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Der tiefe Wunsch nach Lebendigkeit (eBook)

Ein buddhistischer Wegweiser für das 21. Jahrhundert | Mit einem Vorwort von Mariana Leky. Eine Anleitung für ein wahrhaftiges und erfülltes Leben
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2675-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der tiefe Wunsch nach Lebendigkeit -  Christian Dillo
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Wie fühle ich mich lebendig statt am Leben? Wie wollen wir leben? Wie ist es möglich, dass wir uns hier und jetzt wirklich lebendig fühlen - inmitten von vielfältigen persönlichen und globalen Problemen? Christian Dillo hat zwanzig Jahre als Mönch gelebt, heute ist er Zen-Lehrer, Familienvater und Abt des Boulder Zen Zentrums. In seinem Buch zeigt er, wie wir uns in der heutigen Zeit von der buddhistischen Lehre anleiten lassen können. Mit großer philosophischer Kenntnis und anhand praktischer Übungen legt er dar, wie wir das komplexe Zusammenspiel von Sinneseindrücken, Körperempfindungen, Gedanken, Gewohnheiten und Emotionen mit Aufmerksamkeit durchdringen und so unser Leben in Richtung Freiheit, Weisheit und Mitgefühl transformieren können. Ihm ist damit eine sowohl spirituelle als auch sehr pragmatische Gebrauchsanweisung für ein erfülltes Leben gelungen. Frisch, zugänglich und aktueller denn je. »Der tiefe Wunsch nach Lebendigkeit ist ein wagemutiges und atemberaubendes Buch. Christian Dillo dekonstruiert und rekonstruiert den Buddhismus auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrung, seiner Praxis mit buddhistischen Lehrern und seiner Kenntnis der westlichen Phänomenologie und Psychologie.« Norman Fischer, Zen-Meister

Christian Dillo, geboren 1971 in Hannover, seit 2003 mit erstem Wohnsitz in den USA, übernahm 2020 das Boulder Zen Center (Colorado) als ortsansässiger Zen-Lehrer und Abt nach klösterlicher Ausbildung und internationaler Lehrtätigkeit. Er wurde 2003 zum Zen-Mönch und Priester ordiniert (Ordinationsname: Zenki Myogen).

Christian Dillo, geb. 1971 in Hannover, seit 2003 mit erstem Wohnsitz in den USA, übernahm 2008 das Boulder Zen Center (Colorado) als ortsansässiger Zen-Lehrer und Abt nach internationaler Lehrtätigkeit. Er wurde 2003 zum Zen-Mönch und Priester ordiniert (Ordinationsname: Zenki Myogen).

EINLEITUNG
Wirklich lebendig sein


Wir sind am Leben. Von der Geburt bis zu unserem Tod erfahren wir unseren Körper als den Ort, an dem sich biologische Lebendigkeit vollzieht. Biologisch am Leben zu sein bedeutet allerdings nicht, dass wir uns auch lebendig fühlen. Seltsamerweise können wir von dem, was uns am vertrautesten ist, entfremdet sein. Unsere eigene Lebendigkeit kann uns wie ein fernes Land vorkommen, obwohl wir eigentlich schon immer dort zu Hause sind.

Einer meiner Schüler – er hat eine nette Familie, einen interessanten Beruf und wirkt auf alle sehr ausgeglichen – erzählte mir, dass er jeden Morgen noch vor dem Frühstück von einer unterschwelligen Ängstlichkeit erfasst wird. Mit ihr ziehe ein Sturm sorgenvoller Gedanken und eine Stimmung auf, die ihn dann den ganzen Tag über nicht mehr verlassen würde. Fast jeden Abend gehe er mit dem Gefühl ins Bett, es durch einen weiteren Tag geschafft zu haben – als wären Tage etwas, das es durchzustehen gelte. Er verriet mir, dass die Welt, in der er lebt, sich wie hinter Glas anfühlt. Diese Glaswand existiere aber nicht nur zwischen ihm und der Welt, sondern ziehe sich mitten durch sein eigenes Dasein. Er habe zwar Gefühle, aber sie kämen ihm wie Tiere in einem Zoo vor. Einige seien vollkommen unbekannte Kreaturen, andere wären furchteinflößend, hätte er nicht gelernt, sie in Käfige einzusperren. Er komme sich vor wie ein Besucher seines eigenen Innenlebens, in dem sich alles ziemlich schal anfühlt. Dabei ist es nicht besonders hilfreich, dass sein Arbeitstag zunehmend vor einer wirklichen Glaswand stattfindet, einem flimmernden Bildschirm, auf dem alle möglichen Kommunikationen ablaufen. Die zwischenmenschliche Welt sei zwar ganz nah – direkt hier vor seiner Nase! – und doch gleichzeitig seltsam entzogen. Das Schlimmste sei das Gefühl, dass für diesen Zustand kein Ende in Sicht sei. Manchmal frage er sich, ob Menschsein sich eben einfach so anfühle.

