lebenswelt, weil die Welt in Daten übertragen und damit »datafiziert« wird. Es lässt sich kaum mehr zwischen digitalen und nicht-digitalen Lebensbereichen unterscheiden, da beide Sphären miteinander aufs Engste verwoben sind. Damit hat die Digitalisierung Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben, die Gesellschaftsordnung und den Menschen als Individuum.
Stellenwert der Digitalisierung für Mensch und Gesellschaft
Das Internet ermöglicht die Vernetzung, technische Ausstattung und Rechenleistung ermöglichen die Datenverarbeitung. Der übergreifende Begriff hierfür ist ›Digitalisierung‹. Er ist als Überbegriff für verschiedene Aspekte und Dynamiken geeignet, da er einen Prozess ausdrückt und eine sich weiter perpetuierende Entwicklung fasst: Immerhin geht es längst nicht mehr nur um die bloße Verarbeitung von Daten, sondern auch um ihre Generierung und ihre automatisierte Verknüpfung mithilfe (sogenannter) künstlicher Intelligenz. Digitalisierung wird dabei verstanden als gesellschaftlicher, nicht nur technischer Umwälzungsprozess, der eine Ersetzung menschlichen Handelns durch Technik und Automatisierung und damit das Verschwimmen der Grenzen zwischen Mensch und Maschine ermöglicht.38 Aus einer zunehmenden Zahl von Alltagstätigkeiten und alltäglichen kommunikativen Akten können digitale Daten gewonnen werden, da jeder Klick im Netz Spuren hinterlässt. In einer vor-digitalen Welt fielen solche Daten nicht in einem derartigen Ausmaß an. Diese Daten werden gespeichert, verarbeitet und zusammengefügt, woraus sich neue Erkenntnisse generieren lassen, was aber auch einen Missbrauch möglich macht, etwa durch das unberechtigte Eindringen in digitale Nutzerkonten.
Digitalisierung aus einer philosophischen Perspektive zu reflektieren oder gar zu bewerten ist dabei mit einigen Schwierigkeiten auch erkenntnistheoretischer Art verbunden. Sie stellt einen nicht abgeschlossenen Prozess dar, an dem wir selbst beteiligt sind, was es erschwert, eine kritische Distanzposition einzunehmen. Nichtsdestotrotz wird hierüber eine breite geisteswissenschaftliche und philosophische Debatte geführt, die auf weit tieferliegende Probleme gestoßen ist als nur die Verbreitung digitaler Endgeräte. Welche sind nun Charakteristika des Digitalen und ihre Auswirkungen auf den Menschen, die es erforderlich machen, darüber nachzudenken?
Laut Christian Thies stellen die Speicherung, Übermittlung, Miniaturisierung, Virtualisierung und Verdatung der Lebenswelt(en) zentrale Merkmale der Digitalisierung dar.39 Für Jan-Hindrik Schmidt sind die wichtigsten Aspekte digitaler Kommunikation die dauerhafte Verfügbarkeit, die Kopierbarkeit von Inhalten, die Skalierbarkeit, das heißt die Möglichkeit der Vervielfältigung, ferner die Durchsuchbarkeit.40 Räumliche, zeitliche oder sonstige physische Beschränkungen wie die Gebundenheit des Menschen und seines Tätigseins in der Welt als raum- und zeitgebundenes Gebilde verlieren damit an Relevanz. Die Auflösung von Grenzen, etwa zwischen Mensch und Maschine im Rahmen von digitaler Kommunikation, aber auch grundsätzlich der Grenzen von Raum und Zeit, beeinflussen die Weltwahrnehmung stark, und diese Grenzen werden brüchig durch Digitalisierung und Vernetzung. Alexander Filipović macht an einer simultan verlaufenden Individualisierung und Vernetzung den ethisch-philosophisch relevanten Kern der Digitalisierung für den Menschen aus.41 Bei der Digitalisierung des Alltags gehe es um eine Datafizierung der Welt und die Auswertung enormer Datenmengen. Diese Zusammenhänge firmieren unter dem Stichwort ›Big Data‹. Digitale Medien prägen und beeinflussen schließlich, wie Kristina Steimer und Alexander Filipović zeigen, unser Handeln und die »Praktiken, anhand derer sich unser Selbst- und Weltverhältnis vollzieht«.42 Letzterer sieht die Digitalisierung in ihrer aktuellen Form als besondere Herausforderung und verortet den Einschnitt der hergebrachten Ordnung erst am Beginn des Bimilleniums. Durch die Digitalisierung vollzieht sich ein umfassender Wandel, eine Umwälzung, die Freiheit und Selbstbild des Menschen selbst tangiert und eine tiefgehende Entwicklung auf anthropologischer, kommunikativer sowie technologischer Ebene darstellt.43 Felix Stalder beobachtet gar eine umfassende Kultur der Digitalität, womit er den tiefgreifenden Einfluss des Digitalen sowie die »Hybridisierung und Verfestigung des Digitalen […] jenseits der digitalen Medien«44 meint.