Spiegeln sich Momente Ihres eigenen Erlebens in dieser Schilderung wider? Ich jedenfalls habe Aspekte meines eigenen Lebens aus jüngeren Jahren wiedererkannt. Natürlich sind wir nicht alle dermaßen in Gefühlen von Bedeutungslosigkeit und Entfremdung gefangen, und die meisten Menschen fühlen sich zu bestimmten Zeiten sehr lebendig. Zum Beispiel, wenn wir bis über beide Ohren verliebt sind oder beruflich einen Erfolg verbuchen. Es können auch Momente enormer sportlicher Leistung oder intensiver kreativer oder intellektueller Betätigung sein. Oder Momente stiller, sinnlicher Freude oder spirituelle Erfahrungen, in denen wir uns mit allem tief verbunden fühlen. Leider stellt sich diese Art von Erleben oft nur in Auszeiten ein – in den wirklichen oder metaphorischen Ferien.

Ein Moment besonderer Lebendigkeit ereignete sich für mich auf einer der Expeditionen in die Wildnis des amerikanischen Westens, die ich seit vielen Jahren leite und mit Bezug auf meine zen-buddhistische Praxis »Wildes Dharma« getauft habe.

Wir hatten unser Zeltlager in einem Seiten-Canyon des Dirty Devil-Flusses in Utah aufgeschlagen. Es war windig und eisig kalt – ungewöhnliches Wetter, denn im späten April sind die Temperaturen in der Wüste von Utah normalerweise sehr angenehm. Zur täglichen Morgen-Meditation mussten wir uns alle mitgebrachten Kleidungsstücke anziehen, um den widrigen Bedingungen zu trotzen. Eines Morgens, während ich in Stille dasaß, eingetaucht in meine eigenen Atembewegungen und Körperempfindungen, konnte ich hören, wie der Wind in den höheren Regionen des Canyons Hunderte von Metern über uns herumwirbelte, langsam Fahrt aufnahm und in den Blättern der Bäume raschelte. Dann, mit einem gewaltigen Stoß, erreichte er unser Lager und traf auf unsere Körper. Ohrenbetäubendes Pfeifen ging einher mit stechender Kälte in Gesicht und Fingern. Und im nächsten Augenblick: absolute Stille. Und bald darauf rollte schon die nächste Welle heran, in einem sich scheinbar endlos wiederholenden Prozess. Obwohl ich mich der Intensität dieser kalten, sandsturmartigen Böen ausgeliefert fühlte, war es zutiefst belebend, davon Zeuge zu sein, wie der Canyon ein- und ausatmete. Ich fühlte mich zu Hause in der vibrierenden Vitalität meines eigenen Erlebens.

Die Stille und Atem-Achtsamkeit der Meditationspraxis trugen sicherlich dazu bei, meine Sinne zu schärfen und meinen Körper und Geist empfänglicher zu machen. Sie stärkten auch ein Gefühl von Resilienz, von Standfestigkeit, im Angesicht des Widrigen. Ich erlebte eine innere Stabilität, an die vielleicht sonst nur schwer heranzukommen gewesen wäre. Trotz des Impulses, der Situation entfliehen zu wollen, fühlte ich mich vollständig lebendig – gewillt, an der existenziellen Gegebenheit meines Lebens teilzunehmen, die sich auf einmal nicht mehr von dem weiten Raum um mich herum unterscheiden ließ.

Wie bereits gesagt, diese Erfahrung im Canyon ereignete sich während einer Art von Ferienzeit. Aber was wäre, wenn diese begriffliche Unterscheidung zwischen Ferien und Alltag wegfiele? Wenn wir erkennen könnten, dass diese Unterscheidung in Wirklichkeit nie existiert hat, sondern nur in unserem Denkbewusstsein – genauso wie es zwischen uns und der Welt nie eine Glaswand gegeben hat? Was wäre, wenn wir diese außergewöhnlichen Momente von Lebendigkeit nicht als Ausnahmezustände verbuchen würden, sondern als Tore zu einem Praxisweg verstünden? Einer meiner Schüler bemerkte an einem Punkt seines Praxisweges, dass er manchmal auf gewöhnliche, unbelebte Gegenstände wie Pappkartons oder schmutziges Geschirr mit der gleichen Zärtlichkeit blickte wie auf seinen kleinen Sohn.

Das Gefühl des innigen Vertrautseins mit der Welt ist also unabhängig vom Erleben hoher Intensität oder grandioser Naturschönheit. Lebendigkeit kann sich einstellen, wenn man das Gewicht eines Glases Wasser in der eigenen Hand fühlt, während man sich mit einer guten Freundin unterhält, oder wenn man auf einem Spaziergang den Frühlingswind auf der Haut spürt. Lebendigkeit kann sogar zum Hintergrundempfinden all unseres Erlebens werden – es ist möglich, uns in unserem Traurig- und Glücklichsein gleichermaßen lebendig zu fühlen.

Das Grundproblem mit der Lebendigkeit ist, dass nicht alle Empfindungen angenehm sind. Manche sind so unangenehm, dass wir zu fast allem bereit sind, um sie nicht empfinden zu müssen. Die bevorzugte Art und Weise, wie wir Menschen uns von unserer Lebendigkeit abkehren, ist Aufmerksamkeit auf unser Denken und Geschichtenerzählen zu lenken. Indem wir im Kopf verweilen, können wir uns vom Spüren unserer körperlichen Lebendigkeit abkoppeln. Und in dieser Abtrennung können wir die Sinnesempfindungen auf Distanz halten, statt sie ganz erleben zu müssen. Eine andere Form dieses Abtrennens ist, unser Herz zu verschließen. Das ist eine Schutzmaßnahme, denn unser Herz offen zu halten hieße, genau die Gefühle spüren zu müssen, die wir vermeiden wollen. Obwohl uns diese Strategien, die wir normalerweise schon in der Kindheit lernen, dabei helfen, unangenehme Gefühle – diese gefährlichen Tiere – sicher wegzusperren, distanzieren wir uns durch sie ungewollt auch von allen angenehmen Gefühlen – und auch von dem in seinen verschiedenen Texturen und Schattierungen unendlichen nuancenreichen Spektrum der »neutralen« Gefühle, die nicht in die Kategorien von angenehm und unangenehm passen. Das ist ein hoher Preis, den wir da bezahlen, denn nun steht uns die gesamte Bandbreite unseres Erlebens nicht mehr offen – und normalerweise bemerken wir das nicht einmal in seinem ganzen Ausmaß.

Wie fühlt sich diese Abgetrenntheit eigentlich in unserer unmittelbaren Erfahrung an? Wenn wir genau hinschauen, können wir feststellen, dass es sich im Grunde um eine weitere Art von unangenehmer Körperempfindung handelt, diesmal aber um eine Art von Taubheit. Wir scheinen diese Taubheit den intensiveren schmerzlichen Empfindungen vorzuziehen, gegen die uns die Abgetrenntheit schützt. Ich verstehe »wirklich lebendig sein« als eine bestimmte Art von Präsenz, eine radikale Offenheit für alle Formen des Erlebens – und das schließt sogar die Erfahrung des Abgetrenntseins mit ein.

Wirklich lebendig sein, diese Offenheit für alles, was das Leben mit sich bringt, muss kultiviert werden. Und diese Kultivierung involviert grundlegende Aspekte unseres Lebens: unser Verständnis von Freiheit, die sinnlichen und kognitiven Funktionen, mit denen wir uns die Welt erschließen, sowie unsere Fähigkeit zum Miteinander mit anderen Lebewesen. Vor allem aber müssen wir, um wirklich lebendig zu sein, das Geben und Aufrechterhalten von Aufmerksamkeit kultivieren. Mal einen Moment lang ganz präsent zu sein, reicht dafür nicht. Wir müssen lernen, was es heißt, mit der Absicht des Ganz-da-Seins Ernst zu machen. »Wirklich lebendig sein« ist eine Lebenskunst, die sich unendlich verfeinern lässt. Sie speist sich aus der Praxis von Meditation und Achtsamkeit, in die ich in diesem Buch im Detail einführen möchte. Und sie beruht letztlich auf der Fähigkeit, alle Empfindungen, die durch unseren Körper...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2022
Übersetzer Christian Dillo
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Buddhismus
Schlagworte Achtsamkeit • Buddhismus • Erfüllung • Freiheit • Frieden • Lebensphilosophie • Mariana Leky • Mönch • Sinnsuche • Zen
ISBN-10 3-8437-2675-2 / 3843726752
ISBN-13 978-3-8437-2675-7 / 9783843726757
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