Die Veränderungen auf technologischer und medialer Ebene haben Auswirkungen auf weit mehr als nur das Medienverhalten oder mediale Vorgänge, sie stellen darüber hinaus auch das Selbstverständnis des Menschen radikal in Frage. Dies wird besonders deutlich etwa bei Themen wie künstlicher Intelligenz (KI) oder der Reichweite von Algorithmen. Von besonderem Interesse im Rahmen einer philosophischen Betrachtung ist, inwiefern die Digitalisierung die Welt, die Gesellschaft und vor allem den einzelnen Menschen transformiert und wie sie menschliches Denken und den Umgang des Menschen mit der Welt beeinflusst.
Zentrales Merkmal von digitaler Kommunikation ist die Dimension der Körperlosigkeit, die mit der potentiellen Transparenz des Einzelnen zusammenhängt. Digitale Kommunikationsmedien lassen etwas oder jemanden ›sichtbar‹ im Sinne von ›nachverfolgbar‹ werden, weil sie Datenspuren hinterlassen. Sie lassen Facetten des Individuums bis ins kleinste Detail der privaten Lebensführung sichtbar werden und ermöglichen eine entsprechende Nachverfolgung. Gleichzeitig verdecken digitale Medien die Körperlichkeit im Bereich der Kommunikation und geben so in bisher ungekanntem Maße Gelegenheit zu einer Steuerung und Manipulation dessen, was gesehen werden soll. Digitaler Kommunikation fehlt ein wesentlicher Gehalt der »Analogkommunikation«45, nämlich die Wahrnehmung des Gegenübers als Körper, in seiner Leiblichkeit, in seiner Präsenz. Sie findet in einem hochgradig anonymen, körperlosen Raum statt, in dem nun nicht nur die Identität und der Name eines Gegenübers ausgeblendet werden können, sondern seine gesamte Daseinsform. Dies kann positive wie negative Konsequenzen haben, wie Thorsten Thiel bemerkt. Personen können ihre Identität vor unerwünschter Aufdeckung schützen, sich aber auch der Strafverfolgung entziehen. Unterdrückten kann dies Freiheit bringen, Anonymität ermuntert jedoch mitunter auch zum Ausleben von Polemik und Hass.46 Es fehlt die unmittelbare reziproke Reaktion des Gegenübers, wie sie eigentlich im analogen Bereich charakteristisch ist für menschliche Kommunikation.47 Im Internet entfällt also ein zentrales Charakteristikum zwischenmenschlicher Kommunikation, und zwar der Eindruck der körperlichen Reaktionen des Gegenübers, eigentlich eine »existentielle anthropologische Daseinsform«48. Dieses Fehlen von Unmittelbarkeit kann zu Aufrichtigkeit und Freiheit führen, etwa weil sich endlich ungezwungen über Themen kommunizieren lässt, oder aber zu Enthemmung, weil die Regulation von Verhalten durch soziale Kontrolle entfällt.49 Die Digitalisierung sorgt nun dafür, dass sich KommunikationspartnerInnen nicht persönlich, das heißt in ihrer physischen Präsenz, gegenüberstehen, was eine enorme kognitivemotionale Herausforderung darstellt und Kommunikation deutlich erschweren kann.
Die Wichtigkeit, als Person in Erscheinung zu treten, hebt auch Hannah Arendt, deren Überlegungen im Angesicht der Digitalisierung bemerkenswert aktuell erscheinen, im Zuge ihres Nachdenkens über menschliches Handeln als zutiefst politische Tätigkeit hervor – und ist dabei einer Digitalisierungs-Reflexion noch unverdächtig. So zeige sich eine Person im Handeln: Solches Handeln gehe zwar einher mit dem Akt des Sprechens, sei jedoch nicht darauf zu reduzieren.50 Die Individualität jeder Person und das kommunikative Tätigsein stehen für Arendt im Zentrum und machen menschliches Leben aus. Politisches Handeln ohne persönlichen Kontakt lässt sich aus einer Arendt’schen Perspektive entsprechend nur schwer verstehen. In ihrem Werk Vita activa fragt sie danach, wie es dazu gekommen sei, dass sich die Welt in eine derart automatisierte und – aus ihrer Sicht – entfremdete Umgebung entwickeln konnte und zeigt, dass die Gesellschaft und die Welt, in der wir...
Erscheint lt. Verlag | 22.6.2022 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Begriffsgeschichte • Digitaler Lebensstil • Medienethik • Politische Philosophie • Publizistik • Sozialphilosophie |
ISBN-10 | 3-7873-4137-4 / 3787341374 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4137-5 / 9783787341375 |
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Größe: 235 KB
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